Enna Pertim

Karelia


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muss dieser Weg doch einmal ein Ende haben, muss abreißen oder hinunter stürzen in einen Abgrund aus Wald oder Wasser, denkt er sich.

      Der Name auf einem unerhofften Wegweiser sagt ihm nichts. Von der sich windenden Straße deutet er auf einen schnurgeraden Pfad, der hineinführt in einen nahezu vertrockneten Föhrenwald. Was dahin­ter ist, bleibt hier verborgen. Die Nadel auf dem Kompass zeigt, dass dieser Waldweg genau nach Norden führt.

      Die Felsen sind vergessen und auch der verlasse­ne Tanzboden, den er vorhin im Vorbeifahren sah, die Bauernhäuser – ärmliche, graue Holzhütten –, die tief­dunkelbraunen Rinder auf den kargen Wei­den; ver­ges­sen auch die Menschen, die dann und wann auf Rädern des Weges kamen: ihre Gesichter von Runzeln durchfurcht, die Haut wie Leder. Sind die Frauen hier alle so alt? Und irgendwann ein Bus, der eine große Staubwolke hinter sich ließ … auf dieser sandigen Schotterstraße!

      Er folgt dem Wegweiser mit dem nichts­sa­genden Wort, fährt die schnurgerade, sandige Spur durch den Wald weiter. Und plötzlich – wie ein harter Schnitt in einem Filmstreifen – wandelt sich erneut das Bild: Vor ihm weitet sich ein azurblauer See! Er fährt auf ihn zu, an ihm entlang …

      Wohin?? Wer fährt schon nirgend­wohin – in sich hinein, in die eigene Einsamkeit, die er noch gar nicht kennt? In das Land, wo Dur und Moll, Presto und Largo Harmonie geworden sind, die Takte sich nicht töten, sondern Glück schlagen wollen, Frieden ver­heißen …

      Nirgendwohin???

      Lossi

      Die Straße endet an einer steinernen Pforte. Hier hatte man einen Felsriesen gespalten, um hinunter zum Ufer des Sees zu gelangen. Sie ist in den Fels einge­graben und führt zur Anlegestelle ei­ner Fäh­re. Wer hinüber oder herüber will, benutzt die Fähre. Das Gefährt gleicht einem gewaltigen Floß, sechs Wagen finden auf ihm Platz, je drei hinter­einander. In der Mitte befindet sich seitlich ein kleines Häuschen, von hier aus bedient der Fähr­mann den tuckernden Motor. Ein Stahlseil hebt sich aus dem Wasser, grässlich quietschend zieht es sei­ne Last hinüber – herüber.

      Es gibt den alten und den jungen Lossi. Der junge – immerhin auch ein Mann im besten Alter und Teil­nehmer an beiden Kriegen – fährt einmal im Monat in die Stadt. Sonst versieht er seinen Dienst, winkt die warten­den Wagen ein, gibt ein Hand­zeichen zum Halt – wenn nichts mehr geht – und lässt den Schlag­baum herunter, damit keiner den Wagen ins Was­ser lenke.

      Der alte Lossi ist nur noch selten auf der Fähre.

      Kälte und Hitze, Regen und harte Winde, klir­ren­der Frost und Staub haben die Gesichter der beiden Männer geprägt. Beim alten Lossi kann keiner recht sagen, wie lange er seinen Dienst schon versieht. Er ist zu einem Symbol geworden. Er spricht nur we­nig und dankt mit einem kaum wahrnehmbaren Kopf­nicken, wenn man ihn grüßt. Man könnte ihn für verbittert halten, für unzu­gänglich, solange man nicht in seine Augen blickt. Nicht allzu groß, funkeln sie hell und lebhaft, nehmen alles wahr, was um ihn herum geschieht, und offen­baren ein ver­schmitztes Lächeln. Man fühlt sich geborgen bei dem Alten – und geehrt, wenn er die Mechanik bedient. In sei­ner Heimat gilt er als Symbol für Kraft und Härte, Aus­dauer und Duldsamkeit. Alle in der Gegend kennen sei­nen Kummer, ohne dass er ihn je klagte: Er musste in den Kriegen auf sei­nem Posten ausharren. Man erklärte ihm, wie wichtig dies sei. Er nahm es zur Kenntnis, aber seine Selbstzweifel blieben.

      Was tu ich schon für meine Heimat?, fragte er sich im-mer wieder. Lieber wäre es ihm gewesen, mit der Waffe in der Hand den Eindringlingen zu wehren, besonders, als der Feind immer näher rückte und er unerschrocken auf seinem Posten verharren musste … weil es so be­fohlen war.

      Der Sohn ist das Ebenbild des Vaters. Er ist ver­schlossen wie er und ebenso zäh. Und doch ist er anders. Seine Augen wirken wie von einem Schleier bedeckt, wenn sein Blick die Passagiere streift oder über den See hin­gleitet, als ob er träumte …

      Der Sohn heißt Pekka. Im Winterkrieg kämpfte er bei Kuusamo, im Fortsetzungskrieg weiter südlich. Viele ken­­nen ihn und rühmen seine Widerstands­kraft ebenso wie seinen Opfermut, den er vielfältig bewies.

      Lass den Bären nur kommen, sagte er oft. Er wird uns in hundert Jahren nicht vernichten. Ich bin nicht der einzige Pekka – überall stehen Pekka und Pekka und Pekka; in den Wäldern und Sümpfen, mit dem Puukko in der Hand … lauernd.

      Lass den Bären nur herein, sagte er. Er kennt die Pekkas noch lange nicht, er kennt nicht die Sümpfe und Laby­rinthe. Unsere Wurzeln wachsen besser, wenn sie das Blut des Feindes trinken.

      Pekka war kein freudiger Krieger, aber dem, der in seine Heimat gewaltsam eindringen wollte, schwor er Kampf – und er hielt seinen Schwur, kämpfte bis zur letzten Patrone.

      Er kam auf dem Fels am Wasser zur Welt. Es ist seine Welt und er bleibt allein der Natur vermählt, aus der er kommt. Seine Mutter wurde nicht sehr alt. Er wuchs beim Vater auf, der ihn schon früh lehrte, für sich selbst zu sorgen. Die Schule be­suchte Pekka in der nahen Stadt. Schon als Kind begann er im Fährdienst mitzu­helfen, um den Va­ter hin und wieder zu entlasten. Das war beson­ders an den Wochenenden der Fall, wenn das Gefährt pausenlos in Anspruch genommen war. Jetzt trifft er seine Schulgefährten nur dann wieder, wenn er sie hinüber- und herübersetzt … und nickt ihnen freund­lich zu. Keiner weiß, ob er wohl auch gerne einmal zum Tanz­boden mitgefahren wäre oder zu einem anderen Fest. Seine Wünsche behält er bei sich. Ja, es sieht so aus, als ob die Jahre, die ins Land gehen, die Menschen um ihn immer unwich­tiger machen; sie beschäftigen ihn kaum.

      Doch nun ist das Ende des Fährzeitalters nah. Drüben

      hinter dem Hügel wird ein neuer Weg in den Fels gegraben. Dynamitexplosionen zerreißen die Stille, Stein um Stein wird dem Fels entrungen und unweit des Fährwegs ins Wasser geworfen. Was zunächst wie plan­loses Beiseiteschaffen aussah, wächst allmählich als lan­ger, gerader Damm aus dem Wasser. Eine Brücke soll entstehen, die die beiden Ufer mitein­ander verbindet.

      Oft stiert der alte Lossi wortlos auf den wachsen­den Damm. Pekka weiß, was das bedeutet: Das nahe Ende, denkt er, aber er scheut sich, diesen Gedanken weiter­zudenken. Ihm selbst ist es unvor­stellbar: keine Fähre mehr! Wie muss erst dem Vater zumute sein? Keiner spricht in Gegenwart des alten Lossi von der zu erwar­tenden Brücke.

      Ein­­mal werden die langen Wartezeiten vorbei sein – aber ein Stück guter, alter Zeit auch!

      Die Explosionen gehören seit langem zu den Selbst­verständlichkeiten hier. Trotzdem will das Don­nern des Dynamits sich nicht in die Landschaft einfügen; es ist anders als die Gewitter, deren schweres Rollen das ganze Rund des Horizontes erbeben macht.

      Heute gibt der alte Lossi seinem Sohn einen Schlüssel und erteilt ihm einen Auftrag. Er soll ein altes Som­merhaus an der heiligen Bucht auf­schlie­ßen und in Ordnung bringen. Es liegt fernab im Wald, etwas abseits vom See, und war viele Jahre verwaist. Pekka soll auch im nahen Dorf beim Bauern Niemalää Holz einkaufen und für die Sauna zurechtmachen.

      „Wem gehört das Haus?“, fragt Pekka.

      „Es gehörte meinem Bruder“, du weißt, dem Profes­sor, der im Fortsetzungskrieg geblieben ist, irgend­wo bei Koli.“

      „Und das Haus war immer unbenutzt?“

      „Ja – ich habe es gehütet wie ein Geheimnis. Es sollte nichts verdorben werden.“

      „Bist du jetzt der Eigentümer?“, möchte Pekka wissen.

      „Nein! Natürlich nicht“, erwidert der Alte verwun­dert. „Deine Cousine, die du noch nicht kennst, ist die Erbin; sie ist ja die einzige Tochter des Profes­sors – und schon bald nach dem Krieg hat sie Finnland verlassen. Danach habe ich nichts mehr von ihr gehört – bis jetzt.“

      Der Onkel muss wesentlich jünger gewesen sein als sein Vater, denkt sich Pekka. Er hat ihn nie gesehen. Und auch seine Cousine konnte er sich nicht vorstellen, noch wuss­te er, weshalb sie von Finnland fortge­gangen