Dorothee Fesel

Linos Instinkt


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warten. Ich kann`s nicht mehr hören! Ich will jetzt endlich wissen, was da oben passiert!“

      Ich versuche, den aufkeimenden Streit zwischen Ludwig und Gustav zu schlichten: „Hör mal, Ludwig, das Warten ist doch quasi Vorfreude. Und Vorfreude ist die schönste Freude!“ Ludwig schaut mich genervt an, dann tritt er richtig fest gegen einen Stein und sagt: „Das ist keine Vorfreude - das ist stinknormales, langweiliges Warten!“

      Schauerregen

      Ich betrachte Carla und frage mich, was sie denkt, während sie den ganzen Tag an die Wasserobefläche schaut. Es ist schwierig, ihr mal in die Augen zu sehen. Aber ich habe gehört, dass Liebe nicht heißt, sich gegenseitig an zu schauen, sondern gemeinsam in eine Richtung zu schauen… Nun, das tun wir ja die meiste Zeit. Wir schauen beide zur Wasseroberfläche. Obwohl ich doch oft lieber Carla anschaue statt das verschwommene Weißblaugrau. Jetzt ziehen sich ihre schönen großen Facettenaugen zusammen und sie peitscht nervös mit ihren drei Hinterleibsfäden in den Sand. Ich folge ihrem Blick. Es ist nicht zu übersehen - die Wasseroberfläche wird durchbrochen wie von tausend kleinen Nadeln: Es regnet.

      „Ach du heiliges Algengestrüpp“, kann Gustav noch sagen, dann spüren wir auch schon, wie die Strömung sich verstärkt. Manchmal wünschte ich, wir wären nicht in einem fließenden Gewässer geboren worden, sondern in einem ruhigen Tümpel. Aber leider kann man sich ja nicht aussuchen, wo man geboren wird. Das sagt mir mein Instinkt.

      Das Wasser fließt jetzt schneller und schneller bachabwärts und übt mächtig Druck aus. Carla schreit auf und klammert sich an mir fest. Wohl nicht, weil sie denkt, ich könne ihr am meisten Sicherheit geben, sondern weil ich direkt neben ihr stehe. Ich meinerseits versuche, mich so fest wie möglich im Sandboden zu verhaken, um nicht von der Strömung mitgerissen zu werden. Das kostet doppelt soviel Kraft mit Carla auf mir und so richtig genießen kann ich dadurch die Körpernähe zu ihr nicht. Der Regen lässt nicht nach, die Strömung wird stärker. Ich sehe, wie Gustav und Ludwig sich immer weiter in den Sand eingraben. Also drücke ich Carla ebenfalls in den Sand. „Grab dich ein“, schreie ich sie an. „Buddel dich in den Boden ein!“ Carla versteht und arbeitet sich mit aller Kraft in den Sand hinein. Als ich merke, dass sie sich dadurch selbst halten kann, lasse ich kurz los, um auch zu buddeln. Obwohl ich nur einen Facettenaugenblick ohne Halt bin, erfasst mich der Sog. Ich kann nicht anders als zu schreien, auch wenn das verdammt uncool ist. „Ahhhhhhhhh“ tönt es aus mir heraus. Aber die anderen können mich sowieso nicht mehr hören, denn ich werde von dem Strom bachabwärts getragen.

      Oh Gott.

      Oh Gott. Oh Gott. Oh Gott.

      Ich versuche, im Sand einen Halt zu finden, aber immer wieder zieht mich das Wasser weg. „Ich will nicht sterben“, denke ich. „Nicht, bevor ich nicht über der Wasseroberfläche gewesen bin!“

      Jetzt treibe ich direkt auf eine Alge zu. Die muss ich zu greifen bekommen, mit irgendeinem der sechs Ärmchen! Wenn ich mich daran festhalten kann oder darin einen Unterschlupf finde, dann habe ich noch eine Chance!

      Ich nehme meine letzte Kraft zusammen und konzentriere mich. Ich muss gleich ganz fest zupacken, sonst reißt mich das Wasser weiter. Die Alge kommt immer näher. Und näher und näher. Plötzlich und viel zu schnell ist sie direkt vor mir. Ich packe mit allen Ärmchen zu und halte und halte.

      Ich merke, dass ich die Augen geschlossen habe. Ich öffne sie ganz vorsichtig und langsam. Ich traue meinen Facettenaugen kaum – ich hänge an der Alge! Ich halte mich an der Alge fest! Zwar nur mit zwei Ärmchen, aber das reicht. Jetzt nur noch durchhalten, bis der Regen aufhört und die Strömung schwächer wird. Ich schließe wieder die Augen und halte die Alge so fest ich kann.

      „Alter, jetzt mach dich mal locker! Der Regen ist doch längst vorbei!“, höre ich eine Stimme. Ich öffne die Augen. Vor mir steht Ludwig und grinst. Dahinter entdecke ich Gustav und Carla. Ich kann meine Freude kaum verbergen: „Ihr habt mich gefunden! Juhuu! Alter Falter, ich dachte schon, ich muss sterben! Nur mit letzter Kraft konnte ich mich an der Alge festhalten!“, erkläre ich. Alle lächeln mich milde an. Ich verstehe nicht, wie sie so entspannt sein können. Das hätte auch richtig ins Facettenauge gehen können! Aber ich habe mich gerettet, in letzter Sekunde! Ich bin hier der Held! Wo ist mein achtzehnärmiger Applaus?

      Aber von den anderen kommt nichts. Anscheinend scheine nur ich meine Leistung zu erkennen. Gustav meint: „War doch gar nich so stark, die Strömung!“ und Ludwig findet: „Außerdem hatte der Regen doch schon aufgehört, als du dich an der Alge festgehalten hast, Lino!“

      Wie, das ist alles, was sie dazu sagen? Ich glaube es ja nicht! Die beiden haben keine Ahnung! Ich hoffe nur, dass Carla die Situation richtig einschätzt. Ich schaue sie hilfesuchend an. Sag was zu meinem Heldentum, Carla! Carla sagt: „Ich finde es toll, dass meine Frisur immer noch sitzt!“

      Ich schaue sie alle an, Gustav, Ludwig und Carla, und erkläre, dass ich jetzt schlafen gehen werde. Von diesem Tag will ich echt nichts mehr wissen.

      Ungeduld

      Am nächsten Morgen scheint die Sonne, als ob es nie auch nur ein Tröpfchen geregnet hätte. Ich wache von den Strahlen auf und bin irre gut gelaunt. Bei Sonne ist Warten gleich viel angenehmer. Sie wärmt die oberen Schichten des Wassers auf, und ab und zu kommt ein warmer Schub zu uns herunter. Außerdem ist bei dem Licht viel mehr durch die Wasseroberfäche hindurch zu erkennen. Heute sieht es blau aus, strahlend blau.

      Ich wecke die anderen. Wir fangen uns ein paar Wasserflöhe zum Frühstück und setzen uns in einer Reihe auf den Grund des Baches. Carla sieht verschlafen aus. Sie verzichtet auf das Frühstück und flechtet stattdessen Gräser in ihre Hinterleibsfäden. Das sieht hübsch aus.

      „Sieht hübsch aus“, sagt Ludwig und Carla lächelt. Ich ärgere mich, dass ich es nicht gesagt habe. „Wenn du es hübsch findest, dann finden die oben es sicher auch hübsch!“, erklärt Carla glücklich. Die oben – wer soll das eigentlich sein?

      Ludwig schaut Carla an und rückt ein Stück dichter an sie ran. Carla merkt es gar nicht, denn ihr Blick klebt, wie üblich, an der Wasseroberfläche. Ludwig kommt ihr immer näher. Dann drückt er seinen Mund auf Carlas Mund. Ich traue meinen Facettenaugen nicht. „Ludwig!“, rufe ich, aber da ist es schon geschehen. Carla schaut Ludwig böse an und haut ihm mit den Fühlern auf den Kopf. „Spinnst du?“, sagt Carla, „Mein Traumprinz wartet doch oben! Ich will mich für ihn aufheben!“ Sie steht auf und geht beleidigt weg. Woher sie so genau weiß, dass ihr Traumprinz jenseits der Wasseroberfläche auf sie wartet, ist mir ein Rätsel. Muss wohl Instinkt sein. Ludwig ist sauer, dass Carla sauer ist. „Zicke“, sagt er vor sich hin und fast hätte ich mich mit ihm angelegt, wenn Gustav nicht dazwischen gegangen wäre: „Mann, hört auf. Ludwig ist halt einfach n bißchen frühreif!“ Vielleicht ist Ludwig auch einfach nur ein bißchen schlecht erzogen, denke ich. Er macht einfach immer, was er will. Ich lasse von ihm ab und schaue wieder zur Wasseroberfläche.

      Gustav räuspert sich. Das macht er nur, wenn er eine seiner Predigten halten möchte. Genau das passiert: „Ich habe das Gefühl, je länger wir warten, umso schlechter wird die Stimmung“, sagt er im Oberlehrerton. „Wisst ihr, wenn man auf etwas wartet, dann wird die Zeit ewig lang. Wenn man gar nicht dran denkt, dann geschieht es einfach. Zum Beispiel, wenn man sich eine Zigarette anzündet, dann kommt immer der Bus!“ Ludwig und ich wechseln Blicke. Manchmal hat man echt das Gefühl, Gustav käme von einem anderen Gewässer. Keinen Schimmer, wovon der redet. „Zigarette…Bus…Was fürn Quatsch“, sagt Ludwig und wir müssen beide grinsen. Und aus dem gemeinsamen Grinsen wird ein Lachen. Wir lassen uns auf den Rücken fallen und halten uns die Bäuche. Gustav sieht uns erst verärgert an, dann muss er mitlachen. Wir lachen so sehr, dass wir in einer Sandwolke verschwinden.

      Die Sonne ist schon längst unter gegangen, als wir immer noch auf dem Rücken liegen. Die Wasseroberfläche ist jetzt ein dunkles