Florian Lettre

Auferstanden aus Ruinen


Скачать книгу

schon über eine Million Arbeitslose.“

      „Die Arbeitslosen will keiner. Aber reisen wollen wir. Und volle Geschäfte. Drüben gibt es alles zu kaufen. Ein neues Auto bekommst du sofort.“

      „Das Geld musst du haben.“

      „Die haben alle ein Auto. Und keinen Trabant.“

      „Auf Pump gekauft.“

      „Das ist doch egal. Auto ist Auto.“

      „Was sagen die Genossen dazu?“

      „Mit denen wird nicht geredet. Das ist zu gefährlich. Das hat auch keinen Zweck. Die kommen mit ihren Redereien an. Unsere Wirtschaft sei dem Westen überlegen. Die reden Schablone.“

      „Du hältst nicht viel von unseren Genossen.“

      „Die sind selbst schuld.“

      „Alle?“

      „Es gibt Ausnahmen. Aber selten.“

      „Euer Parteisekretär?“

      „Das ist eine Flasche. Der redet nur in Losungen. Und sieh dir unsere Zeitungen an. Alles nur Schablone. Langweilig.“

      „Willst du die „Bild“-Zeitung?“

      „Ich bin nicht für den Westen. Unsere Zeitungen müssten so berichten wie es wirklich ist.“

      „Wie ist es wirklich?“

      „Schwierig ist es. Sehr schwierig.“

      „Warum?“

      „Zuviel Bürokratie. Zuviel Leute, die etwas zu sagen haben und nichts von der Sache verstehen.“

      Das Bier war ausgetrunken.

      „Was macht deine Frau?“

      „Sie arbeitet im Konsum. Wie immer.“

      „Und die Kinder?“

      „Gehen zur Schule. Grundschule.“

      „Ich hätte auch gern eine Familie.“

      „Du musst studieren. Dann kannst du eine Familie haben.“

      „Ich habe eine Freundin.“

      „Du?“

      „Ist das so ungewöhnlich?“

      „Du hattest lange keine Frau. Fickt ihr?“

      „Ich habe sie erst einmal besucht Sie ist Schwester und wohnt in einem Schwesternheim.“

      „Warum fickt ihr nicht?“

      „Wir müssen uns erst kennen lernen.“

      „Und? Was ist es für eine Frau? Ist sie hübsch?“

      „Mir gefällt sie.“

      „Willst du sie heiraten?“

      „Ich weiß nicht, ob sie mich heiraten will.“

      „Natürlich will sie heiraten.“

      „Ich sehe nicht so gut aus wie du.“ Der Freund lachte.

      „Du studierst. Das macht Eindruck bei den Weibern.“

      „Ich habe nur mein Stipendium.“

      „Später wirst du viel verdienen. Ihr werdet beide verdienen. Redet ihr zusammen?“

      „Nicht viel.“

      „Was macht ihr dann?“

      „Wir küssen uns.“

      „Ach Gott. Ihr seid am Anfang. Ficken müsst ihr. Das macht Spaß.“

      „Kannst du immer?“

      „Kein Problem. Hast du Probleme?“

      „Ich bin mir nicht sicher, ob es klappt.“

      „Beim ersten Mal ist sich keiner sicher.“

      „Warst du auch unsicher?“

      „Ich fand das Loch nicht. Dann hat sie mir geholfen.“

      „War das Maria?“

      „Nein. Das war irgendeine Frau. Ich kann mich nicht an sie erinnern. Ich war zur Ausbildung. Die Kollegen hatten mich mitgenommen. Wir waren alle betrunken.“

      „Sprichst du mit deinen Kollegen darüber?“

      „Worüber? Über Ficken?“

      „Ja.“

      „Nein.“

      „Aber mit mir.“

      „Du bist mein Freund.“

      „Wie lange kennen wir uns jetzt?“

      „Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Falls du das vergessen hast.“

      „Wir haben nicht zusammen gesessen.“

      „Du hast immer in der ersten Reihe gesessen. Du hattest immer gute Zensuren. Ich hatte oft keine Schularbeiten gemacht.

      „Einen Moment. Wir müssen jetzt Schluss machen. Ich muss noch einen Artikel lesen.“

      „Über Minnesang?“ Beide mussten lachen. Sie gingen davon. Jeder in seine Richtung.

      7.

      Florian langweilte sich in den Vorlesungen. Oft wusste er nicht was er sich aufschreiben sollte. Am Ende der Vorlesung standen nur wenige Worte auf seinem Block. Ganz anders war die Vorlesung von W.H. Jeder Stuhl war besetzt. Auf den beiden Treppen saßen Studenten. Wenn W.H. sprach, herrschte Stille im Hörsaal. Er sprach nicht sehr laut. Trotzdem war er gut zu hören. Er skizzierte ein Problem und dann betrachtete er es von verschiedenen Seiten. Von Dialektik war die Rede. Florian wusste nicht, was das eigentlich war. Allmählich lernte er mehr über Dialektik. Er ging in die Bibliothek der Universität und suchte nach dem Namen W.H. Er fand Bücher und andere Veröffentlichungen unter diesem Namen. Er lieh sich die Bücher aus und lernte diesen W.H. näher kennen. Marx kam oft vor und diese Idee, dass die Literatur etwas mit der Wirtschaft zu tun hatte. Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Das war so ein berühmter Spruch. Florian fand diese Idee zunächst nicht sehr einleuchtend. Er hatte in einem Dichter einen Menschen gesehen, der in seinem Zimmer saß und sich etwas ausdachte. Er schuf sich seine eigene Welt und ließ seine Leser an ihr teilhaben. Eines Tages wurde Florian klar: Der Dichter und sein Buch waren tatsächlich die entscheidende Stelle. Nur wurde dieser Dichter von vielem beeinflusst. Und die Verhältnisse um ihn herum spielten eine große Rolle. In der Nazi-Zeit wurde nur das gedruckt, was den Nazis gefiel. In der DDR wurde nur das gedruckt, was den Lektoren in den Verlagen gefiel. Und denen gefiel nur das, was den Genossen in der Partei Recht war. In der Bundesrepublik wurde nur das gedruckt, was den Lektoren in den Verlagen gefiel. Und denen gefiel nur was man ihnen beigebracht hatte zu akzeptieren. Wer hatte ihnen das beigebracht? Ihre Lehrer in der Schule und die Professoren an den Universitäten. Und die waren überzeugt, dass in der Bundesrepublik alles in Ordnung war, so wie es war. Jedenfalls im Prinzip.

      Nach einer Vorlesung ging Florian nach vorn. Er stand neben W.H. und hörte sich fragen, ob er am Institut mitarbeiten könne. Der Professor sah den jungen Mann überrascht an. Er musterte ihn. Was war das für einer? Konnte man den gebrauchen. Es dauerte lange, bis er etwas sagte. Florian solle ihn begleiten, sagte er. Sie gingen zusammen durch die hinter Tür des Hörsaals, durch die die Studenten nicht hereinkamen. W.H. blieb vor einer Tür stehen, schloss sie auf und ging in das Zimmer.

      „Kommen sie herein“, sagte er. „Setzen sie sich“. In dem Zimmer gab es Regale an allen Wänden. Alle voller Bücher. In der Mitte ein großer Tisch mit Büchern. Dahinter ein Ledersessel. An vielen Stellen abgenutzt. Florian saß jetzt auf einem Holzstuhl, dem Professor in seinem Ledersessel gegenüber.

      „Ich kenne sie von meiner Vorlesung. Sie scheinen mir interessiert.“

      „Ihre Vorlesung ist sehr interessant.