Enna Pertim

Karelia


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umgibt, die verwirrten Gedanken werden vergehen. Es ist das schön­ste Stück der Erde, wohin sich jener lebendige Rest mei­­ner Asche ver­lor, der dein Ursprung ist …

      Es ist ein eigentümliches Gefühl, aus seiner Woh­nung fortzugehen, noch ehe man sie in Besitz ge­nom­men hat.

      Der Umschlaghafen Stadt, die Dreh­schei­be Bahn­hof, tun zum ersten Male ihre Pflicht.

      Der Pilz, der den Blick auf sich zieht, spiegelt die röt­lichen Strahlen der Sonne, tiefer Schatten hüllt den Hort der Toten ein, das Raunen ihrer Stimmen ver­­­stummt.

      Ein neuer Tag bahnt sich an …

      Unterwegs

      Hitze brütet über der weißen Stadt am Meer. Helsinki ist fast menschenleer. Wer nicht hier blei­ben muss, sucht Kühlung irgendwo in einer der vielen Buch­ten, die das Meer ins Land gegraben hat, oder am Ufer einer der unzähligen Seen.

      Auch er wird nicht in der ungewohnten Harmonie aus Fels und Wasser, Beton und Wald bleiben: Rei­sen, wandern, fahren … ohne Ziel … und doch nicht ins Unbekannte.

      Wer fährt schon nirgendwohin?

      Der Tourist hat ein Ziel. Der Erholung Suchende fährt zum Ort seiner Buchung, ins Blaue tragen Son­derzüge Betriebsbelegschaften.

      Es besteht kein Grund, wild durch das Land zu rasen, das er weder kennt noch schnellstens durch­messen will. Und dennoch fährt er, als hingen ihm tausend Ver­folger an den Fersen.

      Das Unwetter kündigte sich schon in der brütenden Hitze über der Stadt an. Glaubte er, schneller zu sein, ihm ausweichen, davonfahren zu können?

      Unheimlich schnell baut sich Düsternis rings­herum auf. Jetzt fährt er in eine schwarze Wolken­wand, Blitze zucken aus ihr hervor, Wasserströme stür­zen vom Himmel herab …

      Der Wagen gleicht einem Schiff, das sich mühsam ei­nen Weg durch die plötzlich entstandenen Was­ser­mulden bahnt: gestoßen, herumgeschleudert und doch glück­­lich wie­der auf geraden Kurs gebracht. Die Schei­­benwischer versagen ihren Dienst, die Sicht ver­schwimmt …

      Wer fährt schon nirgendwohin?

      Es ist wie Höllenjagd in Wolkengründe, Untersee­boot und Düsenflugzeug zugleich – so stürmt es um ihn herum. Felsen eilen vorüber, rote Holzhäuser, bro­delnde Seen, bunte Tanksäulen, Reklamen.

      Der Wind pfeift schrill durch die Fugen der Karosse, die müde gewordenen Wischblätter zucken hin und her, haben es auf­gegeben, sich dem Sturm zu stellen.

      Doch der Mann am Steuer hält stand – er, der sich vorgenommen hatte, geruhsam zu wandern, be­schau­­lich durchs Land zu fahren. Gedanken schie­ßen ihm wie die Blitze vor seinen Augen durch den Kopf. Fast wäre er auf ein Pferdefuhrwerk aufge­fahren!

      Weiter! Nichts geht mehr … nichts …

      Ein Stein donnert gegen die Windschutzscheibe. Das Glas hält stand, splittert nicht; ein Wegweiser rast vor­bei …

      Wohin?? Es ist einerlei. Die Kugel tanzt im Kreise, Scheiben drehen sich … achtundzwanzig, achtund­zwanzig! Und dann wieder die samtweiche Stimme: Hyvää päivää! Wo ist die Zeit?

      Die Achsen ächzen auf immer raueren Straßen. Halt! Links und rechts der Straße drohen Felsen, hoc­ken lauernd, als wollten sie gleich zusammen­schlagen. Die Symplegaden des Nordens? Skylla und Charib­dis hier?? Sie werden stehenbleiben, nicht zu­sam­men­schlagen wie die Symplegaden. Hindurch! Hier be­ginnt das Land, das dich anzog wie ein gewal­tiger Magnet – das dich nicht mehr loslässt …

      Sein Herz stockt: Hier ist die Erde, wo er im Krieg um sein Leben bangte … das nun zerrissene Land.

      Gespenstern gleich rasen „Symplegaden“ neben ihm her, drohen: wenn du nur Vergnügen suchst, Erle­ben für dein Skizzenbuch, so kehre schleunigst um … kehr um …, scheinen sie ihm warnend zuzurufen.

      Aber die Felsen schlagen nicht zusammen, wie im Thea­ter, schrammen nicht das Schiff. Sie bleiben stumm und unbeweglich, doch sie lassen den Fliehenden, der sich sucht, nicht mehr zurück. Die Felsen ver­letzen nicht die Haut – sie treffen das Herz, noch eh es bemerkt, welch ein Land ihm hier Will­­kommen bietet …

      Die Verwandlung geschieht plötzlich: Blauer Him­mel spannt ein leuchtendes Zelt, kleine Wolken­berge zie­hen wie weiße Schiffe darunter hin, die Sonne blendet ihn und verwischt einen Moment lang den Blick. Dann – so weit das Auge reicht – da und dort, nahe der Stra­ße, große Flächen ruhiger Seen, grüner Wiesen, ge­säumt von dunkel­blau schimmern­den Wäl­dern, einge­schlossen von Granitbergen, die eine Ur­gewalt hierher gewälzt hat.

      Er verlangsamt sein Tempo, möchte verwei­len. Der Rei­se haftet noch der lastende Schmutz an, von heute und von gestern, von Jahren vielleicht!

      Er lässt den Wagen an der nächsten Tankstelle weit draußen waschen. Er betrachtet das freundliche Land aus Wasser, Wald und Fels, betrachtet die kauernden Rinder auf den Weiden, und die Find­linge, die eine Riesenhand darüber hingestreut hat.

      Wo bin ich?, fragt er sich. Warum schweigen die Fel­sen und lassen den Ruhe­losen hindurch? Wie lange sind sie schon da und welches Eis schob sie her? Geo­logen wissen wohl Erklä­rungen, beweisen den Ur­sprung des wahllosen Herum­liegens der gra­nitenen Brocken. Es gibt Ab­hand­lungen, die den Stei­­nen ge­lehr­­te Sprache und eine Art Leben zu­sprechen. Aber die Felsen erschweren den Men­schen ihre Arbeit: sie müssen um sie herum säen, pflügen und ernten ...

      Eine Engelslaune versteckt sich hinter jedem ein­zelnen dieser stummen, harten Zeugen, denkt er sich, und die Engelslaune mochte den großen, alten und unbe­kann­ten Herrn da oben auch veranlasst haben, diesen Men­schen hier – wie ihren Brüdern in den hohen Gebirgen überall – eine Tugend zu ver­leihen, die Heimweh er­zeugt und zur Heimkehr zwingt.

      Hier liegen mehr als nur zwan­zigtausend Steine, acht­undzwanzigtausend wo­mög­lich … Kreuze … Massen­anfall … Nicht nachdenken!

      Er erschrickt, weil ihn jemand anspricht:

      „Anteeksi, Auto ist fertig“, sagt ein Mann im grauen Kittel und deutet auf den Wagen.

      Aha, das Auto. Er zahlt und verlässt den Ort mit „Näkemiin“ … Auf Wiedersehen!

      Die Weiterfahrt kommt ihm vor, als würde er ge­fahren und dächte über etwas nach, das es nicht gibt. Musik begleitet ihn und ihm ist, als spielten zwei Orches­ter:

      Das eine in Moll – Largo maestoso: weit ausladend, sehnend, baut eine Spannung auf, die nach Entla­dung drängt, lässt erfüllte Wünsche unerfüllt. Immer tiefer dringt diese Musik in ihn ein, wühlt auf und besänftigt zugleich, verheißt unsagbar Schö­nes und beruhigt sei­ne aufgewühlte Seele.

      Das andere Orchester spielt hartes Dur – Presto furi­oso: Stürme wüten über ihm, Hörner jaulen aus bro­delnden Tiefen ihre Töne in Fugen und Klüfte aus felsigem Urgrund, schrill fahren die krat­zenden Strei­cher dazwi­schen, heftige Tanzrhyth­men machen sich breit, der Donner des Schlagwerks trium­phiert – rau­schen­de Was­ser, wogende Felder satter Spätsom­mer klingen hinein …

      Moll und Dur, Largo und Prestissimo – und doch kein Inferno, keine Dissonanz. Harmonie von sel­tsamer Schön­­heit, Zwiespalt der Rhythmen: Ein­­klang und Ein­­­stimmung in ein ersehntes, unbe­kanntes und doch so vertrautes Land.

      Die zwei Felsen von vorhin werden deine Rückkehr nicht hindern, lassen das Auto hindurch. Aber du bleibst hier, sagt seine innere Stimme; kannst dir nicht entfliehen, auch wenn dein Körper davonzurennen ver­sucht. Du bleibst in diesem Land, wirst Stein wie diese Granite hier, und Wasser umspült dich … um­spült euch … euch??

      Das Land löst keine Jubelstürme aus. Man durch­fährt es nicht trunken vor Begeisterung; es stimmt nicht schwer­mütig und nicht himmelhoch jauch­zend