Gloria Fröhlich

Kuckucksspucke


Скачать книгу

Hygiene einer Rosette zwischen zwei Pobacken zuzuschreiben war.

      Außerdem hätte Line auch die „Stelze“ an ihrem Geruch erkennen können, denn der war nicht weniger markant, wenn sie die Arme hob, um ihr beim Turnen am Reck Hilfestellung zu geben.

      Und Line hatte noch ein Geheimnis, dass extrem geheim war und auch bleiben sollte. Entstanden war es durch eine Begebenheit, die in Lines Leben bisher einmalig war.

      Line liebte den Garten von Frau Mu, denn er war verwunschen, so dass Line sich vorstellte, in eine märchenhafte Welt einzutauchen, wenn sie ihn auf leisen Sohlen durchwanderte, um vielleicht kleinen Geheimnissen und Besonderheiten auf die Spur zu kommen.

      Hinter den knorrigen, alten Obstbäumen, wucherte eine gewaltige, undurchdringliche Brombeerhecke. Das Gras ringsherum war jetzt im Herbst welk, aber immer noch kniehoch.

      Die Brombeerblätter hielten sich rotbraun gerändert sogar den Winter über an der Hecke, und die trockenen Traubengerippe erinnerten Line wehmütig an den Sommer und die dicken, süßen Früchte, die ihr in die geöffnete Hand gefallen waren, wenn sie nur ganz wenig an ihnen gezogen hatte. Dunkel glänzend war eine nach der anderen in ihrem Mund verschwunden.

      Jetzt klebten eine Menge Schnecken in ihren gelb schwarz geringelten Häuschen in dem dichten Brombeergebüsch. Line hatte eine von ihnen mit Daumen und Zeigefinger liebevoll gezwungen, sich von dem Blatt, an dem sie klebte, zu lösen, sie in ihre Handfläche gelegt und angehaucht, bis sie sich von Lines warmem Atem gelockt, aus ihrem Haus wagte und es gekonnt auf ihrem Rücken balancierte, während ihre Fühler ins Leere tasteten. Dann machte sie mit der Schnecke, was alle Kinder mit Schnecken machten. Sie berührte mit den Fingerspitzen vorsichtig die empfindlich reagierenden, ausgestreckten Fühler und flüsterte: „He, du bist ja ganz aus dem Häuschen“. Line beobachtete, wie die Fühler zurückschnellten und sich die Schnecke in ihr Haus zurückzog. Dann setzte sie sie wieder behutsam in die Hecke.

      Dabei entdeckte sie die Spinnennetze, die der Tau über Nacht mit glasklaren Perlen verziert hatte und die nun wie feine Häkeldeckchen zwischen den Zweigen hingen.

      Line wischte den Schneckenschleim von ihrer Hand ins feuchte, zerzauste Gras und berührte dabei den glitzernden Wassertropfen darin, der kurz erzitterte und dann zwischen den Grashalmen verschwand. Und nur einen Schritt brauchte sie zu tun, um vor der dunkelgrünen Glasscherbe zu stehen, die fest in die Erde getreten worden war.

      Dann war sie weitergeschlendert und fand noch mehr Sommerreste, nach denen sie sich bückte, als es genau in der Mitte ihres Rückens grauenhaft zu jucken begann.

      Vielleicht war sie von einer der unzähligen Mücken gestochen worden, die filigran, wie winzige dürre Geister aus der Brombeerhecke geschwirrt waren, als Line ihre Stille gestört hatte.

      Ihr Rücken juckte dann so schrecklich, dass sie sich lange Gummiarme wünschte, um sie dort einzusetzen, wo die Folter stattfand.

      Um nicht verrückt zu werden, hatte sie sich schnell etwas einfallen lassen müssen und hektisch nach einem Stock gesucht, der lang genug sein musste, um zu der Stelle vorzudringen, die ihr gerade das Leben zur Hölle machte.

      Und da hatte er gelegen. Pechschwarz und mit einer Rinde, der die Feuchtigkeit im Gras nicht bekommen war und sich nur noch lose an ihm hielt.

      Das untere Ende war ein wenig gebogen und daher wie geschaffen für seine Aufgabe.

      Line hatte keinen Augenblick gezögert und ihn eilig an ihrem Hinterkopf vorbei von oben in den Jackenkragen und dann ganz gezielt zu der juckenden Stelle geschoben.

      Und dann, dann hatte sie sich heftig gekratzt und sofort die große Erleichterung gespürt.

      Genussvoll hatte sie sich dann nicht nur dort, sondern am ganzen Rücken richtig kräftig gekratzt. Zufrieden und erlöst, zog sie den Stock dann aus ihrer Jacke und ließ ihn ins Gras fallen. Ihm fehlte inzwischen etwas mehr von seiner schwarzen Rinde.

      Line konnte sich danach wieder entspannt der sommermüden Natur widmen. Sie beobachtete eine schwarz glänzende Nacktschnecke, die mit ungezügeltem Appetit einem Pilz zusetzte und lief dann ohne direktes Ziel in den Hof. Die größeren Pfützen dort forderten sie heraus, über ihre breiteste Stelle zu springen und dabei trockene Schuhe zu behalten.

      Ein Teil des Himmels spiegelte sich in dem flachen Wasser, und Line hatte in ihm die Wolken über sich sehen können, ohne nach oben schauen zu müssen.

      Sie entdeckte die beiden Raben, die hoch über ihr flogen und hatte neugierig ihren Flug bis zum Rand der Pfütze verfolgt.

      Auf dem Sommerweg malte sie dann mit ihrer Schuhspitze eine große „Gute Laune Sonne“ und sprang noch ein wenig hin und her, bevor sie nachhause ging.

      Lines Mutter und Großmutter warteten schon mit dem Abendbrot.

      Line erzählte von den Schnecken in der Brombeerhecke, den großen Pfützen, über die sie gesprungen war, ohne nasse Füße zu bekommen, und sie hatten gestaunt und nur: „Ja, fein“, gesagt.

      Die Großmutter half, nachdem sie gegessen hatten, Line ins Bett zu bringen.

      Dabei saß Line vor ihr auf dem Stuhl und hielt die Arme hoch, damit die Großmutter ihr den Pullover über den Kopf ziehen konnte. Sie lachten, denn wieder hob das Halsloch im Pullover Lines kleine Stupsnase noch höher.

      Beim Ausziehen des Unterhemdchens, hörte die Großmutter plötzlich auf zu lachen und zu reden und hatte mit eindringlicher Stimme Lines Mutter mit „kommst du mal“ gerufen.

      Dann hatten sie die Köpfe zusammengesteckt, die sich zwischen Lines Schulterblättern trafen, genau dort, wo es sie vorhin so sehr gejuckt hatte.

      Zunächst waren sie stumm und schienen ratlos.

      Line wusste nicht, was sie gesehen hatten.

      Die Großmutter sah sie beschwörend an, und ihre Frage klang sehr ernst:

      „Warst du allein, als du draußen gespielt hast?“

      Line hatte mit dem Kopf genickt.

      Als die Großmutter die nächste Frage stellte, tauschte sie mit Lines Mutter geheimnisvolle Blicke, als gäbe es da etwas Außergewöhnliches.

      „Oder hast du mit einem Jungen ein Spiel gespielt?“

      Line schüttelte jetzt heftig den Kopf, weil sie die Frage seltsam fand, hatte sie doch gerade eben gesagt, dass sie allein gespielt habe.

      Da die Großmutter Lines Hemdchen, das schmutzig durch ihre Hände glitt, wieder und wieder untersuchte, nahm Line an, dass sie ärgerlich sei, weil sie es ihr erst vorgestern sauber angezogen hatte, als sie das Verhör wieder aufnahm und wissen wollte:

      „Oder hat dich jemand ausgezogen und auf die Erde gelegt oder unter einen Busch gezogen?“

      Line schaute verständnislos von der Großmutter zu ihrer Mutter und schüttelte vehement den Kopf.

      „Aber dein Hemdchen ist schmutzig, und auf deinem Rücken sind schwarze Striemen, da ist doch etwas gewesen.

      Warum willst du uns nicht erzählen, was passiert ist?

      Hat dir jemand gesagt, dass du nicht darüber reden darfst?

      Uns kannst du alles sagen, vor uns darfst du keine Geheimnisse haben, Kind!“

      Sie standen wie eine Wand vor Line und furchten voller Sorge die Stirnen.

      Aber Line konnte ihnen jetzt unmöglich mit „Rücken heftig mit schmutzigem Stock gekratzt“, kommen. Die wollten eine richtige Geschichte hören, die Line nicht so schnell parat hatte.

      Sie befand sich jetzt in einer „Situation“ und hielt es für klüger, eisern zu schweigen.

      Doch das veranlasste die beiden erst recht dazu, nicht aufzugeben, um doch noch zu erfahren, was wirklich draußen passiert war, mit der Frage:

      „War ein Mann im Hof oder auf der Landstraße, der dich angesprochen hat?

      Und bist du