Kirk Spader

Futurehome


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"kleine Prinzessin" sah mittlerweile mehr aus wie eines dieser Models aus dem Fernsehen. Bis auf ihre Klamotten. Sie trug nur Schwarz, am liebsten knappe Miniröcke und ihre Oberweite schien sich im letzten Jahr verdoppelt zu haben. Sie wäre auch für 18 durchgegangen, eine Tatsache, die Gerd Angst machte. Im Urlaub in Italien hatte sie die Blicke von Männern jeden Alters auf sich gezogen und Gerd hätte am liebsten jeden dieser Kerle verprügelt. Beide waren „Spätwüchsige“, wie er es nannte. Evi und Gerd waren sich eigentlich einig gewesen, dass sie keine Kinder haben wollten. Doch wegen ihrer Hormonschwankungen konnte Evi nicht die Pille nehmen und Gerd hatte damals noch nicht eingesehen, warum er Kondome benutzen sollte. So war Charlie in einer windigen Nacht auf der Nordseeinsel Norderney entstanden. Thorben war das Produkt eines Kondoms, das sich nicht an die Bedienungsanleitung gehalten hatte. Aber er liebte seine Kinder und war stolz auf beide. Auch wenn Charlies schulische Leistungen in letzter Zeit zu wünschen übrig ließen, was vermutlich an Ulf und anderen Jungs lag, die sie „süß“ fand.

      Rumpelnd fuhren die elektronisch gesteuerten Rollläden des kleinen Reihenhäuschens herunter. Sie waren zeitgesteuert, genau wie die Heizung, die Alarmanlage und die Teichpumpe mit dem Springbrunnen.

      Die Familie Semmler fuhr jedes Jahr eine Woche nach Norderney, Pension Seestern und im Sommer nach Italien, zu einem Campingplatz in der Nähe von Rimini. Charlie hatte sich schon tausendmal beschwert, weil sie so uncoole Urlaube machten, während ihre Freundinnen in die U.S.A. oder nach Australien flogen.

      „Schatz, wir haben kein Geld für solche Luxusreisen“, sagte Evi dann immer und Gerd schämte sich etwas.

      „Warum verkaufen wir nicht Charlie und schaffen uns einen Hund an? Der riecht wenigstens besser.“ Das war Thorbens Standardkommentar in diesem Gespräch, das sich jedes Jahr wiederholte.

      Gerd sah auf die letzte Seite im Elektronikwelt-Katalog. „Jubiläums-Preisausschreiben: Gewinnen Sie das Haus von morgen!“ stand da. Er las genauer: „Zum zwanzigjährigen Bestehen des Elektronikwelt-Versandes verlosen wir ein Fertighaus der Firma Futurehome, komplett ausgestattet mit einem zentralen Steuersystem. Bedienen Sie alle Funktionen vom Handy aus! Zusammen mit einem Warengutschein im Wert von 20.000 Euro der Elektronikwelt können Sie das Haus Ihren Bedürfnissen anpassen.“ Das klang traumhaft. Ein komplett computergesteuertes Haus. Gerd seufzte, dann riss er die Seite aus dem Katalog. Die würde er morgen mit seiner Adresse versehen an die Elektronikwelt faxen. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie etwas gewonnen, er spielte auch nie Lotto, aber das hier, das war etwas ganz anderes.

      Gerd stand auf, er würde das Ding sofort faxen, warum bis morgen warten? Es war ja eine Verlosung, vielleicht gewann man, wenn man schnell genug war. Doch dann sah er etwas, das ihm gar nicht gefiel: Auf der Rückseite des Blattes war ein Kreuzworträtsel und man musste das Lösungswort herausfinden, um an der Verlosung teilnehmen zu können. Offensichtlich wollte es die Elektronikwelt den Teilnehmern nicht leicht machen, denn das Rätsel war das Anspruchsvollste, das Gerd jemals gesehen hatte. Er musste ins Internet um die Begriffe herauszufinden, soviel war klar. Gerd pirschte sich in Charlies Zimmer, denn Charlie hatte den einzigen vernünftigen Computer im Haus. Er durfte sich nur nicht erwischen lassen, denn Charlie hütete ihren Laptop wie ihre Unschuld. Hoffte Gerd jedenfalls. Das Ding brauchte eine Ewigkeit, um hochzufahren, aber Charlie würde zurzeit unten auf dem Sofa liegen und mit ihrer besten Freundin Solveig telefonieren. Das tat sie jeden Abend, meistens dauerte es zwei Stunden. Dabei sahen sich die beiden jeden Tag in der Schule. Gerd fragte sich immer, was man zwei Stunden besprechen konnte, wenn man sich jeden Tag sechs Stunden sah. Er hatte ein Mal ein Gespräch belauscht und danach eine Flatrate bei seinem Telefonanbieter einrichten lassen. Natürlich sprach man in dem Alter über Jungs. Charlie und Solveig sprachen jeden Abend über alle Jungs, die sie im Laufe des Tages gesehen hatten. Und über Lipgloss, Handtaschen, Jeans von Marken, die nur in Neuseeland oder über eBay zu bekommen waren und unreine Haut.

      Eine alberne Melodie zeigte an, dass sich das Betriebssystem des Laptops jetzt fit genug fühlte, um auf Befehle des Users zu reagieren. Gerd hasste Computer. Nicht weil er altmodisch war, das konnte man ihm nun wirklich nicht vorwerfen, sondern weil er so viele Ideen hatte, wie man die Dinger so konstruieren könnte, dass jeder damit klarkommen würde, nicht nur Computerfreaks.

      Gerd rief Google auf und gab den ersten Begriff ein: „Sumpfschildkröte Südamerikas“, sieben Buchstaben. „Anhilona“ gab Google zur Antwort und Gerd trug das Wort in dem Rätsel ein, dann das nächste. Bereits nach der Hälfte des Kreuzworträtsels war ihm ziemlich klar, wie das Lösungswort lauten würde. Doch Gerd war ein gründlicher Mensch und er machte weiter, bis er alle Felder bis auf einen Begriff gefüllt hatte. Für diesen Begriff fand Google keine Einträge. Nichts. Gesucht wurde ein „Tibetanischer Nacktmullmori“ mit acht Buchstaben. Gerd fluchte leise, er hatte das Lösungswort bis auf einen Buchstaben rausbekommen. Es hieß entweder „Sicherungskasten“ oder „Sicherungskosten“. Letzteres war eher unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Gerd dachte angestrengt nach, dann suchte er eine Webseite, die sich mit der Fauna Tibets beschäftigte. Unter Tibet.de hatte eine Reisegesellschaft ihre Angebote aufgeführt. Er gab Tibet.com ein. Es erschien ein Haufen versautes Zeug auf dem Bildschirm. Er hatte sich verschrieben, hatte Tibett.com eingegeben und starrte verblüfft auf die Abbildungen, verblüfft darüber, wie wenig das Kamasutra darüber aussagte, was man mit zwei nackten Körpern wirklich tun konnte.

      „Papa! Verdammt, was soll das denn?“ Charlie hatte heute scheinbar weniger Jungs in der Schule getroffen, über die es sich zu reden lohnte. Bestürzt fiel Gerd ein, das heue Sonntag war.

      „Erklärst du mir mal, warum du auf MEINEM Laptop Pornoseiten guckst?“

      Gerd wurde rot und beendete die verhängnisvolle Anwendung.

      „Ich habe mich bei einer Internetseite vertippt und dann kam dieses ... Zeug.“ Charlie sah ihn an, als wenn er gerade behauptet hatte, dass es den Weihnachtsmann wirklich gab. „Tochter, ich bin 55, glaubst du wirklich, ich brauche so was noch?“ Schwaches Argument. „Ach ja? Wann wurde Thorben noch mal geboren, du geiler Bock?“

      „He, ich habe nur was gesucht. Weißt du, wie ein tibetanischer Nacktmullmori mit acht Buchstaben heißt?“

      Charlie grinste. „Keloquoa, Paps.“ Vielleicht waren ihre schulischen Leistungen doch gar nicht so schlecht.

      „Danke, Tochter.“ Gerd gab ihr einen Kuss auf die Wange.

      „Soll ich Mama erzählen, dass du dir im Internet Schweinkram runterlädst?“ „Aber ich habe ...“

      „Oder bekomme ich Weihnachten mein iPhone?“ Sie sah ihn mit ihrem unschuldigsten Hundeaugenblick an. „Ich sollte einen Vaterschaftstest machen“, brummte Gerd. „War das ein „Ja“? Charlie klimperte mit ihren Hyper-Extended-Supertelescopic-Maskara-Augenwimpern. Gerd kapitulierte. „Das kriegst du. Obwohl alles nur ein großer Irrtum ist.“ „Danke, Dad, Irrtum, klar.“ Gerd ging in der Gewissheit, dass ihn seine Schlange von Tochter mindestens die nächsten fünf Jahre mit ihrem „Wissen“ erpressen würde. Gerd trug das letzte Wort in das Kreuzworträtsel ein. Das Lösungswort war „Sicherungskasten“. Dann faxte er die Seite an die Elektronikwelt, in der sicheren Überzeugung, nie wieder etwas von diesem Preisausschreiben zu hören. Oder vielleicht in der nächsten Ausgabe zu lesen, dass eine Herta B. aus G. das Haus gewonnen hatte, vermutlich eine 89-jährige Dame, die von Elektronik so viel Ahnung hatte wie Thorben von Mädchen.

      Die nächsten vier Wochen verbrachte Gerd so, wie es sich für einen echten Rentner gehörte: Garage aufräumen, Winterreifen aufziehen, Charlie aus dem Weg gehen, das iPhone bei Amazon bestellen und einen handelsüblichen Laserpointer so umbauen, dass man damit Löcher in Metall brennen konnte. Das Ganze hatte er als Taschenlampe getarnt und sorgfältig in seinem „Geheimwaffenarsenal“ versteckt. Weihnachten verlief wie jedes Jahr, bis auf Thorbens enttäuschtes Gesicht, der statt seines teuren Nintendos nur einen selbstgebauten Roboter bekam, der unflätig fluchte, weil Gerd vergessen hatte, den Sprachchip neu zu besprechen. Charlie war mit ihrem neuen iPhone selig und man sah ihr an, dass sie darüber nachdachte, wie sie ihren Vater das nächste Mal erpressen konnte. Kurz nach Weihnachten entdeckte Evi in der Post zwischen Rentenbescheid, Kurantragsablehnung und Versicherungswerbung ein Schreiben der