Sven Hauth

Marsjahr


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sagte etwas und zeigte auf Ale. Die andere nickte, verschwand im Hinterzimmer und kehrte kurz darauf mit einem Laken zurück. Es besaß die grünliche Farbe angelaufenen Kupfers. Rachel winkte Ale zu sich. Ale gehorchte. Das Kassenmädchen händigte ihr wortlos den grünen Stoffhaufen, ihr Blick schon wieder auf ihre Fingernägel gerichtet.

      "Na?", fragte Rachel und sah Ale erwartungsfroh an.

      Ale faltete das Stoffzelt auseinander. Heraus fielen eine fand sie eine Zackenkrone aus Schaumstoff und eine Buchattrappe, beides in der selben unappetitlichen Farbe.

      "Was ist das?" Ale hob die Zackenkrone auf und drehte sie wie ein außerirdisches Werkzeug.

      "Das ist dein Kostüm für heute Abend. Ich weiß doch, wie gerne ihr da unten Karneval feiert. Und heute ist Halloween, das ist unser Karneval. Das habe ich extra für dich bestellen lassen."

      "Aber...was stellt es dar?"

      "Na, die Freiheitsstatue!"

      "Oh."

      "Die Freiheitsstatue steht in New York", belehrte sie die Kassiererin und tauschte einen mitleidigen Blick mit Rachel aus.

      Oh mein Gott, dachte Ale, und zwang sich gleichzeitig ein höfliches Grinsen aufs Gesicht. Machte es Sinn, Rachel und ihrer debilen Freundin zu erklären, dass dort unten der Karneval nicht für jeden denselben Stellenwert besaß? Am populärsten war er in Rio, und selbst dort gab es reichlich Menschen, die sich den bunten Exzessen verweigerten. Ale hasste den Karneval und den ganzen Rummel, der damit einherging, aber sie beschloss, sich nichts anmerken zu lassen. Sicher wollte Rachel nur ihr Bestes.

      "Toll. Danke", knurrte sie und krallte ihre Finger in den Stoff.

      "Probieren wir es gleich mal an. Falls es nicht passt, können wir es noch ändern lassen."

      "Jetzt? Hier??"

      "Ja, sicher." Rachel nahm ihr das Tuch aus der Hand, bauschte es auf bis sie die Öffnung für den Kopf fand und stülpte es Ale über wie einen überdimensionierten Poncho. Mit wenigen Handgriffen befestigte sie die Krone auf Ales Kopf, drückte ihr das falsche Buch in die linke Hand und dirigierte sie in eine Pose, die sie für die der Miss Liberty hielt.

      "Halte mal den rechten Arm hoch. Leider gab es keine Fackel, aber Zuhause basteln wir dir eine."

      Ale tastete unter ihrem Umhang nach dem Loch für den rechten Arm und streckte ihn in die Höhe. Der grüne Poncho hing formlos an ihren schmalen Schultern wie der stoffgewordene Zuckerhut. Einige der Mütter warfen ihr verstohlene Blicke zu, ihre Kinder kicherten weniger verstohlen.

      Rachel trat einen Schritt zurück und betrachtete ihr Werk.

      "Yay, sieht super aus! Amerikanischer geht's nicht."

      "Und was ist mit deinem Kostüm?"

      "Alles schon zu Hause, das von Brian auch."

      Brian, dachte Ale, und schauderte bei dem Gedanken, den ganzen Abend das fünfte Rad am Wagen der beiden Turteltauben zu sein. Sie verfluchte sich, Marks Vorschlag, ihn und Paul zu begleiten, vorschnell abgelehnt zu haben. Eines stand fest – ihr erstes Halloween würde unvergesslich werden.

      -

      Der Besuch der Mall bot eine willkommene Abwechslung vom Schulalltag. An machen Tagen nervte Darren sein Job ganz besonders, und heute war so ein Tag.

      Erst kurz vor Feierabend hatte er entdeckte, dass irgendein Schwachkopf die Wand gegenüber des Trinkbrunnens beschmiert hatte. Der Bogeyman wird dich holen stand dort, geschrieben in schwarzem Marker. Buh, wie furchteinflößend. Natürlich war der Stift wasserfest und die Farbe erwies sich als immun gegen normale Reinigungsmittel, so dass Darren erst wieder in den Keller gehen musste, um aus seinem Arsenal an hochaggressiven Chemikalien die geeignete Waffe auszusuchen. Fluchend hatte er danach eine halbe Stunde an dem Graffiti herumgerubbelt, und trotzdem waren am Ende immer noch ein paar Buchstabenfragmente übrig geblieben. Er verdrängte die Gedanken an den Misserfolg. Es war an der Zeit, etwas Spaß zu haben.

      Darren betrat das Radio Shack-Geschäft und schlenderte von einem Regal zum nächsten, fasziniert und eingeschüchtert zugleich von dem technischen Spielzeug und den Möglichkeiten, die darin schlummerten. Er stoppte vor einem der ausgestellten Tandy Rechner und stierte auf den pulsierenden Cursor. Diese sogenannten Heimcomputer breiteten sich aus wie ein Virus, besonders jetzt, wo das Weihnachtsgeschäft vor der Tür stand. Er hegte eine tiefe Abneigung gegen die seelenlosen Kästen. Sie verbargen ihr Innenleben, und mussten mit kryptischen Befehlen gefüttert werden. Kinderspielzeug, das niemand wirklich brauchte.

      Darren wusste, wie man Löcher bohrte und spürte das korrekte Drehmoment einer Schraube im Handgelenk. Er konnte einen Benzinmotor in seine Einzelteile zerlegen und wieder zusammenbauen, und ja, wenn es sein musste, hatte er noch jede verstopfte Toilette wieder frei bekommen. Er war ein Handwerker, durch und durch. Darrens Welt war das Greifbare, nicht dieses elektronische Kinderspielzeug, das niemand wirklich brauchte. Jede Wette, dass die Dinger in ein paar Monaten wieder verschwinden würden.

      Darren drückte die Leertaste. Der Tandy quittierte es mit einem gereizten Warnton, als Bestätigung gegenseitiger Abneigung.

      Ein geschniegelter Verkäufer trat neben Darren und knipste sein Radio Shack Lächeln an.

      "Was kann ich heute für sie tun, Sir? Möchten sie eine Softwaredemo?"

      "Ich interessiere mich eher für Kameras. So kleine, die nicht auffallen. Haben sie so was?"

      "Videoüberwachung? Selbstverständlich, Sir. Folgen sie mir."

      Der Mann geleitete Darren zu einem Regal, dass mit Überwachungselektronik beschriftet war.

      "Alles, was sie zu ihrer Sicherheit jemals brauchen werden. Für den Innen- oder Außenbereich?"

      "Innen."

      Der Verkäufer ging in die Hocke und raschelte eine Weile im unteren Regal. Er öffnete einen der Kartons und drückte Darren einen schwarzen Kasten in die Hand, nicht viel größer als eine Stange Marlboro.

      "Für drinnen empfehle ich dieses Modell. 15 mm Weitwinkel, die erfasst den ganzen Raum."

      "Nimmt die in Farbe auf?"

      "Selbstverständlich."

      Darren besah sich die Kamera als ob er etwas davon verstand.

      "Passend dazu" - der Verkäufer tauchte erneut ab und zog einen größeren Karton hervor - "verkaufen wir diesen Videorekorder vom selben Hersteller. Der zeichnet zehn Stunden auf, ohne dass sie das Band wechseln müssen."

      "Okay", sagte Darren, um etwas Bedenkzeit zu gewinnen. Eine derartige Anschaffung würde ein deutliches Loch in Darrens schmales Hausmeisterbudget reißen. Die nächste Zeit müsste er auf sein geliebtes Guinness verzichten. Andererseits würde das, was er vor hatte, ihm weitaus mehr Vergnügen bereiten.

      Besorgt über Darrens Zögern bückte sich der Verkäufer erneut, diesmal nach einem Zehnerpack Videokassetten.

      "Die lege ich ihnen gratis oben drauf."

      "Perfekt", sagte Darren. "Packen sie es ein."

      -

      Auch am späten Halloween-Nachmittag verirrten sich kaum noch Filmfreunde ins Cine-8. Bedrängt von den überall aus dem Boden sprießenden Multiplexen, die mit Leinwänden in Footballfeldgröße und Surround-Sound Zuschauer anlockten, geriet das in den späten 60ern gebaute Kino jeden Tag etwas mehr in Vergessenheit.

      Für Paul gab es nicht viel zu tun. Er fegte ein paar Alibi-Krümel vom vormals roten Teppichflor in seine Klappschaufel und hielt gleichzeitig ein Auge auf die Kasse, sollte sich doch noch der eine oder andere Besucher hierher verirren.

      Einmal mehr stellte er sich vor, wie Joanne eines Abends durch die Doppeltüren kam. Wie er sie vorbei an der Warteschlange winkte, ihr eine Tüte Popcorn spendierte und einen Film empfahl.

      Es blieb bei der Vorstellung. Selbst die Wahrscheinlichkeit, dass sich Joanne im Schulbus neben Paul setzte, schien