Stefan Koenig

Wilde Zeiten - 1970 etc.


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erst in der Realschule und nach mittlerer Reife und dem Wechsel ins Gymnasium als Mitarbeiter der Oberstufenzeitung.

      „Und wie ging es nach dem Abitur weiter?“

      Ich weiß nicht, ob Röhl bemerkte, wie mir das Blut aus dem Kopf wich, aber mit dieser Fragestellung, in der das Abitur versteckt war, hatte ich dummerweise überhaupt nicht gerechnet.

      Sollte meine journalistische Karriere so jämmerlich am Anfang scheitern? Nur weil ich drei Monate vor dem Abi aus politischen Gründen (Kein Mensch muss zertifiziert werden!) hingeschmissen hatte? Nur weil ich im Solidaritätsverband zur Unterstützung des vietnamesischen Freiheitskampfes praktische Solidarität und nicht nur hohle Abitur-Worte zu meiner politischen Daseinsdevise gemacht hatte? Ich ging auf die Sache mit dem Abi nicht ein, berichtete aber ausgiebig über all die Solidaritätsaktionen für Vietnam und legte ihm meine mitgebrachten Schülerzeitungs-Artikel vor. Das war zwar ein Ausweichmanöver und nicht gelogen, aber auch nicht ganz aufrichtig.

      „Wenn Sie finanziell durch Ihre Arbeit beim Solidaritätsverband abgesichert sind, dann können wir es ja mit einem ersten Honorarauftrag versuchen. Ob es später mehr wird, werden wir sehen. Trauen Sie sich zu, über die erste Pornomesse in Kopenhagen zu berichten. Wir zahlen Ihnen die Reisekosten und wenn der Artikel gelungen ist, dann landet eine Pauschale von 350 Mark auf Ihrem Konto.“

      Ich schaute in die lachende Runde meiner WG-Mitbewohner. „Was lacht ihr da so hämisch?“, wollte ich wissen. Natürlich wusste ich, weshalb sie lachten. Statt knallharter solider politisch-kultureller Berichterstattung sollte ich von einem Nebenfeld der gesellschaftlichen Umwälzung berichten. Das war wahrlich kein heldenhafter Erstauftrag. Aber war das überhaupt ein Nebenfeld? Das war gegenwärtig doch schon sehr prägend.

      „Ich habe das angenommen, weil es immerhin ein Einstieg war“, sagte ich. „Und außerdem gehört das Thema in einen Zusammenhang mit der sexuellen Revolution, die Bestandteil unseres Befreiungskampfes im eigenen Land ist.“

      „Schon gut“, sagte Tommi und lächelte ein klein wenig zu mild und viel zu süffisant. „Brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Kam denn was dabei heraus?“

      „Ja. Ein halbseitiger Artikel mit Foto einer Pornodarstellerin, die Reisekosten und die Knete.“

      Karin meinte mich in Schutz nehmen zu müssen und sagte: „Es ist ja echt unter aller Sau, dass man heutzutage in unserem immer noch sexuell verklemmten Land offiziell keine Pornohefte erwerben darf. Wer Bedarf an solchen Dingen hat, kann sich das nur illegal als Schubladenware besorgen. Das ist doch einer mündigen Gesellschaft unwürdig. Und ist man schließlich irgendwie an ein Heftchen gekommen, dann hält man womöglich ein Pornoheft in der Hand, das mit einem Tiefkühlfleisch-Transporter aus Dänemark eingeschmuggelt wurde.“

      „Genau das habe ich in meinem Artikel auch beschrieben. Das war eine beliebte Schmuggelmethode. In Dänemark waren Pornos nämlich schon seit 1967 frei erhältlich, auch für Jugendliche ab sechzehn Jahren. Und die Kopenhagener Messe war halt Ausdruck dieser sexuellen Freizügigkeit.“

      Rolf ging in seine Bude und legte den neuesten Hit „Down On The Corner“ von Creedence Clearwater Revivival auf, und wir klopften unterm Abendbrottisch mit den Füßen im Takt:

      „Früh am Abend/ Gerade um die Essenszeit/ Drüben beim Gerichtsgebäude/ Fangen sie schon an aufzubauen/ Vier Kinder an der Ecke/ Versuchen, dich aufzuheitern/ Willy sucht 'ne Melodie raus und spielt sie auf der Harfe/ Unten an der Ecke/ Draußen auf der Straße/ Spielen Willy and the poorboys/ Spende fünf Cent und klopf mit den Füßen im Takt.

      Ein paar Tage später gab mir Rolf einen ausgeschnittenen Artikel von Springers Berliner Morgenpost zu lesen. Da stand etwas zur Neugründung der Deutschen Sex-Partei: „Nationalen und anderen Rechts-Gläubigen biederten sich die Sexualdemokraten mit dem Rückgriff auf ein gängiges Wahlkampfthema an: »Wir wollen keine Langmähnigen als Mitglieder, unsere Leute sind Typen in guten Anzügen«. Innenpolitisch hielt sich die Gründungsversammlung an bewährte Vorbilder; die Journalistenfrage: »Was sagt Ihre Partei zur Wiedervereinigung?« blieb unbeantwortet.“

      Im Gegensatz zu den anderen parlamentarischen Parteien legte der DSP-Parteigründer die Zusammenhänge von Politik und Geschäft recht offen dar. Im Nebenberuf Herausgeber und Redakteur des Lust-Blättchens St.-Pauli-Zeitung, ließ Driessen die Parteiversammlung recht bald zu einer PR-Veranstaltung für sein erotisierendes Periodikum geraten. Den Fotografen der konkurrierenden St-Pauli-Nachrichten warf er hinaus, noch bevor er tiefsinnige Reflexionen über den Sinngehalt seines selbst entworfenen Parteisymbols absonderte: „Der Betrachter mag darin ein Fruchtbarkeitssymbol sehen oder eine Träne als Zeichen der Trauer über unsere lustfeindliche Umwelt. Sache der Sex-Partei wird es sein, eine Freudenträne daraus zu machen!“

      In unserem Gemeinschaftsbad hatte sich Rosi mit ihren Make-up-Utensilien ganz gut ausgebreitet. Jetzt fiel mir auf unserem Schmökertisch neben dem Stapel unserer Kloliteratur, den Micky-Maus-Heften, dem stern, der Satirezeitschrift Pardon, der konkret und dem bürgerlich-kritischen Spiegel, eine ausgeschnittene Anzeige ins Auge.

      „Jeder kennt dieses Problem: Besonders bei körperlicher und nervlicher Anspannung entstehen in intimen Körperbereichen Sekrete, die das Gefühl der Frische beeinträchtigen.“

      Mann oh Mann, war das vornehm ausgedrückt. Andere würden sagen, man schwitzt und stinkt!

      Und worin lag nun die Lösung dieses schier kopfzerbrechenden Problems?

      Na klar, diese „natürliche, aber lästige Begleiterscheinung beseitigt Camelia-Spray nachhaltig und auf angenehme Weise. Mit Camelia-Spray fühlen Sie sich frisch und unbekümmert – jeden Tag …“

      Und wer war wieder mal auf so’ne Werbung reingefallen, statt sich zu waschen? Unsere Rosi. Sie hatte gleich sieben Spraydosen gekauft, für jeden von uns eine, und alles aus unserer Gemeinschaftskasse. Richy war der erste, der es monierte, dann beschwerten sich auch noch Rolf, Frankholz und ich – nur unsere zwei hübschen Vorzeigefrauen hielten zusammen und lobten das Spray in höchstkapitalistischen Werbetönen. Tommi hielt sich diplomatisch zurück, als Rosi das Wort ergriff: „Gerade euch Typen tut das Spray gut, ihr schwitzt viel mehr als wir und ihr riecht dann ziemlich schnell ziemlich streng.“ Rosi sah uns mitleidig an.

      Karin, eingepfercht in einen extra für sie angefertigten Mao-Anzug, nickte zustimmend, als hätte auch der Große Vorsitzende uns das Spray in der Vierten Direktive des Fünften Parteitags zum Dreißigsten Jubiläum der glorreichen Volksbefreiungsarmee empfohlen. Na ja, was hatten die Studenten noch vor wenigen Monaten auf Westberlins Straßen außer Ho-Ho-Ho-Chi-Minh gerufen? Genau das: Kapitalismus führt zum Faschismus – Kapitalismus muss weg! Und jetzt dieses Camelia-Spray!

      Was dringend einer Lösung bedurfte, war der Zigarettengestank in der WG. Rolf, der werktags im Steuerbüro eines Herrn Elmar Tanner arbeitete, rauchte Gauloises; auch sein Chef, ein offensichtlich wichtiger CDU-Mann, war Gauloises-Raucher – und dass ihm einige Jahre später im Zuge eines Westberliner CDU- und Regierungsskandals der Kopf rauchen und er in monatelanger Untersuchungshaft sitzen würde, ahnten wir damals natürlich nicht. Aber suspekt war mir schon, was Rolf hin und wieder von seinem Chef, vom Steuerbüro und allerlei merkwürdigen Besuchen berichtete.

      Tommi und Rosi waren typische Gelegenheitsraucher und rauchten dann das, was ihnen eben in die Finger kam; Frankholz, der Originalfranzose, rauchte Pfeife mit dem gallischen Gauloises-Tabak, „weil das Tabak ist so schön stark, weißt du, weil gute Sorte und schmeckt so schön intensiv, weil durch das Maispapier. Ist nämlich Tabak in Maispapier gedreht, weißt du.“

      An jeder Ecke hingen Zigaretten- und Kaugummiautomaten. Und rund um den Kudamm gab es eine Menge Tabakgeschäfte, in denen Jean-Francois seinen Stopftabak kaufte. Wie er mir einmal erklärte, hatte die Maispapiervariante die Eigenschaft, dass die Gauloises ausging, wenn nicht regelmäßig an ihr gezogen wurde. Sie kam damit der lange Zeit in Frankreich üblichen Angewohnheit, die Zigarette einfach im Mundwinkel hängen zu lassen, entgegen. Sie prägte den Typ vom Bilderbuchfranzosen mit der Zigarette im Mundwinkel. Aber in diesem Punkt scherte sich Frankholz nicht ums Stereotyp.