irgendwas wissen. Ich bin mir sicher, spätestens morgen ist unsere Jasmin wieder aufgetaucht.“
„Unsere Jasmin, ja klar. Ich sag dir was ich mache: ich ruf jetzt bei der Polizei an!“
Die Frau hatte aufgelegt. Sie sah sich fahrig um, dann ging sie ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher aus. Dann ging sie zurück in die Küche, holte eine weitere Zigarette aus der Packung und zündete sie an, ließ sich auf den Stuhl am Küchentisch fallen, starrte die Wand an und wischte sich mit der Hand die Tränen vom Gesicht. So saß sie etwa fünf Minuten regungslos da, während die Zigarettenasche auf den Linoleumfußboden bröselte. Dann griff sie erneut zum Telefon und wählte eine Nummer. Ein kurzes Freizeichen, dann meldete sich eine freundliche Männerstimme:
„Elf-Acht-Drei-Drei, mein Name ist Velten, was kann ich für Sie tun?“
„Grüß Gott, ich bräuchte bitte die Nummer der Polizei.“
„Gerne, in welcher Stadt?“
„Ach ja, in München bitte.“ Eine kurze wortlose Pause, dann sagte der Mann am anderen Ende:
„Ich hätte hier die Zentrale oder wollen Sie eine bestimmte Durchwahl?“
„Ich muss eine Vermissten-Anzeige aufgeben.“ Wieder eine kurze Pause.
„Ich lasse Ihnen die Nummer ansagen, möchten Sie danach gleich verbunden werden?“
„Ja, bitte.“
Im Polizeipräsidium München wurde am 7. Juni 2008, um 19:23 eine telefonische Vermisstenanzeige betreffend einer fünfzehnjährigen Schülerin aufgenommen, ordnungsgemäß protokolliert und zur Wiedervorlage für die zuständige Kommission am nächstfolgenden Werktag weitergeleitet. Die Anruferin wurde darauf hingewiesen, dass vor Ablauf von drei Tagen, in denen die vermisste Person unauffindbar blieb, üblicherweise keine ermittlungstechnischen Vorgänge gestattet seien, dass man aber aufgrund der besonderen Situation und der möglichen Parallelen zu einer anderen bisher unaufgeklärten Personenfahndung diese Sache schnellstmöglich und mit Nachdruck verfolgen werde.
Auf dem Viktualienmarkt II
Samstag, 7. Juni 2008, 21:15
„Wäjsse, wat de mal mache muss', Kolleje! Do jehsse in Köln in ne Knäjpe un denn pfeifste de Köbes her und bestells' dir en Alt! Un' denn guckste, wat passiert!“. Die drei Rheinländer lachten sich kaputt. Ausgehend von der vorhergehenden Unterhaltung konnte sich Sedlmeyer in etwa vorstellen, was passieren würde. Sie waren im Laufe ihres Gespräches auf die diversen Hasslieben zu sprechen gekommen, die sich zwischen Nachbarn so entwickeln konnten. Sie waren zunächst bei den Österreichern gelandet, da die drei wissen wollten, was sie in Klagenfurt zu erwarten hätten, wenn sie am Donnerstag zu ihrem EM-Spiel dorthin aufbrechen würden. Sedlmeyer hatte ihnen erklärt, dass es hierzulande Tradition sei, die Österreicher durch den Kakao zu ziehen, während es bei denen üblich war, die benachbarten Deutschen zu veräppeln und dass das ganze gerade deshalb ein Ausdruck tiefer Verbundenheit sei. Darauf hin hatten ihm die drei Kölner ausführlich erklärt, dass ähnliches auch auf Köln und Düsseldorf zuträfe allerdings ohne jede Verbundenheit. Was also würde passieren, wenn man in einer Kölner Kneipe ein Düsseldorfer Altbier bestellte? Man flog mit hoher Wahrscheinlichkeit auf der Stelle raus. Sedlmeyer grinste und trank seinen letzten Schluck Bier aus. Schon seit einiger Zeit kreisten seine Gedanken um seine neue CD. Er hätte sie zu gerne so schnell wie möglich angehört. Er hatte eine hochwertige Stereoanlage zuhause, der einzige wirkliche Luxus, den er sich gönnte und einen sündhaft teuren Kopfhörer. Sich in der lauen Sommernacht auf den Balkon und den Kopfhörer auf den Kopf setzen, eine Zigarette drehen und ein seltenes Pantera bootleg anhören, das erschien ihm gerade extrem verlockend. Dann kam ihm noch ein anderer Gedanke. Was wäre, wenn er zuvor noch ein wenig andere – natürlich längst nicht so gute – Musik hörte, und sich den ultimativen Genuss noch ein bisschen aufhob? Das war so eine Sache mit den Genüssen: sollte man sie packen, sich ihnen ergeben, so schnell und wann immer es ging? Oder sollte man sie sich aufheben, die Vorfreude genießen und die Erwartung wachsen lassen? Eine Frage, die sie einmal unter den Kollegen in der Kantine beim Mittagessen diskutiert hatten, lautete: „Wenn du zwei Zutaten auf deinem Teller hast, eine schmeckt dir wahnsinnig gut und die andere nicht ganz so gut, welche isst du zuerst?“. Die Antworten waren unterschiedlich ausgefallen; die einen würden das schmackhaftere Gericht sofort aufessen und das andere erst danach, während die anderen sich den Leckerbissen bis zum Schluss aufhoben. Sedlmeyer war einer der letzteren gewesen. Er hatte einen Plan gefasst. Er würde die drei Kölner ihrem Schicksal überlassen, das wahrscheinlich unter anderem darin bestand, dass sie am nächsten Tag einen saumäßigen Kater haben würden, und noch in eine Kneipe gehen. Sie hatten ihm zuvor erzählt, „höjte nochmal rischtisch Party machen“ und die Münchner Club-Szene auskundschaften zu wollen. Ob das mit dem Auskundschaften erfolgreich funktionieren würde, konnte man so oder so sehen; schließlich hatten sie jeder schon ungefähr vier Mass intus. Sedlmeyer stand auf, zog seine Jacke an, klopfte dem grantigen Alten neben sich auf die Schulter und wünschte den Rheinländern viel Spaß bei ihrem weiteren München-Aufenthalt. Die waren empört über sein frühes Aufbrechen:
„Kollege, du willst doch nicht etwa schon gehen? Bleib da, wir gehen später noch ins null-acht-neun, da kommste mit!“, sagte der erste.
„Würd ich ja gerne machen, aber ich kann nicht. Daheim wartet meine Frau mit dem Nudelholz auf mich“, antwortete Sedlmeyer und grinste verschwörerisch. Das war rundheraus gelogen; weder hatte er eine Frau, noch hatte die ein Nudelholz. Die einzige Dame, die auf ihn wartete, hieß Pantera und war eine US-Amerikanische Band aus Fort Worth, Texas, die richtungsweisende Einflüsse auf den modernen Heavy-Metal hervorgebracht hatte.
„Lass di nüt verkloppe von deine Frau! Et hät no immer joot jegange, Kolleje!“ riet ihm der dritte Kölner. Sedlmeyer hob die Hand zum Gruß und bahnte sich seinen Weg durch den Biergarten. Er wollte noch in eine Kneipe in der Nähe gehen, in der sie normalerweise halbwegs ordentliche Rockmusik spielten und dort noch ein Bier trinken, bevor er nach Hause fahren und sich genussvoll seiner neuen CD widmen würde. Dass er am morgigen Sonntag ausschlafen konnte, war ein weiteres Detail, das seine Laune ansteigen ließ – sein Beruf brachte es mit sich, dass er unter der Woche sowieso und oft auch an den Wochenenden unter großer Anspannung stand, präzise Entscheidungen zu treffen und sich mit bürokratischen Hürdenläufen zu beschäftigen hatte. Da kam ihm ein Samstag Abend wie dieser gerade recht: ein bisschen mit den angetrunkenen Biergarten-Nachbarn herumzualbern war eine nette Abwechslung zu den investigativen, folgenschweren und sachlichen Gesprächen, die er sonst so zu führen hatte. Gespräche zu führen, sich in den anderen hineinzuversetzen und ihn letztlich auch so zu manipulieren, dass er am Ende da stand, wo man ihn haben wollte, das war im Grunde genommen die Hauptbeschäftigung eines Kriminalbeamten. Sedlmeyer war gut in diesem Geschäft und sein Beruf erfüllte ihn die meiste Zeit mit der Genugtuung, seine Fähigkeiten der Gesellschaft zur Verfügung gestellt zu haben. Heute allerdings war er nicht in der Stimmung, bedeutungsschwere Unterhaltungen zu führen und freute sich auf ein bisschen Musikgenuss ohne dazu etwas sonderlich raffiniertes beitragen zu müssen. Er schloss sein Fahrrad auf.
Sedlmeyer radelte langsam und entspannt durch die abendliche Stadt. Über die Reichenbachstraße gelangte er zum Gärtnerplatz, dem kreisrunden Zentrum des gleichnamigen Viertels, mit bunten Blumenbeeten und einem steinernen Brunnen in der Mitte. Rundherum waren Bänke aufgestellt, auf denen schwatzende Studenten saßen und Bier tranken. Im Sommer war der Platz Anlaufstelle für zahlreiche Nachtschwärmer, die den Abend im Freien beginnen und später in einer der zahlreichen Kneipen des benachbarten Glockenbachviertels fortsetzen wollten. Sedlmeyer hatte einen Moment lang das Bild eines Germknödels vor Augen, über den schwarze Mohnsamen gestreut waren, als er die vielen Menschen über den kreisrunden Platz verteilt sitzen sah. An einer Seite des Platzes befand sich das Gärtnerplatz-Theater, ein spätklassizistischer Bau aus den 1860er Jahren, vor dessen Eingang sich eine Treppe breit machte, übersät mit ausgelassenen Jugendlichen. Sedlmeyer überlegte kurz, wie es wäre, selbst wieder Student zu sein, mit Kumpels hier zu sitzen und sich nicht mit dem Gedanken zu belasten, was morgen und übermorgen