hält in seiner Bewegung inne und versucht, mit seinen sechs kleinen Ärmchen eine große Geste an zu deuten: „Ja, aber heute bin ich mir gaaaanz sicher!“
Das beeindruckt mich wenig. Ich erkläre ihm: „Du warst dir auch gestern schon gaaanz sicher!“ Gustav sieht mich an und verschränkt alle sechs Ärmchen vor seiner Brust: „Ach, Lino, was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?!“
Hinter Gustav kichert es. Seine Schwester Carla tritt hervor. Ich habe gar nicht gesehen, dass sie auch dabei ist. „Haste gehört, dein Bruder spürt wieder was im dritten Hinterleibsfaden“, lache ich. Carla schaut hoch zur Wasseroberfläche mit ihren großen verträumten Facettenaugen. Dabei summt sie leise vor sich hin: „Que sera sera…“ Sie holt ihren Schminkspiegel heraus und checkt ihr Make up. Sie will vorbereitet sein, wenn es soweit ist. Und, wie gesagt, man weiß einfach nie, wann es soweit sein wird. Carla seufzt: Hoffentlich ist heute nicht der Tag welcher. Ich seh total verknittert aus. Was soll mein Traumprinz über der Wasseroberfläche denn sagen, wenn er mich so sieht?“ Ich verdrehe die Augen. Carlas Vorstellung vom Traumprinzen über Wasser nervt. „Meinst du nicht, dein Traumprinz könnte auch hier unter Wasser sein?“, frage ich und lege mich demonstrativ cool auf die Seite. Aber Carla schaut schon wieder zur Wasseroberfläche und summt „Whatever will be, will be…“ Ich wünschte, ich könnte Carlas Traumprinz sein. Carla ist das schönste Eintagsfliegen-Larvenmädchen, das ich bis jetzt gesehen habe. „The future`s not ours to see“, singt sie. Und jemand stimmt tief mit ein: “Que sera sera, die Zukunft kann mich ma!”
Das ist Ludwig. Fast hätte ich ihn nicht erkannt, denn er hat sich mal wieder gehäutet. Bestimmt schon zum zwanzigsten Mal. Kein Wunder, dass er viel größer ist als ich. Ludwig hat aber auch eine besonders ausgeprägte Stromlinienform und drei gigantische Hinterleibsfäden. Er ist ein Prachtexemplar von einer Eintagsfliegen-Larve. Und ich bin sicher, Carla hätte ihn schon das ein oder andere Mal küssen wollen, wäre da nicht ihre romantische Vorstellung vom Traumprinzen über Wasser. „Tach, Leute. Na, alles fit?“ Mit diesen Worten lässt Ludwig sich neben mich auf den Grund des Baches fallen und jongliert mehrere kleine Steinchen zwischen seinen sechs Ärmchen hin und her, während er zur Wasseroberfläche schaut.
„Wenn wir da oben sind, dann fängt das Leben richtig an! Dann geh`s los!“ Gustav ist aufgeregt und kratzt sich mit seinen sechs Ärmchen überall am Körper. Immer, wenn er sich ausmalt, dass es wirklich nicht mehr lange dauern könnte, bis wir an die Oberfläche kommen, dann juckt es ihn überall und er rennt wild in der Gegend herum. Den ganzen Schlamm wirbelt er auf. Die Sicht zur Wasseroberfläche wird trübe. Diesmal ist Gustav so aufgeregt, dass er unter sich lässt. „Ihhh“, macht Carla und sieht ihren Bruder vorwurfsvoll an, mit ihren großen Facettenaugen, die sich aber sofort wieder an die Wasseroberfläche heften. „Gustav, bleib mal cool jetzt“, sagt Ludwig. „Passiert doch eh wieder nix Richtung Wasseroberfläche heute.“ Er beginnt, Gustav mit den kleinen Steinchen zu bewerfen. Gustav ist einsichtig, schiebt etwas Dreck zur Seite und setzt sich neben Ludwig auf den Grund. Ludwig jongliert jetzt wieder in einem irren Tempo die Steinchen herum. „Blöder Angeber“, sagt Gustav beleidigt.
Carla dreht sich jetzt in einer Art Pirouette um sich selbst und wirbelt dabei ebenfalls Sand auf, so dass sie fast nicht mehr zu sehen ist. „Da wird ein riesiger Ball stattfinden, da oben, ein großes Fest“, singt sie dabei, „Wir werden feiern und tanzen und leben!“ Erschöpft lässt sie sich neben mich auf den Grund fallen. Ihre Hinterleibsfäden streifen meine Ärmchen. Den Blick wendet Carla dabei nicht von der Wasseroberfläche ab.
Strichebündel
Gustav hat von Anfang an mitgezählt. Naja, jedenfalls, seitdem er denken und zählen kann. Jeden Tag malt er mit seinem mittleren Hinterleibsfaden einen Strich auf den Grund des Baches. Nach vier Strichen zieht er einen Strich quer durch die vier Striche durch. Auf dem Grund reiht sich ein Fünf-Striche-Bündel an das nächste. Einen Großteil des Tages verbringt Gustav mit der Überwachung dieser Striche-Bündel, die angeblich die genaue Zeit dokumentieren, die er jetzt schon wartet. Und das seien summa summarum 763 Tage. „Und wenn man das Vergehen der Jahreszeiten berücksichtigt, dann sind das mehr als zwei Jahre.“, erklärt Gustav.
Zwei Jahre? Wir staunen. „So lange hängen wir hier jetzt schon rum? Wieso das denn?“ erbost Ludwig sich und Carla schabt nervös mit ihren Hinterleibsfäden im Sand. „Keine Ahnung“, sage ich, um das allgemeine Schweigen zu brechen. „Keine Ahnung, Leute!“
Ob Gustavs Rechnung stimmt, weiß niemand so ganz genau. Denn durch die starke Strömug oder sich einbuddelnde Fische wird der ein oder andere Strich oft verwischt. Und als ich einmal nachgezählt habe, da bin ich nur auf 612 Striche gekommen. Worauf Gustav laut lachte und sagte: „Wenn man nicht zählen kann, dann soll man es lassen!“ Dabei bin ich ein guter Zähler und mir sicher, dass ich mich nicht verzählt habe. Was bringt die Zählerei überhaupt, wenn wir nicht wissen, wie lang wir zu warten haben? „Das ist für die Nachwelt, für unsere Kinder“ erklärt Gustav, „Damit die Eintagsfliegenlarven, die nach uns kommen, wenigstens wissen, wie lange sie warten müssen!“
Klingt fair, finde ich. Ludwig schüttelt nur den Kopf: „Zeitverschwendung“, erklärt er. „Warum sollen unsere Kinder es besser haben als wir? Oder anders: Bis aufs Warten ist es hier doch gar nicht so schlecht!“ Er kämmt seine Hinterleibsfäden mit den Ärmchen, während er zur Wasseroberfläche schaut. Carla lunst zu ihm rüber. Gustav ist genervt: „Du bist n unverbesserlicher Egoist, Ludwig“, erklärt er. Und zählt seine Striche von vorne durch.
Anfang und Ende
Gustav schwimmt nah über dem Boden auf und ab, die sechs Ärmchen hat er in Denkerpose auf dem Rücken gefaltet. Ich merke, wie Ludwig davon nervös wird. Er ist sowieso am ungeduldigsten von uns allen, auch wenn er immer so cool tut. Kein Wunder, dass er schon so weit entwickelt ist. Jetzt schwimmt er Gustav in den Weg und bringt ihn so zum Stehenbleiben. „Warum gehen wir nicht einfach hoch?“, fragt Ludwig. „Wir alle zusammen. Jetzt sofort.“
Gustav schwimmt einen Bogen um Ludwig. „Es ist noch nicht soweit“, erklärt er. „Wir können nicht einfach hoch gehen, wenn wir Lust dazu haben!“ Ludwig reicht das nicht: „Ach ja? Und woran bitte sollen wir erkennen, wann es soweit ist?“
„Na, am Instinkt.“ Gustav schwimmt wieder in die entgegengesetzte Richtung. „Wir haben einen Instinkt.“
Ludwig schaut Gustav zweifelnd an, findet aber keine Widerworte. „Das heißt, mein Instinkt sagt mir, wann es soweit ist? Ich muss also nur warten, bis mein Instinkt mir sagt, ich soll zur Wasseroberfläche? Coole Sache“, findet er und fängt sich ein paar Schwebeteilchen als Snack zwischendurch.
„Da oben“, sagt Carla und löst ihren Blick dabei nicht von der Wasseroberfläche, „da oben ist das Ende und der Anfang!“ Sie behauptet, eine Forelle, die im Sterben lag, hätte ihr das mal erzählt. Das ist schwer zu glauben, denn Forellen sind unsere Feinde, aber Carla schwört, dass die Forelle das zu ihr gesagt hätte: Da oben ist das Ende und der Anfang.
„Die Forelle hat einen Wurm gegessen und nicht gesehen, dass der an einer Angel hing. So wurde die Forelle, schneller als sie das Maul wieder öffnen konnte, einfach aus dem Wasser befördert“, erzählt Carla. „Dort wurde sie in einen Eimer geworfen, in dem schon ganz viele andere Forellen zappelten und nach Wasser rangen. Und weil der Eimer so voll war, ist die Forelle wieder raus gefallen und zurück in den Bach gerutscht. Sie war aber von der vielen Luft dort oben ganz schwach und erschöpft. Sie konnte mir das gerade noch erzählen, dann ist sie gestorben, obwohl sie wieder im Bach war.“ Carla schweigt bedeutungsvoll.
Wir schauen sie ungläubig aber fasziniert an. Sie flüstert jetzt: „Da oben ist das Ende und der Anfang, das hat die Forelle gesagt!“
Leider können wir mit dieser Aussage nicht allzu viel anfangen. Aber es hört sich geheimnisvoll und aufregend an. Ludwig allerdings hatte noch nie einen Sinn für Zauber und meint: „Das heißt also, wenn ich mich an so nen Wurm hänge, der wiederum an ner Angel hängt, dann komme