Prince Mario Munibert Gulbrand

Die Annalen von Naschfuhd; aus den Chroniken von Biglund


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während Albin den Weg durch den Nebelwald wanderte. Es gab weder ein Knistern, noch ein Zucken und auch kein Murren und Knurren. Es war nicht einmal ein kleines Huschen zu hören. Es war eigentlich für hiesige Zustände merkwürdig ruhig in dem Wald, vielleicht sogar zu ruhig. Albin konnte sich nicht daran erinnern, dass es in diesem Wald einmal tatsächlich so ruhig gewesen wäre, aber vielleicht täuschte er sich auch, da er sich normalerweise auch am wesentlich geräuschvolleren Waldrand aufhielt, weil dort am meisten Pilze und - wesentlich bedeutsamer - am wenigsten gefährliche Tiere - allen voran große, ovalförmige und angriffslustige Warzas - aufhielten. Vielleicht hatten die anderen Tiere des Waldes zu große Angst, sich mitten in den Nebelwald zu begeben. Vielleicht hatte es auch ganz andere Gründe, zu deren fachgerechter Lösung es der Heranziehung mindestens eines biglundischen Gelehrten der Biologie bedurfte. Doch eines war klar: Es war einfach viel zu ruhig in diesem gottverlassenen Wald.

      So ging es auch viel zu ruhig weiter, zumindest eine gewisse Zeit lang. Doch dies änderte sich plötzlich und ohne jedes noch so kleine Zeichen einer Vorwarnung, als etwas ganz in der Nähe befindliches mit voller Wucht direkt in Albins Hinterkopf sprang. Es gab einen sehr dumpfen Aufschlag, auf den ein sehr dumpfer Schmerz folgte.

      „Aaahhh!!!“ schrie Albin, stolperte einen Meter nach vorne und drehte sich schnell um.

      Tatsächlich, es war ein Warza! „Uoouh! Uoouh!“ grölte es. Ein seltsamer Ruf, denn der eigentliche Ruf eines gemeinen Warzas klang mehr wie ein „Phuääh!“ Mit einem neuen Sprung kam es nun direkt auf Albins Magengegend zu. Albin hatte keine Zeit zum Nachdenken. Reflexartig wich er der Kreatur aus. Es musste ein sehr angriffslustiges und schnelles Exemplar dieser Gattung sein. Albin wurde nervös. Adrenalin schoss durch seinen Körper. Seine Augenlieder zuckten und seine Knie wurden weich. Seine Sinne schärften sich und seine Schweißdrüsen sonderten Schweiß ab, um seinen Körper abzukühlen. Sein Puls erhöhte sich. Dann zuckten wieder seine Augenlieder und sein Mund wurde trocken. Es war alles so unglaublich aufregend, aber auf eine ziemlich beschissene Art und Weise.

      Albin nahm all seinen Mut zusammen und holte mit seinem Vierkantholz weit aus, da sprang ihn das grüne Warza völlig unverhofft wieder an und wollte ihn allem Anschein nach direkt im Gesicht treffen. Wieder musste er schnell ausweichen, um schlimmere Folgen, welche aus der Umsetzung dieser Absicht zwangsläufig resultieren würden, abzuwenden. Das Warza hörte nicht auf, sofort nach dem einen Fehlschlag einen neuen Rammversuch zu starten. Wieder kam es auf ihn zu und wollte ihn im Leistenbereich treffen. Doch anstatt auszuweichen, schleuderte Albin das Ding diesmal mit einem schnellen und beherzten Schlag in dessen Fratze weg von sich in die dicke, graue Nebelwand. Das Warza flüchtete panisch.

      „Puh, das war knapp“, dachte Albin, denn um ein Haar hätte er sich eine leichte Prellung zugezogen, die im schlimmsten Falle sogar mit einem blauen Fleck geendet hätte. Der Kampf dauerte über eine Minute lang. Albin verschnaufte erst einmal.

      Das, was ihn soeben attackierte war ein starkes Warza, denn es hatte ganze fünf rote Bommel am Körper. Albin sah normalerweise wenn überhaupt einmal ein Warza mit drei oder vier Bommeln. Exemplare mit fünf roten Bommeln waren hingegen eine Rarität. Es war sicher ein Zeichen dafür, dass auch die Natur aufgeschreckt war durch die neuesten Ereignisse und nun ein wenig verrücktspielte. Es lag etwas in der Luft und es roch verdächtig nach großem Ärger. Wahrscheinlich hatte der Dorfälteste tatsächlich Recht, dachte Albin. Im nächsten Moment stellte er zwar fest, dass dieser merkwürdige Geruch, der in der Luft hing, anscheinend von einem kleinen Überrest tierischer Exkremente am Wegesrand maßgeblich mit verursacht wurde, doch ein fünfbommeliges Warza war auf jeden Fall kein gutes Zeichen und allein deshalb zweifelte Albin keineswegs mehr an seiner Mission. Die Zeichen waren zu eindeutig.

      Nach einer kurzen Verschnaufpause ging es weiter. Nun war Albin ein ganzes Stück vorsichtiger als davor und hielt sein Vierkantholz deutlich stärker in der Hand umklammert. Er musste sehr auf der Hut sein. Die Geschöpfe des Waldes waren schließlich hinterhältig, verdorben und bis in das finsterste Innere ihrer abgrundtiefen Seele durchtrieben und die Warzas waren nicht einmal die fiesesten unter ihnen. Inzucht, Kannibalismus und Rassendiskriminierung gehörten genauso zum trostlosen Alltag dieser geistig minderbemittelten Lebewesen wie Drogenhandel, Bandenkriege und sonstiges organisiertes Verbrechen. Man erzählte sich im Dorf nicht selten die gruseligsten Geschichten, die leichtsinnigen Menschen passierten, als sie diesen Wald durchqueren wollten. Von einem Nachbarn hörte Albin einmal, dass er von seinem Schwager hörte, dass dessen Bekannter einmal jemanden kannte, der von einem anderen gehört hatte, dass dieser jemanden gesehen hatte, der dort von einer riesigen Blume gefressen wurde. Albin wusste zwar nicht, ob es stimmte, doch es war allemal ein Grund, besondere Vorsicht walten zu lassen.

      Der Wald wurde im Laufe des weiteren Weges immer dichter und nebeliger, sodass Albin bald nur noch eine kurze Strecke vor sich erkennen konnte. Er schlich mehr, als er durch den Wald wanderte, um keine Tiere anzulocken. Im Nebel war er ihnen klar unterlegen. Seine Taktik ging glücklicherweise eine Zeit lang auf, denn außer einem gelegentlichen Rascheln passierte eine ganze Weile nichts Bedrohliches. Dann kam er plötzlich an einer Frittenbude vorbei, bestellte sich dort aber nichts, denn das Fett roch bereits sehr alt. Anschließend war es wieder sehr ruhig. Vielleicht war es zu ruhig. Insbesondere begegnete er bisher keiner fleischfressenden Riesenblume, was einerseits durchaus erfreulich, andererseits wiederum beunruhigend war. Denn lange blieb es im Nebelwald für gewöhnlich nur dann ruhig, wenn gerade etwas Gefährliches lauerte. Zumindest erzählte man sich das im Dorf.

      Die Geschichte des Nebelwaldes war weit bemerkenswerter als es der Wald selbst und seine begrenzte Flora und Fauna für Fremde und Ortsunkundige zunächst vermuten ließ und noch viel weniger sein junges Alter. Denn der Nebelwald existierte erst seit ungefähr anderthalb Zeitaltern, wobei die Zahl anderthalb an dieser Stelle leidlich ungenau, vielmehr falsch ist, da man zu jener Zeit noch nicht wissen konnte, wann sich das derzeitige Zeitalter seinem Ende neigen würde, beispielsweise aufgrund eines großen und bedeutsamen Ereignisses oder - wie in den meisten Fällen - aufgrund eines einstimmigen Beschlusses hochrangiger Gelehrter und bestechlicher Politiker, denen das derzeitige Zeitalter bereits zu lange andauerte oder denen sehr an der Verjährung eines Straftatbestandes gelegen war. Doch die Benennung eines Zeitraumes, der bereits in den Beginn des vorherigen Zeitalters reichte, wurde umgangssprachlich mit der Zahl anderthalb angegeben, weil bis zu jener Zeit keine vernünftigere Alternative gefunden wurde, da die meisten Bewohner Biglunds selbst nicht so genau wussten, in welchem Jahr des derzeitigen Zeitalters sie sich befanden. Jedenfalls begab es sich so, dass der Nebelwald erst zu Beginn des vorangegangenen Zeitalters nach biglundischer Zeitrechnung existierte. Es war einer der wenigen künstlich angelegten Wälder Biglunds und er wurde nur deshalb angelegt, weil die Bewohner des Oberlandes, zu dem vor allem das Quelldorf und mehrere umliegende Dörfer gehörten, nichts mehr mit dem zu tun haben wollten, was sich hinter dem zu pflanzenden Nebelwald befand und davon ausgingen, dass ein Wald als natürliches Hindernis ausreichen sollte, ihnen diesen Wunsch zu erfüllen. Tatsächlich ging dieser Wunsch in Erfüllung, allerdings lag das vielmehr daran, dass alles, was sich hinter dem Nebelwald verbarg, selbst kein Interesse mehr an den Bewohnern des Oberlandes hatte. Der Grund für das gegenseitige Misstrauen zwischen den Menschen, die den Nebelwald pflanzten, und allem anderen, was sich dahinter verbarg geriet mit der Zeit in Vergessenheit, sodass sich eine Vielzahl von Mutmaßungen, Spekulationen und Mythen um den eigentlichen Grund rankten, von denen eine unglaubwürdiger als die andere war und regelmäßig zu handfesten Streitigkeiten unter den Bewohnern des Oberlandes führte.

      Albin ließ sich nicht verunsichern und schlich vorsichtig weiter. Er musste den Markierungen zufolge etwa zwei Drittel des Waldweges hinter sich gelassen haben, als der Nebel allmählich wieder schwächer wurde. Es war schon fast Mittag und diese eigentlich so lapidare Tatsache war für Albin gerade ein riesiges Problem. Denn bis zu seinem Ziel hätte genau deshalb noch alles Mögliche passieren können, vorausgesetzt es hätte sich noch in den gesetzlichen Grenzen der Logik und Magie von Biglund gehalten. Denn nach den Gesetzen der Logik und Magie von Biglund war so Einiges möglich. Gerade um die Mittagszeit wurden demnach alle Tiere in der Nähe des Quelldorfes aggressiver und suchten förmlich nur so nach Streit. Die Mittagszeit war die gefährlichste Tageszeit in dieser Region. Warum das im Übrigen so war, wusste niemand so genau und es rankten sich wie immer in solchen Fällen zahlreiche Mythen und Legenden um die Ursache dieses seltsamen