Kirk Spader

Futurehome


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Evi fluchte, als die heiße Flüssigkeit ihren Arm traf. Dadurch verpasste sie den markerschütternden Schrei, den Gerd im Keller ausgestoßen hatte. Der saß an seinem Arbeitstisch und starrte fassungslos auf den Brief. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie ein Schreiben bekommen, das mit „Herzlichen Glückwunsch ...“ begann, außer Geburtstagskarten und Werbebriefen, die ihm bestätigten, dass er ein nagelneues Auto gewonnen habe oder eine Butterfahrt nach Helgoland, wenn er eine Heizdecke aus der „Kuschelmuschel“-Kollektion für 300 Euro das Stück bestellte. Der Brief zitterte in seinen Händen, als er ihn wieder und wieder las: „Herzlichen Glückwunsch, Herr Semmler“, stand da, „Sie haben den ersten Preis in unserem Wettbewerb Futurehome gewonnen. Bitte melden Sie sich in den nächsten Tagen bei uns, um die Formalitäten zu klären. Wir benötigen eine Kopie Ihres Personalausweises, eine Bestätigung der Annahme des Gewinns sowie eine Angabe für das Grundstück, auf dem das Gebäude errichtet werden kann. Die Bauzeit beträgt ein halbes Jahr. In dieser Zeit können Sie Ihren Gutschein über 20.000 Euro für die erweiterte Ausrüstung Ihres Futurehome verwenden. Bitte beachten Sie unsere Angebote im Bereich sprachgesteuerte Haussteuerung, Haushaltsroboter und prozessorgesteuerte Küchentechnologie.“ Gerd wurde heiß. Er hatte bei der Sache etwas übersehen: Er hatte kein Grundstück! Das alte Reihenhaus, in dem die Semmlers wohnten, war ein Erbe von Evis Großvater und über siebzig Jahre alt. Es stand auf einem Erbpachtgrundstück. Wo sollte er das Geld für ein Baugrundstück hernehmen? Das bisschen, was sie angespart hatten, reichte gerade für die Urlaube. Das Haus konnte er nicht so einfach verkaufen, denn Gerd hatte sich vorgenommen, Evi und die Kinder mit dem Futurehome zur überraschen. „Gerd, Telefon!“ rief Evi von oben. Gerd versteckte den Brief reflexartig in einer Schublade seines Arbeitstisches. „Ich komme schon!“ Er nahm Evi den Hörer aus der Hand. „Wir essen aber auch gleich!“ ermahnte sie ihn. Gerd nickte abwesend, dann meldete er sich. „Ah, guten Abend Herr Semmler, mein Name ist Tomas Rebstein, ich bin der Marketingleiter der Elektronikwelt. Haben Sie die gute Nachricht schon erhalten?“ „Ja, ich hatte den Brief heute im Postkasten, vielen Dank. Es gibt da nur ein Pro...“ „Herr Semmler, ganz herzlichen Glückwunsch von der Elektronikwelt. Das Futurehome ist das fortschrittlichste Haus auf diesem Planeten, das kann ich Ihnen sagen. Alles computergesteuert, alles vom Handy aus fernbedienbar. Das Handy kriegen Sie auch von uns, gratis, und wir ziehen die Übergabe des Hauses ganz groß auf, Printmedien, Fernsehen, wir haben sogar eine Anfrage von RTL für eine Doku-Soap, also das sollten Sie sich wirklich überlegen. Lohnt sich für Sie.“ Gerd war nicht nur mit dem Wortschwall überfordert, der aus dem Hörer blubberte, sondern vor allem mit der Tatsache, dass die das so groß aufziehen wollten. Fernsehen? Doku-Soap? Das war doch Wahnsinn. „Das ist doch Wahnsinn.“ „Genau Herr Semmler, das ist der absolute Wahnsinn. Sie müssen der glücklichste Mensch der Welt sein im Augenblick. Haben Sie Familie? Die können sich auch freuen, ein Kühlschrank, der selbst Nachschub bestellt, wenn etwas fehlt, für immer kostenfrei telefonieren und von jedem Raum aus Internetzugang, selbstreinigende Bodenbeläge, Solaranlage, Garage für das Elektroauto ...“

      „Ich habe kein Elektroauto.“ Gerd wurde das Ganze jetzt zu viel.

      „Gerd, Essen ist fertig!“ rief Evi aus dem Esszimmer.

      „Herr Semmler, deswegen rufe ich ja an. „Die Firma Futurecar, die auch das Haus konzipiert hat, stellt Ihnen ein werbefinanziertes Elektroauto zur Verfügung! Eine echte Rakete, 200 PS, vier Elektromotoren ...“ „Gerd!“ „Ich komme ja schon! Hören Sie, ich bin ...“ „Sprachlos, natürlich, das verstehe ich sehr gut, Herr Semmler, das ist ja auch eine fantastische Sache. Denken Sie an die Umwelt, das „Solarstream 3000 spart ...“ „GERD! Verdammt, es wird alles kalt!“ „Herr Rebmann, ich muss erst mal über alles nachdenken. Ich melde mich bei Ihnen, ja, oder Sie bei mir, noch besser. Auf Wiederhören.“ Gerd knallte den Hörer in die Ladestation und eilte zum Abendessen.

      „Wer war das?“ fragte Evi und klatschte Gerd einen Apfelpfannkuchen auf den Teller. Charlie spielte mit ihrem Handy und Thorben blätterte in einem Wissenschaftsmagazin. Gerd überlegte fieberhaft. Hatte Rebmann sich bei Evi mit Elektronikwelt gemeldet? Am besten die Wahrheit sagen, natürlich etwas modifiziert. „Das war jemand von Elektronikwelt“, ich habe ein Elektroauto gewonnen.“ Charlie blickte von ihrem Handy auf. „Boah, wie uncool, bist du jetzt der Öko oder was? Die Dinger kann man doch nur zum Einkaufen gebrauchen. Können wir uns zwei Autos überhaupt leisten?“ Thorben sah Gerd interessiert an. „Wie viel KW hat das Fahrzeug denn?“ Gerd seufzte, woher sollte er das wissen? „Zweihundert PS hat der Mann gesagt.“ Thorben nickte und sah beeindruckt aus. Dann widmete er sich wieder dem Artikel über seltsame Teilchen im subatomaren Kontinuum. „Wir haben ein Auto gewonnen? Oh, Gerd, das ist ja fantastisch. Aber diese Elektrodinger sind doch noch gar nicht ausgereift. Und Strom ist teuer.“ Typisch Evi. „Mum, sei doch nicht so ein Dino! Tobias aus meiner Klasse seine Eltern, die beiden Ärzte, die fahren auch einen Tesla-Roadster, voll das geile Teil. Arschschnell!“ Charlies Einstellungen zu Dingen änderten sich schneller als ihre Haarfarbe. „Charlie, fluch nicht, außerdem heißt es nicht „Tobias seine Eltern“, was lernt ihr bloß in Deutsch?“ Gerd hörte nicht zu, sein Gehirn erhitzte sich vom Denken so schnell wie der Pfannkuchen vor ihm abkühlte. Er brauchte ein Grundstück. Vielleicht konnte er sich die 20.000 Euro auszahlen lassen als Anzahlung für ein billiges Baugrundstück in Vögelsheim, da war gerade Baugrund geschaffen worden, nachdem ein Bauer sein Land verkauft hatte. Hatte ihm Walter, sein Rentnerkumpel und bester Freund, der früher in der Stadtverwaltung beschäftigt gewesen war, unter der Hand verraten. Er musste Walter anrufen, am Besten sofort. „Sitzenbleiben!“ brüllte Evi und die Gläser in der Vitrine klirrten. Gerd schlang seinen Pfannkuchen herunter und stand kauend auf. „Muff noch waff im Keller machen.“ „Klar geh nur. Ich stehe stundenlang am Herd und der Herr Familienvater isst wie ein Spatz und verschwindet dann in seinem Reich. So soll es sein.“ Gerd staunte, ironische Bemerkungen war er von Evi nicht gewohnt. Aber sie verhielt sich in letzter Zeit sowieso sehr merkwürdig. „War sehr lecker, ich nehme gern noch einen Pfannkuchen mit runter, Häschen.“ Evi war besänftigt und reichte ihm drei Pfannkuchen auf einem Teller. Gerd pflückte sein antikes Handy aus der Tasche seiner Jacke an der Garderobe und verschwand im Keller. „Walter? Ich brauche deine Hilfe!“

      Drei schlaflose Nächte später klärte sich die Lage für Gerd. Walter hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, dass man ein Grundstück ja nicht unbedingt kaufen müsse. Gerd solle mal mit seiner Bank sprechen wegen eines günstigen Baukredites. Dann hatte er ihm ein kleines, aber günstiges Baugrundstück vermittelt. Leider weit ab von allem. Außerdem stand zu bezweifeln, dass sich dort überhaupt noch weitere Familien oder sonst jemand ansiedeln würde. Der nächste Ort war fast fünf Kilometer entfernt, es war überhaupt ein Wunder, dass die Versorgungsleitungen für das einsame Baugebiet schon verlegt worden waren. Der nächste Anruf Rebmanns von der Elektronikwelt lief wesentlich entspannter ab. Gerd hatte das Gespräch selbst angenommen und war in den Keller geflüchtet. „Herr Semmler, ich wollte noch mal fragen, was mit der Doku-Soap ist. RTL hat nochmal nachgefragt.“ „Ich wollte eigentlich nicht so ein Aufheben um die Sache machen, wissen Sie ...“ „Die zahlen 8.000 Euro pro Sendung, Herr Semmler, 10 Folgen sind geplant. Natürlich nur, wenn Sie und Ihre Familie einverstanden sind.“ „80.000 Euro? Sind die verrückt? Wer guckt sich sowas denn an? Ich meine, wir ziehen in ein neues Haus, das interessiert doch keinen.“

      „Herr Semmler, die Leute vor dem Fernseher lieben es, wenn jemand etwas gewinnt, die können sich dann mitfreuen. Und unter uns: Um Publicity kommen sie sowieso nicht herum. Ganz Deutschland, Europa, eigentlich die ganze Welt interessiert sich für Ihr neues Heim. Weil es einzigartig ist, vollkommen neu ...“

      Bevor Rebmann wieder in sein Marketinggeschwätz verfiel, bremste ihn Gerd. „Jaja, ist in Ordnung, wir machen das so. Ein Grundstück habe ich auch, die Papiere schicke ich Ihnen zu, wenn die Sache in trockenen Tüchern ist. Wann würden die Fernsehfritzen, ich meine die Filmleute denn kommen? Zur Schlüsselübergabe?“

      „Nein, die stehen schon Gewehr bei Fuß, wird ja so eine Vorher-Nachher-Kiste. Ich sage denen Bescheid, dass Sie so weit sind, dann ... Hallo? Hallo Herr Semmler?“ Das Telefonteil piepte, der Akku war leer. „Verdammt, wieso jetzt?“ Gerd hoffte, dass Rebmann nochmal anrufen würde. Doch es passierte gar nichts.

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