„Revisionisten-Geschwafel!“, sagte Karin und wedelte mit der neuesten Ausgabe der Peking Rundschau herum. „Hier steht schwarz auf weiß, was der Große Vorsitzende Mao dazu sagt: Den Marxismus und nicht den Revisionismus praktizieren; sich zusammenschließen und nicht Spaltertätigkeit betreiben; offen und ehrlich sein und sich nicht mit Verschwörungen und Ränken befassen!“
„Na, dann merk dir das mal, Genossin Karin: Nicht Spaltertätigkeit betreiben!“, sagte Richy und verschwand schmunzelnd in seinem kleinen, anspruchslosen Zimmer, das kein Plakat und nur eine Stechpalme schmückte.
Ich mischte mich in solche Zoffereien ungern ein; mich belustigte es eher. Irgendwie nahm ich meiner Liebsten sowieso nicht ab, was da an blumig-chinesischen Worten über ihre wundervollen Lippen purzelte. Für mich war das eine aufgesetzte Show. Sie wollte sich behaupten, wollte sich einen besonderen Stellenwert im Kreis von uns politisierten Männern erkämpfen, wollte sich Achtung durch eine ausgefallene Politposition verschaffen.
Zeitweise hatte sie sich in Frankfurt für den Weiberrat interessiert. Das waren die weiblichen SDS-Mitglieder; wenn nicht Mitglieder, so waren es doch zumindest SDS-affine Mädels, die den publicitygeilen SDS-Jungs nicht nachstehen wollten. Auch bemängelten sie das noch tief verwurzelte Mackertum im jungen Blut der Jungrevolutionäre. Die Frankfurter Machos im Sozialistischen Deutschen Studentenbund rund um Hans-Jürgen Krahl, Cohn-Bendit, die Brüder Wolff und Günter Amendt dominierten tatsächlich das politische Geschehen und die Presse. Und sie gaben vor, auch im Namen der Frauen zu sprechen, denn eine eigenständige Frauenbewegung existierte noch nicht so recht.
Aber Karin war total eigensinnig und ließ nur ihren eigenen Weg gelten; alles, was nach deutscher Normalität roch, war ihr suspekt. Dazu gehörten die organisierten Studenten, die gewerkschaftlich engagierten Sozialisten und alle SPDler, DKPler und alle K-Gruppen außer natürlich der maoistischen KPD/ML. Aber auch dort mochte sie sich nicht organisieren, sondern sprach nur unablässig davon, wie wichtig eine revolutionäre Organisation sei. „Die Arbeiterklasse braucht eine revolutionäre Vorhut“, war eine ihrer Standardaussagen.
„Aber wofür braucht der revolutionäre Mann überhaupt eine Vorhaut?“, fragt Tommi. Wenn Tommi ihr mit solchen Scherzen in die maoistische Parade fuhr, konnte sie lächelnd über seinen Einwand hinweggehen. Bei mir aber konnte sie in solchen Situationen höllisch explodieren. Dem konnte ich nur Einhalt gebieten, indem ich mich entwaffnend auszog und mich ergab. Ab da wurde das explosive Spiel erst interessant und ich spürte, wie sich Karins Verbissenheit im Liebesspiel in kleinen Liebesbissen auflöste.
*
Ohjessesmaria, der für seine außerirdischen Liebeleien und Geheimwissenschaften bekannte schweizerische Erfolgsautor Erich von Däniken wurde vom Kantonsgericht in Chur wegen Betrugs und Urkundenfälschung zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Meine Mutter konnte es nicht glauben, sie liebte zwar vornehmlich die Romane von Johannes Mario Simmel, hatte jedoch seit Ottos letztem Weihnachtsgeschenk neu zu Dänikens Geheimwissenschaften gefunden. Erinnerungen an die Zukunft hieß sein Buch. Da fragte er zum Beispiel, ob Gott von der Zeit abhängig und ob die Bundeslade von Moses elektrisch geladen war. Seiner Meinung nach war die Sintflut vorausgeplant, außerdem paarten sich die Götter und die Menschen sehr gerne. Das war für ihn klar wie Kloßbrühe.
Ein paar Tage später, Mitte Februar, gab es eine weitere Gerichtsmeldung. Eine im Jahr 1896 geborene Anna Anderson, verheiratete Anastasia Manahan, verlor vor dem Bundesgerichtshof in letzter Instanz ihren Prozess um Anerkennung als Zarentochter Anastasia, der jüngsten Tochter des letzten russischen Zaren.
Und noch einen Tag später legte US-Präsident Richard Nixon dem Kongress seine außenpolitische Doktrin für die 1970er Jahre vor. Danach sollten die USA ihre Rolle als Weltpolizei aufgeben. „Da lachen ja die Hühner“, meinte Rolf. „Wenn das so kommt, dann fress‘ ich einen Besen!“
„Das kommt so!“, sagte Karin. „Hier steht schon mal der Besen.“ Sie deutete in die Flur-Ecke hinter der Garderobe, wobei wir alle sofort ein schlechtes Gewissen bekamen, weil wir immer noch nicht geklärt hatten, wer als nächstes mit dem Kehren von Küche, Bad und Flur dran war. „Ich sag euch: Das kommt wirklich so! Der US-Imperialismus geht seinem Ende entgegen.“
„Wenn das nicht mal wieder eine dieser maoistischen Fehleinschätzungen ist“, antwortete Rolf.
„Das ist keine Fehleinschätzung, weil Nixon sonst seine NATO-Verbündeten nicht auffordern würde, mehr eigene Verantwortung zu übernehmen. Das ist das Eingeständnis, dass Amerika am Ende ist!“
„Quatsch mit Soße“, sagte ich. „Das heißt nur, dass wir und die anderen US-Vasallen mehr in die NATO-Aufrüstung stecken sollen. Denk doch mal nach! Wir sollen bei den Amis mehr Panzer und Bomber kaufen. Darum geht es Nixon, schön verklausuliert als »mehr eigene Verantwortung übernehmen!« Klingt gut und lässt bei Amerikas Rüstungsindustrie die Kassen klingeln.“ Mir war klar, dass Nixon den Krieg im Fernen Osten mit europäischem fresh money ausweiten wollte.
Fast hätte mir Karin die Augen ausgekratzt. Sie saß da wie ein Panther auf dem Sprung. Aber sie hielt die Klappe. Zehn Minuten später legte sie mich im Bett flach und machte mich auf diese Weise mundtot.
Am nächsten Morgen plauderte Frankholz aus seinem historischen Nähstübchen und legte uns die originalfranzösische Sicht der Dinge zum Maiaufstand 1968 in Paris dar. Im Speziellen ging es um Daniel Cohn-Bendit, den Roten Dany. Das interessierte zwar keinen mehr, da es aus unserer Sicht schon eine Ewigkeit, nämlich zwei Jahre, her war. Doch Jean-Francois plauderte munter drauflos.
„Ich glaube, Dany le Rouge, also glaube ich, war deutscher Anarchist in unser Lande, um die Sozialismus zu stoppen. Hat so viel Wirrzeug gemacht, alles durcheinander und nix auf die Beine gebracht, was könnte bleiben. Nur kaputt machen ist doch kein … wie sagt man … Concepion …“
„Konzept“, sagte ich und goss mir die warme Milch über die Haferflocken. Die mussten erst zirka drei Minuten aufquellen, aber nicht zu viel, dann kam das kleingeschnippelte Obst obendrauf. Das war das Konzept für mein Rezept.
„Hoch die internationale Solidarität!“, rief Rolf.
Richy und ich mussten lachen. Frankholz grinste und reckte die Faust hoch. Auch Karins Mao-Fäustchen mit den lila lackierten Fingernägeln flog hoch; sie musste sich beeilen, die Schule rief, und sie verließ uns hastig, wie immer etwas zu spät für den pünktlichen Unterrichtsbeginn. Aber als revolutionäre Abiturientin mit Plateau-Schuhen konnte man sich das offenbar irgendwie leisten.
Und was kam nach dem Frühstück? Das obligatorische »Rettchen«. Es war wirklich so, auch an diesem Morgen; Rauchen war wie ein stilles Übereinkommen, eine Geheimsprache, die signalisierte: Ich bin gelassen und bin so frei, so zu sein, wie ich bin.
„Brav macht ihr das; ihr verhaltet euch so, genau wie es sich die Zigarettenindustrie wünscht“, sagte Richy.
„Was wünscht die sich denn?“, fragte Rolf zurück.
„Na, genau solch eine Haltung, wie ihr sie an den Tag legt: Wir sind immer entspannt. Hippie happy. Uns regt nichts auf. Wir sind so cool. Wir sind die Cowboys, die ohne zu schwitzen die Rinder einfangen.“
Da hatte er Recht; diese Haltung wurde von der Tabakindustrie, wenn nicht initiiert, so doch kultiviert. Die Zigarettenwerbung verknüpfte Rauchen mit unbändiger Freiheit, mit Cowboys und Abenteuer. Ich, als geborener Nichtraucher, hatte mich oft einem rauchigen Gruppenzwang ausgesetzt gefühlt. Aber wie beim Saufen und Kiffen hatte ich heldenhaft widerstanden, einsam, aber zufrieden.
In unserer WG stand ich nun nicht mehr einsam auf verlorenem Posten, wenn sich alle anderen der Lässigkeit des qualmenden Abenteuers auslieferten. Raucher und Nichtraucher respektierten sich. Es gab keine Eklats, weil ausreichend gelüftet wurde und sich die Raucher an die Paragraphen an der Pinnwand hielten. Es tat niemandem einen Abbruch.
Beim Kiffen allerdings tat sich was. Die ausgestoßenen Inhalationsdünste schienen noch genug THC zu enthalten, um mich lockerer und wesentlich lustiger werden zu lassen, als die Direktkonsumenten selbst je wurden. Offenbar war ich sehr