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befriedigende Antwort gefunden haben würde. Er wollte endlich er selbst sein dürfen!“

      „Warum nur hat er nie mit uns, mit seinen Angehörigen darüber gesprochen? Wir hätten ihn doch sicherlich verstanden.“

      „Er hat sich mir anvertraut. Sicherlich hätte er auch mit euch darüber gesprochen, bei einer gebotenen Gelegenheit. Leider hat der Tod das nicht mehr zugelassen, grausam wie er oft ist. Mit ihm ist nicht zu spaßen.“

      „Ich bin dir sehr dankbar für das Gespräch, Caro. Schade, dass meine Mutter nicht dabei ist. Sie hat sich nie von der Vorstellung befreien können, dass meinen Vater und dich mehr als eine innige Freundschaft verband. Die Gerüchte, die auch an ihre Ohren gelangt waren, haben leider ihr Herz vergiftet. Du hast von den Gerüchten sicher auch etwas mitbekommen.“

      „Ich bedaure auch, dass sie heute nicht dabei ist. Berichte ihr bitte, was ich dir erzählt habe. Gerne würde ich bald eine Gelegenheit nutzen, auch mit ihr über den wundervollen Mann zu sprechen, der an ihrer Seite lebte, auf den sie wirklich stolz sein kann.“

      Die beiden Frauen gingen als Freundinnen auseinander.

      Nach einem weiteren Monat setzte Johannes Holtz zu Ehren Wotan van Geels eine Aufführung von Verdis Messa da Requiem außerplanmäßig auf den Spielplan, bei der Wotan immer gerne den Basspart übernommen hatte. Caroline Bogaert ließ es sich nehmen, die Sopranpartie zu singen. Johannes Holtz gedachte Wotans künstlerischem Schaffen in einer Ansprache. Er schloss mit den Worten: „Dieses Haus wird sein Andenken in Ehren halten, und ich bin froh, dass die Technik der heutigen Zeit seine großartige Stimme nicht in Vergessenheit geraten lässt. Wir alle hier dürfen uns glücklich schätzen, ihn live auf der Bühne erlebt zu haben. Ruhe er in Frieden und erfreue er, wo immer er sich jetzt aufhält, alle mit seinem Gesang.“

      Erinnerungen an Tadek

      Als Hermann D. das Buch aufschlug, das ihm ein guter Freund ein paar Tage zuvor als Geburtstagsgeschenk überreicht hatte, öffnete sich mit einem Mal ein lange verschlossenes Fenster im Haus seiner Erinnerungen und gab einen Blick zurück in seine Kindheit frei. Das Buch erinnerte an Deutschlands unrühmlichste Vergangenheit und enthielt eine Sammlung von Geschichten und Gedichten, geschrieben von Zwangsarbeitern im Zweiten Weltkrieg. Hermann war in jener Zeit aufgewachsen, doch die meisten seiner Erinnerungen hatten sich im Laufe seines Lebens im Nebel einstigen Geschehens davongestohlen.

      Bereits beim Überfliegen des Klappentextes erwachten unvermittelt Bilder aus seiner Kindheit, die tief in seinem Unterbewusstsein geschlummert hatten, Lebenserinnerungen, die teils auf Erleben, teils auf Hörensagen beruhten. Mit den Bildern tauchte ein Mann aus dem Dunst der Erinnerungen auf, der ihm damals viel, der ihm alles bedeutet hatte, ein Mann, der in seiner frühen Kindheit viel zu seiner persönlichen Entwicklung beigetragen hatte.

      Hermanns Familie wohnte in jenen Tagen am Rande einer Großstadt des Ruhrgebiets, in einem die Villa genannten Wohnhaus, das zu einem landwirtschaftlichen Gut gehörte. Dort lebte sie in ausreichender Entfernung von den alliierten Bombenangriffen auf die Anlagen der nahen Rüstungsindustrie, die im Visier der Bomber stand. Nur gelegentlich verirrte sich einer von ihnen in die Sichtweite der Außenbezirke und zwang die wenigen Bewohner, vorsorglich Zuflucht im Keller ihrer Häuser zu suchen. Trotz der schwierigen Lebensumstände, die Zeiten des Krieges mit sich bringen, litt Hermanns Familie keine Not. Ihr Garten versorgte sie mit frischem Obst und Gemüse, der Bauer mit Milch, Fleisch, Eiern und anderen Nahrungsmitteln, sodass immer etwas zum Essen auf dem Tisch stand. Zum Glück für die Familie musste der Vater keinen Helden an der Front spielen, um einen Beitrag für den arischen Größenwahn des irrsinnigen Führers mit einer Waffe in der Hand zu leisten. Seine Schaffenskraft wurde in einem heimischen Industrieunternehmen dringender benötigt.

      Als kindlich neugieriger Bub, dessen Tagesablauf noch nicht durch die Schule beschnitten war, strolchte Hermann tagsüber unternehmungslustig auf dem Bauernhof herum. Er kannte dort alle Tiere mit Namen: die Pferde, Kühe und Schweine, von Hunden und Katzen ganz abgesehen. Mit Begeisterung stromerte er auch durch die umliegenden Wälder, die für ihn und seine lebhafte Fantasie einen aufregenden Abenteuerspielplatz hergaben. Seiner Mutter gelang es nie, seinen Tatendrang einzudämmen, obwohl sie ihm jeden Tag aufs Neue verbot, auf dem Hof oder in dem Wald allein zu spielen.

      Besonders die Scheune des Gutes erkor er sich gerne als Spielplatz, weil es allzeit dort für ihn etwas zu entdecken gab. Hühner legten dort heimlich Eier im Stroh ab, von denen er gelegentlich das eine oder andere davon mit nach Hause nahm. Seine Mutter schalt ihn zwar darob, ließ die Eier jedoch schnell im Küchenschrank verschwinden. Doch nicht nur solche Funde lockten ihn in die Scheune, auch die Lebewesen, die ihr Domizil dort hatten, wie zahlreiche Mäuschen, die ihrem Lieblingsspiel nachgingen, mit den Katzen Versteck zu spielen, und – sehr zu seiner Freude – meistens damit Erfolg hatten.

      Als er gerade wieder einmal nach versteckten Eiern Ausschau hielt, hörte er plötzlich hinter sich eine Stimme sagen: „Na, Jungchen, willst doch wohl nicht Eier klauen?“

      Hermann erschrak, denn er hatte niemanden kommen gehört. Er wandte sich mit roten Ohren um und blickte direkt in die freundlichen Augen des Knechts, der „Tadek“ gerufen wurde, dessen Familienname sich unaussprechlich anhörte.

      „Musst haben keine Angst vor mir!“, beruhigte ihn Tadek. „Aber nicht erwischen lassen, Bauer ist sehr böse.“

      Tadek war, wie Hermanns Vater zu Hause berichtet hatte, ein sogenannter Zwangsarbeiter polnischer Herkunft, der neben der Magd Olga dem Bauern als landwirtschaftliche Hilfskraft zugeteilt worden war. Beide trugen auf ihrer Bekleidung als Statuskennzeichnung ein aufgenähtes Stoffabzeichen, das ein P zeigte. Sie mussten von frühmorgens bis zum späten Abend auf dem Hof schuften, wurden jedoch im Vergleich zu den meisten ihrer Leidensgenossen hinreichend verpflegt und – mit Ausnahme von dem Altbauern – anständig behandelt. Dieser bösartige alte Mann mit einer meist schweißglänzenden Glatze, einer roten Knollennase als sichtbarem Nachweis seiner Vorliebe für geistige Getränke aller Art sowie einem Holzbein, mit dem er verbittert aus dem Ersten Weltkrieg heimgekommen war, gebärdete sich ihnen gegenüber wie ein Zuchtmeister. Seit seiner Heimkehr aus der Gefangenschaft schikanierte er alle Menschen in seiner Umgebung. Wenn er zu viel getrunken hatte, was fast täglich der Fall war, machte er selbst vor Handgreiflichkeiten nicht halt. Ständig drohte er mit seinem Stock, den er als Gehhilfe benötigte. Er ging in seinem ungezügelten Zorn auf die Welt sogar so weit, wehrlose Opfer wie die schutzlose Olga vor aller Augen mit seiner Reitpeitsche durch Schläge auf ihr Hinterteil zu misshandeln, weil sie seine Stiefel, wie er behauptete, nicht blank geputzt hätte.

      Auf Tadek hatte es der Alte besonders abgesehen. Der Knecht war kein besonders kräftiger, aber ein ziemlich zäher Mann von etwa 35 Jahren, Musiker von Beruf. Der Altbauer beschimpfte ihn „Russenschwein“, wann immer er ihm unter die Augen trat. Doch lachte Tadek ihn jedes Mal aus seinen tiefbraunen Augen an, obwohl ein aufmerksamer Beobachter den Hass in seinen Augen hätte funkeln sehen können. Mit Bedacht murmelte er eine Antwort in seiner Muttersprache, sodass niemand verstand, was er gesagt hatte.

      Tage später, nachdem Tadek Hermann in der Scheune erwischt hatte, entdeckte der Bub ihn dösend unter einem Baum am Rande einer Weide. Von dort sollte er die Kühe zurück in den Stall treiben, gönnte sich aber noch eine Stunde des Müßiggangs.

      „Jungchen, mein Freund, komm her, ich zeig dir was“, rief er ihm schon von Weitem zu. Hermann eilte herbei, denn er hatte nach der geschilderten Begegnung seine Scheu vor ihm verloren. Er setzte sich neben ihn ins Gras. Tadek brach von einer Weide einen Ast ab und begann, aus dem Holz und der Rinde mit seinem Messer eine Flöte zu schnitzen.

      „Soll haben einen schönen Klang, die Flöte, wenn du sie spielst“, bedeutete er dem erwartungsvollen Jungen und bohrte acht Löcher in die ausgehöhlte Rinde. Anschließend drechselte er das Mundstück zurecht, steckte es oben in das offene Rindenröhrchen und ein Endstück in die untere Öffnung. Mit Speichel befeuchtete er das Mundstück eine Weile, bis es geschmeidig war. Als er mit seinem Werk zufrieden war, kündigte er lächelnd an: „Nun wollen wir Musik machen, mein kleiner Freund!“

      Er