Ursula Göhr

Wie das Leben so spielt


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war ein Geben und Nehmen für sie selbstverständlich. Aber Undank? Nein, den hatte sie nicht verdient.

      Schweigend nahm sie das Abendessen ein und hörte nur von Ferne das lebhafte Geplänkel zwischen den Geschwistern. Endlich kam die Schlafenszeit und Agnes war froh, sich nach einem anstrengenden Tag und einer langen Autofahrt ausruhen zu können. Als sie aus dem nach wie vor viel zu kalten Bad kam, wollte sie sich noch ein Glas Milch in der Küche heiß machen und tastete sich auf leisen Sohlen, um Fritz und die Schwester nicht zu wecken, die Treppe hinunter.

      Eigenartig, durch die halb offene Küchentür drang ein Lichtschein. Und hörte sie da ein Flüstern? Eine seltsame Ruhe und kühle Klarheit überkam sie und sie näherte sich geräuschlos. Was sie sah, drehte ihr den Magen um. Fritz und Susanne standen eng umschlungen am Buffet und küssten sich leidenschaftlich. Nach Atem ringend löste sich Susanne gerade, lehnte ihre Wange an seine Schulter und fragte Fritz: „Wie lange soll das Theater noch weitergehen? Wann hast du sie denn endlich so weit, dass sie sich an deinem Geschäft beteiligt? Nicht, dass sie nochmal in ihren Friseurladen investiert, und wir gehen leer aus! Außerdem bin ich das Schwesterspielen leid! Ich kann es einfach nicht mehr ertragen, euch zusammen zu sehen. Wir beide sind doch ein Paar! Ich hoffe, du vergisst das nicht!“ Sie schien den Tränen nahe. Er drückte sie noch enger an sich. „Susi, ich liebe doch nur dich. Du bist meine ganz große Liebe seit der Schulzeit, das weißt du doch. Mach dir keine Sorgen. Es dauert nicht mehr lang, dann sind wir am Ziel. Wenn ich sie ab dem nächsten Mal wieder umschwärme, wird sie mir überglücklich aus der Hand fressen und …“ Agnes hatte genug gehört.

      Mit letzter Kraft hielt sie ihre Panik in Schach, entfernte sich so leise, wie sie gekommen war und packte oben angekommen in wilder Hast ihren kleinen Koffer. Halb angezogen rannte sie Hals über Kopf die Treppe wieder hinunter und schlug die Tür hinter sich zu. Der Schneesturm war im vollen Gange, als sie sich verzweifelt zu ihrem Auto kämpfte. Ohne sich um die dicke Schneeschicht darauf zu kümmern, stieg sie ein, warf ihren Koffer neben sich und fuhr los. Sie wollte weg, nur weg! Halb blind kämpfte sie sich durch das dichte Schneetreiben, umklammerte zitternd das Lenkrad und schrie ihre Verzweiflung laut heraus. Dieses Elend, diese Enttäuschung, diese Niedertracht! In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander und alles in ihr verkrampfte sich. Die Scheinwerfer der vereinzelten Autos auf der Straße blendeten sie, aber sie steckte in einem tiefen schwarzen Loch und bohrte ihre tränenblinden Augen geradeaus in die flimmernde Nacht.

      Nach einer halben Ewigkeit schimmerte von fern ein Licht und beim Näherkommen holten sie die hellen Umrisse einer Raststätte aus ihrer Schockstarre. Hier hielt sie sonst immer an, um sich für die lange Rückfahrt mit allem Nötigen einzudecken. Wie ferngelenkt bog sie ab und hielt auf dem Parkplatz. Lange saß sie dort reglos, den Kopf an das Lenkrad gelehnt. Die Kälte kroch allmählich an ihr hoch und sie fühlte einen Gedanken mehr als dass sie ihn innerlich hörte: „Willst Du denn hier erfrieren? Das ist keiner wert!“

      Sie schaute auf und wurde sich jetzt erst des heftigen Sturms, der am Auto rüttelte, und des dichten Schneegestöbers richtig bewusst. Langsam und mit klammen Fingern öffnete sie ihren Koffer, wickelte sich aus ihrem Bademantel, zog sich Jeans und Pullover über ihren Schlafanzug und zog den Reißverschluss ihrer Stiefeletten hoch. Mantel und Mütze angelte sie sich vom Rücksitz. So ausgestattet stapfte sie steif und ungelenk durch den Schnee auf das Gebäude zu, vor dessen großen Fenstern die Schneekristalle im hellen Licht glitzerten.

      Bei einer Tasse Kaffee und einem belegten Brötchen, das sie mechanisch kaute, kam sie langsam wieder zu sich. Sie war allein mit der Bedienung, die sich nicht um sie scherte. Was jetzt? Was sollte sie tun? Was machte noch Sinn? Sinn. Die Dinge des Lebens, die sie oft mit Martina diskutierte, ihrer philosophierenden, lebenserfahrenen Nachbarin und Freundin. Sie fand immer eine Erklärung und lieh ihre starke Schulter. Sie griff nach ihrem Handy wie eine Ertrinkende nach dem rettenden Strohhalm.

      „Martina Baumgartner“? klang es nach längerem Klingeln verschlafen an ihr Ohr. Sie war zu Hause, Gott sei Dank! Eine Welle der Erleichterung schwappte über sie. Sie war doch nicht allein und verloren.

      Februar: Schneeschmelze

      Gabriele stand vor dem kleinen Hexenhäuschen und wusste nicht, was sie sagen sollte. Das also hatte Tante Hetti, die gute Seele, ihr vererbt! Nach dem Lärm der Großstadt war die Stille am Dorfrand, die nur von fröhlichem Vogelgezwitscher unterbrochen wurde, die reinste Erholung.

      Vorsichtig öffnete sie das quietschende Gartentor und schlenderte die leicht verschneiten Trittplatten entlang auf die Haustür zu. Links und rechts vom Weg streckten Rosen ihre nackten Zweige der kalten Winterluft entgegen, hier und da lugten blaue oder terrakottafarbene leere Blumenkübel hinter kahlen Büschen hervor. Die grünen Fensterläden waren geschlossen, aber das Häuschen machte trotzdem einen freundlichen Eindruck und schien sie willkommen zu heißen. Ein bisschen Herzklopfen hatte sie schon, als sie den Hausschlüssel hervorkramte, den ihr der Notar am Vormittag übergeben hatte und sie war froh, dass sich die Tür leicht öffnen ließ.

      Als sie sich im Halbdunkel des kleinen Flurs zu orientieren versuchte, wurde sie von plötzlich auf sie einstürmenden Erinnerungen fast überwältigt. Natürlich, der Lichtschalter war gleich rechts neben der Tür. Und „ihr Zimmer“ befand sich im ersten Stock. Ob die zweitoberste Stufe noch knarrte? Im Küchenbuffet hatte sie ihr eigenes Fach – und im Wohnzimmer „ihren“ Sessel, auf der nur sie und Hummer, der Kater, sitzen durften. Wie glücklich war sie als Kind gewesen, wenn sie hier ihre Ferien verbringen konnte! Und der verwunschene Garten mit den vielen Versteckmöglichkeiten – und den leckeren Beeren und Früchten! Sie grinste leicht betreten, als ihr einfiel, wie ihre Mutter wegen der Obstflecken auf ihren T-Shirts Stress gemacht hatte.

      Das Herzklopfen setzte wieder ein, als sie die Fensterläden öffnete, das Licht hereinließ und langsam durch die Zimmer schritt. Ihr schien alles unverändert, ordentlich aufgeräumt und urgemütlich. Ihre Hetti-Tante hatte immer ein Händchen für ein wohnliches Ambiente gehabt. Tatsächlich, „ihr“ Sessel stand noch am selben Platz. Nur Hummer fehlte, vermutlich war er längst gestorben. Was für ein wunderbarer Spielgefährte er doch gewesen war!

      Sie ließ sich mit einem Seufzer in „ihren“ Sessel sinken und schaute durch die großen Türen auf die Terrasse, die in eine kleine, von Büschen und Bäumen umrahmte Rasenfläche überging. Zu Hause. Bei diesem Gedanken spürte sie, wie sich der enge Knoten in ihrem Herzen allmählich löste. Ein warmes Gefühl der Geborgenheit breitete sich in ihr aus und es schien, als ob ihr Blut, das vor Wochen vereist war, aufzutauen begann. Sie lehnte sich zurück und gab sich diesem wunderbaren Aufblühen ihrer Lebensgeister uneingeschränkt hin.

      Gabriele wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatte – aber als sie aufstand, war sie ein neuer Mensch. Sie war Tante Hetti unendlich und von Herzen dankbar für dieses einmalige Geschenk. Jetzt hatte sie eine solide Basis und konnte voller Zuversicht und Freude ihr Leben neu ordnen.

      Zuerst einmal konnte sie endlich aus dem Gästezimmer ihrer Kollegin ausziehen, die sie mitleidig aufgenommen hatte, nachdem ihre Existenz buchstäblich zusammengebrochen war. Seltsam, jetzt konnte sie tatsächlich daran denken, ohne zu einem Eisblock zu erstarren oder in Trauer zu ertrinken. Klaus hatte sie letzten Sommer von heute auf morgen verlassen. Dafür hatte es nicht die geringsten Anzeichen gegeben, alles war wie immer gewesen. Nach dem Frühstück war er zur Arbeit gegangen, sie hatte noch kurz aufgeräumt und war dann wie sonst auch mit der Straßenbahn ins Büro gefahren. Als sie abends heimkam, war er noch nicht zu Hause, was sie nicht erstaunte, weil er in letzter Zeit geschäftlich oft unterwegs war und viele Überstunden gemacht hatte. Dann fand sie die Nachricht. Er war weg. Die Wohnung und das Mobiliar überließ er ihr. Und natürlich die Zahlung der horrenden Miete.

      Für sie brach damals eine Welt zusammen. Diesen Mann hatte sie innig geliebt und ihm blind vertraut. Und er hatte ihr nie den geringsten Anlass gegeben, an seiner Liebe zu ihr zu zweifeln. Wie niederträchtig und feige konnte ein Mensch sein? Am nächsten Morgen war sie außer Stande, zur Arbeit zu gehen