Stefan Koenig

Wilde Zeiten - 1970 etc.


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der schönsten Hippie-Mädchen der Welt auf dich, believe me!“

      „Und auf euch!“, hatte Gerd gesagt, aber da hatte Stella lautstark protestiert, denn die beiden gehörten ausschließlich ihr.

      *

      „Obwohl es den Krauses nur gut geht, weil …“ Wir hörten weiter zu, was Rauter ausführte. Na klar, da hatte er absolut recht: BILD ging davon aus, dass Arbeiter und Angestellte nicht fähig sind, einen Betrieb in Gang zu halten, die Produktion und den Vertrieb zu organisieren. „BILD scheint es nicht möglich, dass sie die Kennt­nisse erwerben, die zur Führung eines Betriebes nötig sind.“ Für Springers Herrn Blume schienen die Mitarbeiter allesamt an einem schrecklichen Geburtsfehler zu leiden: der Unfähigkeit, Betriebe zu leiten, was offensichtlich nur Menschen mit einem zusätzlichen Genom vorbehalten war.

      Angenommen aber, die besagte Unfähigkeit wäre kein Geburtsfehler, dann wäre das Privateigentum an Fabriken eine altmodische Schweinerei, meinte Rauter. Wir klatschten. Wir kannten inzwischen einige Betriebe und Redaktionen, die auf konsequente Mitbestimmung der Belegschaften und auf Mitarbeiterführung setzten. Sie funktionierten einwandfrei. Außerdem funktionierte das bewährte gewerkschaftliche Genossenschaftskonzept von Wohnungsbaugesellschaften und Konsumgenossenschaften seit immerhin drei Jahrzehnten.

      Die „Einheit“ von Unternehmern und Arbeitern kann man für biologisch bedingt halten oder für das Ergebnis von Gewalt, so Rauter. Dass diese „Einheit“ zu „gegenseitigem Nutzen“ ausschlägt, habe BILD-Redakteur Blume vorausgesetzt, als sei die Sache so sicher wie der nächste Sonnenaufgang. Der BILD-Redakteur sagt – und viele sagen es unbedacht mit ihm –, den Krauses gehe es gut. Was passiert, wenn es einem „gutgeht“? Was ist das – „gutgehen?“, fragte Rauter. Wir waren auf seine Antwort gespannt.

      Er griff auf die jüngste Vergangenheit zurück: „Im Frühjahr 1948 ging es demjenigen gut, der so viel Brot und Margarine hatte, dass er davon satt wurde; eine Kanne Bohnenkaffee kam einer Orgie nahe. Heute kann der Besitz eines gebrauchten Kleinwagens ein Beweis dafür sein, dass es dessen Besitzer schlecht geht.

      Ob es einem gutgeht oder schlecht, hängt davon ab, welche Bedürfnisse man hat und wie sie befriedigt werden. Die Bedürfnisse aber hängen davon ab, was die Mitglieder einer Gesellschaft insgesamt produzieren. Der gesamtgesellschaftliche Reichtum bestimmt, was Bedürfnis ist und was nur Wunsch oder Luxus. Ein Mangel wird umso unerträglicher, je leichter ihm abzuhelfen ist. Je leichter ein Wunsch erfüllt werden kann, desto eher wird er zum Bedürfnis.“

      Ich dachte in diesem Moment an das Bedürfnis von Karin und mir und vieler unserer Freunde: Reisen, frei und unabhängig sein, und – zumindest für einige Zeit – ein Hippiedasein führen, bunt, mit internationalen Begegnungen und Freundschaften, mit grenzenloser Liebe und durchlässigen Grenzen. Das musste doch möglich sein. Die Umstände waren doch günstig, günstig wie nie zuvor!

      Später, als unsere WG über Rauters Thesen diskutierte, führte Rolf ein Beispiel an. Vor einigen Jahren gab es in New York einen Streik der Zeitungsdrucker. Mehrere Wochen lang gab es keine New Yorker Zeitungen. Der Ausfall von Anzeigen-Einnahmen für die Zeitungsbesitzer war beträchtlich. Aber die Kaufleute, die nicht inserieren konnten, klagten über einen viel größeren Umsatzrückgang, der in die Milliarden Dollar ging.

      „Das“, so meinte Rolf, „lässt nur einen Schluss zu: dass die Unternehmer an den Bedürfnissen vorbeiproduzieren und dann die Bedürfnisse durch Gehirnwäsche manipulieren!“

      „Und die Gehirnwäsche zahlen auch noch wir, die Verbraucher!“, ergänzte Tommi. „Wo Millionen von Menschen bei uns keine ihren Bedürfnissen entsprechende Wohnung finden, ist der Milliardenaufwand für Zigaretten- und Schnapsreklame ein menschenfeindlicher Akt. Welche Einheit wäre hier zu spalten zwischen Johnny Walker und Krause?“

      „Der Zigarettenreklame fällst du aber täglich selbst zum Opfer“, sagte Karin.

      Tommi setzte gerade zu einer Entgegnung an, als Richy ihn stoppte und sagte: „Lasst uns doch lieber noch ein paar Beispiele aufspüren, wo deutlich wird, dass es sich oft nur um eine Pseudo-Einheit, eine ideologisch herbeigeredete »Einheit« handelt.“

      Karin schnalzte erst mit der Zunge, dann mit den Fingern. „Hey, welche Einheit besteht zwischen Unternehmern und den neun Millionen Bundesbürgern, die von einem Einkommen leben müssen, das nicht höher ist als der Sozialfürsorgesatz – obwohl sie viele Jahre ihres Lebens durch ihre Arbeit den Reichtum von Unternehmern vergrößert haben?“

      „Ich kenne auch ein Zahl aus l’Allemagne“, sagte Jean-Francois. „Welch Einheit bestähet zwischen Fabrikchefs und sieben Millionen Arbeitern, die für sich und la famille weniger als tausend Mark im Monat haben zu leben? – Ist das nicht gute Frage?“

      Karin nickte ihm bestätigend zu und sagte: „Welche Einheit wäre in den Jahren 1966/67 wert gewesen, dass man sie pflege, als Unternehmer eine dreiviertel Million Abhängiger entließen?“

      „Welche Einheit zwischen Grünenthal und »Contergan-Kindern«?“, fragte Rosi.

      Ich merkte Richy an, dass ihm noch ein Beispiel auf der Zunge lag und sagte zu ihm: „Na, dann schieß doch schon los!“

      „Ja, es geht ums Schießen. Die letzten beiden Weltkriege wären ohne die aktive Beteiligung der Konzernchefs nicht möglich gewesen. Die Machtergreifung Hitlers wäre ohne die finanzielle und publizistische Unterstützung der Großindustriellen nicht möglich gewesen. Beide Kriege kosteten weit über 60 Millionen »Arbeitnehmern« das Leben. Die Großindustriellen überlebten. Welche Einheit gibt es zwischen den Toten, ihren Hinterbliebenen und den Kriegsgewinnlern?“

      Ich versuchte mich mit einem Schlusswort: „Welche Einheit gibt es zwischen dem BILD-Redakteur Blume und seinem Chef, dem Besitzer eines Schlosses und vieler Villen im In- und Ausland, für dessen Profit der arme Blume solchen Unsinn schreibt?“

      Aber das echte Schlusswort, gerichtet an den armen Herrn Blume, hatte uns an jenem Abend E.A. Rauter mit auf den Weg gegeben: „Ja, ja spalten! Spalten, Blume! Nicht Ulbricht zuliebe. Dir zuliebe und den Krauses!“

      Auch an diesem Abend übten Karin und ich uns in Sachen Einheit – und wie wir erstaunlich laut im Nebenzimmer hörten, auch Rosi und Tommi. Wir liebten diese Einheit und waren überzeugt, dass es viel mehr echter Einheit bedurfte, um die Welt in ihrer vielfältigen Kultur friedlicher zu machen.

      Am nächsten Tag erreichte mich ein Brief meiner Mutter: „Lieber Bub, ich will nicht wieder davon schreiben, was mir am Herzen liegt, über deine Zukunft. Ich weiß, du kannst oder willst es nicht mehr hören. Deshalb lasse ich es und setze auf deinen Reifungsprozess. In der Jugend macht man nun mal viele Fehler. Das ist ganz normal. Auch deine immer radikalere Politikeinstellung wird sich gewiss normalisieren. Was ich dir aber hauptsächlich berichten wollte, ist die Sache mit unserem Familienwappen, also seitens meiner Familie, den Arnolds. Ich habe dir ein Foto davon abziehen lassen und hoffe, dass es unzerknittert mit diesem Brief angekommen ist.“

      Das Wappen bestand aus einer rundum verschnörkelten Krone mit einem Löwen und Eichenblättern drum rum mit drei dominierenden Farben: blau-weiß-rot. Den ursprünglichen Text dazu hatte mein Bruder Günter als gelernter Schriftsetzer in einer passend-geschnörkelten neuen, gut lesbaren Schriftart gesetzt und als Erläuterung umgearbeitet:

       Das Wappen der Familie Arnold wurde im Jahre 1889 Großvater und Großmutter Karl und Wilhelmina Arnold von Leuchtmannshof von König Karl von Württemberg für ihre Dienste und Hingabe für Kronprinz Wilhelm (dem späteren König Wilhelm II. von Württemberg) verliehen. Der Leuchtmannshof war das Hauptquartier von Kronprinz Wilhelm, das er als militärische Unterkunft für sich und eine seiner Armeen auswählte.

      Lollo hatte mir schon früher davon erzählt, konnte sich aber nicht erinnern, aus welchem Anlass das Hof­gut ihrer Eltern damals militärisch genutzt wurde. Sie wusste nur, dass Wilhelm II. seinen Bürgern als beliebter und volksnaher König galt. „War der kein Arschloch?“, hatte ich gefragt.

      „Aber Stefan! Dieser Ausdruck! Das möchte ich nicht mehr hören. Also, am Hoftheater wurden Stücke