Christoph Weisser

Rehbusse und andere Missverständlichkeiten


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Anfang an missverstanden wurden; ob sie gar keine Sinnreihen oder Erkenntnisschritte abzubilden versuchten, sondern tatsächlich so aufzufassen waren, wie sie vorlagen: als zusammenhanglose Einzelstücke? Und doch nicht nur als solche, sondern eben auch als Rätselschriften, Enigmen, als Orakel, Vexierbilder und Kopfnüsse? Ja, vielleicht ermöglichte gar einzig ein solcher, leichtherziger und freimütiger Zugang eine gewinnbringende, resp. vergnügliche Lektüre dieser akribisch wirkenden Sentenzen? Diese neue These lohnte doch zumindest auf die Probe gestellt zu werden!

      Auf diese Weise entstand diese Publikationsidee, für welche sich eine kostenfreie, downloadbare Internetversion förmlich anbot: Liess sich doch die ungewöhnliche Textsorte so am besten testen und mit ihr, wer weiss, auch einen neuen Akzent in der Gegenwartsliteratur setzen.

      Im Verlauf der Projektbesprechung legte sich sogar nahe, noch einen kleinen Schritt weiter zu gehen: Wie, wenn die Rätselworte zum Zweck ihrer Entschlüsselung unmittelbar an die Intelligenz der Leserschaft appellierten? Wenn letztere quasi zum Kollaborieren aufgerufen wurde oder zu Hilfestellungen, die Verständnisschleier dieser Bonmots zu lüften? Was hinderte überhaupt daran, die Aphorismen als Fragestellungen zu präsentieren, resp. die Leserinnen dazu aufzurufen, aktiv Rückmeldungen zu geben mittels Deutungsvorschlägen, Urteilen oder Kommentaren?

      Je ein Beispiel eines solchen fand in der Folge der weiteren Entwicklung des Projektes schliesslich Eingang in die vorliegende Publikation. Dieses steht jeweils ohne Wertung unter jedem Textzitat kursiv gedruckt. Ob hilfreich oder (noch weiter) irreführend im Hinblick auf ein besseres Verständnis der Originale, will es immerhin als Vorschlag aufgefasst werden, wie jemand auf die oft bildhaften Gedanken eines Rätselwortes reagieren könnte…

      Natürlich bleibt es dem Leser freigestellt, nach seinem Belieben zu tun oder zu lassen, so wie es, seit es den Leserstatus gibt, schon immer sein Privileg gewesen ist. Aber alle, die sich inspiriert fühlen, sind eingeladen, die geheimnisvollen Seiten zu bereichern, indem sie auf www.rehbusse.blogspot.com eigene Kommentare zu den entsprechenden Texttiteln anfügen. Die Herausgeber sind jedenfalls gespannt, ob sich – dank der Leserschaft – dann doch eine Art „Sinnreihe“ oder irgendwelche „Erkenntnisschritte“ herausbilden aus dieser Sammlung kurioser Einfälle…

      Montréal, im Herbst 2014

      der Autor

       1233 Anderswo

      Als wäre ich aus einem Raumschiff abgesprungen, falle ich in ein feindliches Paradies: von mir lösen sich Fallschirme wie Hautschichten, während mich ausserirdische Speere und Lanzen begrüssen ohne mir im Geringsten zu schaden.

       Würde nicht bestreiten, dass ich nachts im Traum nicht auch schon nach anderen Existenzmöglichkeiten ausgeschaut hätte, die mir übrigens genauso wenig vertrauenswürdig erschienen sind.

       1257 Bengeln

      Der vornehme Saal war mit riesigen Farbschildern verhangen. Mit ihrem Zerschlag konnten neue Wirklichkeiten aufgebrochen werden.

       So quasi à la Rittertournier den Prinzessinnen von allen Fürstenhäusern Eindruck machen: ist es das? Respektive bemalte Schlosstore einschlagen, bis man zur Schatzkammer gelangt? Oder ist alles doch „galaktischer“ gedacht?

       1261 Kurzgeschichte

      Ich war ein Stein mit Sicht in den Bergen.

       Sag nur noch, dass sich Edelsteine schliesslich auch abkapseln. Und noch lange nicht alle gefunden werden! (So viel Eigenbrötlertum geht bei mir nicht durch. Denn was soll sonst der ganze Rest mit sich selber anfangen?!)

       1265 Jury

      Du schiesst mit deinem Blick Strahlen von einer Empore auf die in der Bahnhofshalle der Hauptstadt sich drehende grosse Weltkugel. Und da wo sie hinfallen - nicht auf der Kugel, in der Welt! - realisieren sich die schönsten Filme. Filme, die man achtsam aussucht, um dem fehlbaren Menschen den Geschmack an allem Lebenden zu bestärken.

       Wenn jeder Mensch eine „Welt“ ist, oder von mir aus nur schon ein Land seine eigene Kultur hat und sein Brauchtum, so lässt sich doch anhand seiner schönsten Eigenschaften ein sinnhaftes Leben bilden; und das darf dann allen Mut machen!

       1288 Situations-Check

      Es wurde Abend. Ich war in einer Sackgasse gelandet. Da gingen die Lichter an in der Strasse, in den Häusern. Musik bot auf zu einem Fest. Es war keine Sackgasse. Auf allen Seiten verbanden unzählige Gässlein die Strasse mit dem umliegenden Wohnquartier. Wenn ich denn bliebe, so wär es freiwillig.

       Ja, komm bleib doch, sei gemütlich. Was willst du auch immer an den verlorensten Ecken (allein) herumzigeunern.

       1307 Tagesheiliger (14.Februar)

      Valentin hatte einen Herzfehler, welcher zur Folge hatte, dass sich der Kern des Privattypischen eines jeden Menschen vollkommen in sein formbares Herz einpasste und er nicht anders reagieren konnte als mit einem Blutverlust in Richtung dessen, der diesen Schmerz verursachte. Das war für das Gegenüber sehr wohltuend, weil er sich von Valentin im eigenen Wesen erkannt, verstanden und bejaht fühlte. Ein Phänomen, das wir die romantische Zuneigung nennen.

       Ich hoffe, es gibt noch gesündere Varianten, „Barmherzigkeit“ zu leben? Besonders romantisch scheint mir das nicht, wenn einem dabei fast übel wird.

       1312 "Inception“

      Auf der ganzen Erdoberfläche war ich herumgeschweift. Wie auf einer Scheibe. Alles war unvorstellbar schön. Nur ich war getrennt. Ich weiss nicht, weshalb Gott sich meiner zu erbarmen entschloss, aber am Tag X fand ich… den Eingang. Und alles, was ich gesehen hatte, kehrte sich um. Ich staunte nicht mehr verloren, ich war im sinnlichen Bezug zur Wirklichkeit. So nah vor meinem Tod.

       Diese „Trennung“ da… Da wird doch absichtlich eine „kreative“ Spannung vorgeschoben? Damit der Betreffende möglichst „eindrücklich“ wirkt, im Sinn von Finger-, Fuss-, Gesichts- oder sogar Ganzkörper-Ein- oder –Abdrücken?! Hm…

       1313 Kontrollturm

      Ich hatte das Empfinden, dass an der Stelle meines Gehirns die Winde bliesen. Und ich schrie nach dem Geist, dass er meine Gedanken ordne, damit ich die Schöpfung auf hilfreiche Art berühren kann.

       Das klingt ja fast nach Geisteraustreibung in Bezug auf die eigene Vernunft?! Der beste PC spukt zwischendurch. Das heisst noch nicht, dass man damit nicht zuverlässig arbeiten kann?!

       1314 Verkehrt geht auch?

      Alles war schief gelaufen, und ich war zufällig bei der Erdachse gelandet. Es war kalt, einsam und schön hier. Wenn ich nun diese Achse drehen würde, wie eine Leier, würde dann alles ins Lot kommen? Ich legte aber anders Hand an und zwang die Achse in die Knie, bis sie sich bis zum Südpol hinunterbeugte.

       Ja genau, verkehrt geht auch. So kommt man erst auf neue Gedanken!

       1315 Politik der Vergangenheit

      Nie mehr konnte ich jenen Oktober vergessen, wo der Horizont häufig rot wurde. Nicht etwa bloss am Abend oder am Morgen oder weil der Herbst die Blätter verfärbte. Sondern einfach so an beliebigen Stellen am Tag. Vielleicht waren ja nur meine Augen entzündet gewesen, die Iris, die Pupille, aber diese Farbe hatte so etwas Tröstliches, dass ich meinen ganzen Kalender nur noch nach diesem Oktober auszurichten versuchte.