Stefan Koenig

Wilde Zeiten - 1970 etc.


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Quiny kam, um ihre Sachen abzuholen, war Rolf tatsächlich unterwegs. Wolle wartete diskret unten in seinem VW-Bulli. Ich half Quiny beim Runtertragen und setzte mich noch eine Weile zu den beiden in den Bus, nachdem Wolle um die Ecke gefahren war, falls Rolf vorzeitig zurückkommen würde. Aus Wolles Transistorradio lief „Goodbye Ruby Tuesday“ von den Rolling Stones:

       Es ist keine Zeit zu verlieren,/ hörte ich sie sagen./Erfülle deine Träume, bevor sie entschwinden./ Die ganze Zeit sterben./Deine Träume verlieren./Und du wirst den Verstand verlieren./Ist das Leben nicht lieblos?/Lebwohl, Ruby Tuesday,/wer könnte dir einen Namen geben,/ wenn du dich veränderst mit jedem neuen Tag?/ Ich vermisse dich immer noch.

      Gerade in diesem Moment sahen wir Rolf weit vorn zum Hauseingang unserer WG schleichen. Man sah ihm an, dass er etwas vermisste, was ihn sichtlich bedrückte. Kurz vor ihm schlich in seiner etwas schäbigen Hochwasser-Hose ein anderer Schleicher, der unscheinbare Eigentümer der Clausewitzstraße 2, unser Vermieter, Herr Brat. Erst kurz vor Weihnachten hatte er mir im Zusammenhang mit dem Selbstmord meines früheren Grundschulkameraden Joschi, der wie er Mitglied der Jüdischen Gemeinde von Westberlin war, seine eigene Leidensgeschichte erzählt. Und dass sein millionenschweres Immobilien-Erbe all das nicht wettmachen könne, was sich nachts in seinen Albträumen abspiele.

      Er schien sehr großes Vertrauen in mich zu setzen, weil er mir sein hartes, grobes Äußeres im Kern als Ausdruck seiner inneren Zerbrechlichkeit offenbarte. Ohne es bei ihm auszusprechen und ohne es jemals bei meinen Mitbewohnern anzusprechen, interpretierte ich es so: Ich hatte eine Art Nervenzusammenbruch dieses alten Mannes miterlebt. Seine harte Hand, seine dauernde juristische Peitsche gegen seine Mieter waren Ausdruck einer völligen Zerrissenheit und Projektion all seiner Ängste, vielleicht auch seines Eigenhasses.

      Sein karges einsames Leben erhielt für ihn offenbar nur Sinn durch ein gnadenloses Regiment gegenüber den von ihm Abhängigen. Denn wann immer ich zu ihm kam, klagte er darüber, gegen wen und warum er schon wieder Klage einreichen müsse. Klagen bestimmten sein Leben. Später erinnerte es mich ein wenig an die Aggressionspolitik der verschiedenen israelischen Regierungen gegenüber den von ihr abhängigen Palästinensern. Es mochte ein schiefer Vergleich sein – aber so dachte ich eben.

      Ich tippte Wolle auf die Schulter. „Wollt ihr wirklich nach Spanien abzwitschern und ein Hippieleben führen? Job aufgeben und so?“

      „Wir waren eben im Reisebüro am Kudamm, Ecke Olivaer Platz, und haben uns erkundigt. Das wird toll, glaub mir. Aber wir brauchen kein Reisebüro, um unseren Traum zu verwirklichen. Wir brauchten nur den Prospekt. Wir reisen selbst“, sagte Wolle.

      „Wie kamt ihr darauf?“

      Quiny sah mich verschmitzt an. „Das war meine Idee. Weißt du, Kara, im November hatte ich mit Rolf einen Streit, der sich über eine Woche lang hinzog. Eines Tages ging ich bummeln, um etwas Abstand zu gewinnen. Da stand ich plötzlich vor dem Schaufenster dieses Reisebüros. Ein übergroßes Plakat sprang mir ins Auge. Es zeigte vor einer uralten steinernen Windmühle ein lebensgroßes blondes Hippiemädchen im Bikini mit einem durchsichtigen Wickelröckchen, Blumenkränzchen im Haar, bunte Arm- und Fußbänder und im Hintergrund das blaugrüne Mittelmeer. Da standen nur drei Worte: Komm nach Torremolinos!

      Sie war weiter gegangen und ahnte nicht, dass diese erste Begegnung mit Torremolinos das Besondere jenes düsteren November-Bummels war. Doch wieder bei Rolf und seinem Gezeter wegen irgendwelcher Nichtigkeiten angekommen, flüchtete sie sich in ihre Phantasie und sah sich im Sonnenlicht neben einer Windmühle in Spanien stehen. „Anfangs erweckte dieses Traumbild noch keine starke Sehnsucht in mir, lediglich ein paar Überlegungen: Wie sah es dort wohl genau aus? Wie groß war die Stadt? Wo lag sie genau und gab es da viele Hippies?“

      Als Quiny in unserem Gemeinschaftsraum den Weltatlas aus dem Regal nahm, fand sie jedoch kein Torremolinos auf der Spanienkarte.

      „Rolf wollte ich nicht fragen, denn ich hatte vor, mal ohne ihn für eine Weile wegzufahren. Das wusste er aber damals noch nicht. Torremolinos wird sehr klein sein, dachte ich! Nachdem mich der Gedanke an Spanien auch noch in der darauffolgenden Woche verfolgte, nahm ich mir vor, mich näher zu erkundigen.“

      Am Montag nach dem dritten Advent hatte sie dann das Reisebüro betreten und ging auf die Mittdreißigerin hinter dem Beratungstresen zu. Sie war drahtig, brünett, ziemlich klein und schien keine Berlinerin zu sein, denn beim Sprechen stolperte sie eher über einen spitzen Stein.

      „Das Plakat mit Torremolinos … also, das …, also ist das was?“

      „Ich kann ihnen Spanien wärmstens empfehlen“, sagte die Brünette. „Ich war selbst schon dort. Torremolinos ist ein Paradies für jugendliche Paradiesvögel.“ Quiny hatte sich auch die vielen anderen Plakate hinter dem Tresen angeschaut, wo es hieß: Neckermann fliegt Sie ins sonnige Italien. Daneben lockte ein türkisfarbenes Plakat mit der Aufschrift: Griechenland – ein sonniger Traum geht in Erfüllung. In den Reisebüros Westberlins, das ein abgeschiedenes Inseldasein führte, war der unkomplizierte Flug in die Sonne die gängigste und beliebteste Ware, auch wenn das Fliegen noch teuer war. Berliner traf man überall, wo auch immer man Urlaub machte.

      „Sagt mir rechtzeitig, wann ihr losfahrt. Lasst uns Kontakt halten; vielleicht besuchen Karin und ich euch in Torremolinos.“

      „Klaro“, sagte Wolle.

      Quiny drückte mich. „Ich halte dich auf dem Laufenden. Nur sag bitte Rolf nichts von unseren Plänen. Man muss ihm ja nicht unnötig Schmerz zufügen.“

      *

      Zu all den neunmalklugen Neuparteien gesellte sich Ende Januar eine superneue Partei mit dem Kürzel DSP, das war die Deutsche Sex-Partei. Sie konstituierte sich sinniger Weise in der Hamburger Gaststätte Justizhof. Deutschlands meistpropagierter Industriezweig sollte endlich seine parlamentarische Lobby bekommen. Ihr Ziel war es, „die geschäftsmäßigen Interessen derjenigen Leute zu vertreten, die sich für die Lust einsetzen.“ Mit dem für Vereins-, Partei- und ähnlichen Gründungen nötigen Bierernst lieferte der sechsunddreißigjährige Parteiboss Joachim Driessen einen historischen Abriss jener Bewegung, als deren vorläufigen Höhepunkt die DSP sich gern begriff.

      „Ich sag nur: Trau keinem über Dreißig!“, rief Karin in die abendliche Essensrunde.

      Unter dem Parteisymbol – einem goldenen Tropfen auf schwarz-rotem Grund – lieferte der Polit-Neuling mit dem Erscheinungsbild eines arbeitslosen Pastors ein Parteiprogramm der Öffnung nach rechts und links: Mehr Porno-Importe aus Skandinavien, Abbruch der diplomatischen Beziehungen zum Vatikanstaat und Schaffung einer „befriedigten Gesellschaft“.

      Richy war mit Kochen dran, und so gab es heute Abend eines seiner Standardgerichte, wahrscheinlich weil es so einfach und billig war: Bauchfleisch mit Sauerkraut und Salzkartoffeln. Nebenbei musste ich von meinem ersten journalistischen Honorar-Auftrag für die politische Kulturzeitschrift „konkret“ berichten, den ich Mitte Oktober des Vorjahres vom Chefredakteur Klaus Rainer Röhl erhalten hatte. Das hatte wohl auch etwas mit Bauchfleisch zu tun. Ich sollte nämlich von der ersten in Europa stattfindenden Pornomesse berichten.

      Damals im Oktober hatte ich nach zahlreichen telefonischen Vorkontakten die Redaktion in der Hamburger Gerhofstraße 40 besucht. Ich war dort schon einmal im Februar bei Ulrike Meinhof, der Chefkolumnistin, vorstellig geworden, erfolglos. Jetzt hoffte ich auf einen Durchbruch. Röhl war für mich, den antiautoritären Revoluzzer, eine unbestreitbare journalistische Autorität. Aber als ich ihn so in seinem Büro sitzen sah, mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem großen Eichen-Schreibtisch, freundlich lächelnd, in der Rechten eine dicke Zigarre à la Che, da atmete ich erleichtert auf. Er ist zwar eine absolute Respektperson, aber er ist auch locker drauf, dachte ich. Hier konnte ich wohl offen sein und angstfrei meine Bewerbung als zukünftiger Journalist loswerden.

      „Na, junger Mann, dann schießen Sie mal los. Was haben Sie denn bisher so gemacht außer Schule?“

      Er schien nichts von meinem damaligen Besuch bei Ulrike Meinhof mitbekommen zu haben und so wollte ich nichts verkomplizieren und sparte es aus.

      Was