tut es dir gut, dieses Haus einfach mal für eine Weile zu verlassen“, schlägt sie vorsichtig vor.
In seinem Blick liegt etwas, das sich schwer definieren lässt. Ist es Wut? Enttäuschung? Oder einfach nur die Leere, die er in sich fühlt? Wortlos steht er auf, nimmt seinen Rucksack und macht sich auf den Schulweg. Felicitas räumt seufzend die unberührten Cornflakes in den Schrank und lehnt sich gegen die Arbeitsplatte. So kann es nicht weitergehen. Sie muss etwas unternehmen. Auch sie macht sich auf den Weg zur Arbeit, wo es ihr schwerfällt, sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren.
„Vielleicht wäre es gut, wenn du dich jemandem anvertrauen würdest“, hatte Herr Vancier, der Schuldirektor, am ersten Tag nach der einwöchigen Unterrichtspause versucht.
„Wenn ich darüber sprechen muss, sterbe ich“, hatte Pierre ihm in wenigen Worten sehr überzeugend versichert.
Seitdem herrscht Schweigen. Max ist der Erste, der Pierre auf das Schulfest anspricht. Das Schulfest. Dark Raven. Ja, das ist eine Aufgabe, die er zu erledigen hat.
„Die können sich auf mich verlassen – auch in Krisenzeiten.“ Das will er seinen Schulkameraden beweisen.
Beim Rückweg von der Schule nach Hause wird sein Fahrrad immer langsamer. Nur mit Mühe lässt es sich durch das Tor die Einfahrt hinaufschieben. In die Garage stellt Pierre es nicht mehr, um sich den Anblick der beiden Autos zu ersparen. Jeden Tag wird es schwerer, die Tür aufzuschließen und das Haus zu betreten. Immer noch klingt Mamans Stimme in seinem Ohr. Als Immobilienmaklerin hatte sie flexible Arbeitszeiten, ihn immer gut gelaunt begrüßt und gefragt, was er sich am Abend zu essen wünschte. Jetzt ist es ihm egal, was es zu essen gibt.
Pierre wirft seinen Rucksack auf die erste Stufe der Treppe und geht aus reiner Gewohnheit in die Küche. Dort liegt ein Zettel seiner Tante auf dem Tisch. „Komme heute Abend früher nach Hause und möchte dich gern zum Eisessen einladen. Feli“ Er zieht die Stirn kraus.
„Eis. Ich hab keine Lust auf Eis. Ich will mein altes Leben zurück, und das passt in keine Eiswaffel!“
Seine Hand greift nach dem Zettel, zerknüllt ihn und wirft ihn ins Spülbecken. Er geht nach oben in sein Zimmer. Dort versucht er endlich, die Mail an Dominic zu schreiben, in der er nach dem Equipment für die Band fragt.
Immer wieder löscht er das Geschriebene. Nach einer Stunde ist die Nachricht von zwei Sätzen endlich auf dem Weg. Pierre lässt sich erschöpft auf sein Bett fallen. Gedankenfetzen jagen durch seinen Kopf, und der Strudel beginnt wieder sich zu drehen. Nein, bloß nicht grübeln! Mit den Gedanken und Bildern jagt das Karussell immer schneller, bis Pierre weiß, dass er es nicht schafft, sich noch einmal aus dem Loch zu ziehen. Er springt auf, nimmt seine Sporttasche aus dem Schrank und beginnt wahllos Klamotten hineinzuwerfen.
Jemand dreht den Schlüssel im Schloss der Haustür. Felicitas kommt von der Arbeit.
„Pierre?“, ruft sie und geht in die Küche.
Beim Füllen des Wasserkochers entdeckt sie den zusammengeknüllten Zettel im Becken. Entmutigt stellt sie den Kocher ab, nimmt das Papierknäuel und wirft es in den Müll. Pierre kommt zur Tür hereingestürmt. Er hält seine Sporttasche in der Hand und sieht seine Tante an.
„Ich bin fertig“, sagt er. „Von mir aus können wir los.“
Felicitas versteht nicht, was er meint. Sie sieht auf die große Tasche, aus der Kleidungsstücke heraushängen.
„Wir können los? Ja, wohin denn?“, fragt sie verwirrt.
„Na, du wolltest doch heute Morgen noch zurück in deine Wohnung. Wir können los.“
Felicitas begreift langsam und lächelt. Noch bevor es sich Pierre wieder anders überlegt, greift sie nach ihrem Schlüssel, und sie verlassen das Haus. Im Auto fragt Pierre:
„Und was ist mit deinen Sachen?“ Das sind seit Wochen die ersten Fragen, die er ihr stellt, die ersten Sätze, die er an sie richtet.
„Die wenigen Teile kann ich später noch holen“, antwortet sie erleichtert.
Felicitas’ Wohnung ist behaglich. Als kleiner Junge war Pierre sehr oft hier. Sie hatten damals zusammen auf der Dachterrasse den kleinen wilden Topfgarten gepflegt. Einer der Pflanztöpfe war seiner gewesen. Im einen Jahr hatte er eine riesige Sonnenblume aus einem kleinen Kern gezogen, im anderen einen Thymianstrauch versorgt, der jedoch irgendwann doch vertrocknete.
„Du kannst das Gästezimmer nehmen und es dir einrichten wie du willst.“
Felicitas kommt zu ihm auf die kleine Dachterrasse. Der Blick hinüber zur Stadt ist von hier aus irgendwie schöner als anderswo. Sie legt vorsichtig eine Hand auf Pierres Schulter. Nebeneinander stehend, schauen sie über die Dächer der Häuser in Universitätsnähe. Pierre dreht sich nicht weg, und nach einer Weile legt er seinen Arm um die Taille seiner Tante. Hier in ihrer Welt ist es leichter, ihre Nähe und Fürsorge zuzulassen.
„Ich vermisse sie so“, sagt er leise und schaut ins Weite.
„Ich weiß“, antwortet Felicitas. „Ich vermisse sie auch.“
Als er seinen Arm löst und in die Wohnung geht, setzt sich Felicitas in einen der verwitterten Korbsessel und lässt ihre Blicke auf dem Horizont ruhen, den man hinter den Häusern erahnen kann. Die Geräusche von Schubladen, die im Gästezimmer geöffnet und wieder geschlossen werden, und das Quietschen der Tür des Kleiderschranks, deren Scharniere einen Tropfen Öl gebrauchen könnten, erleichtern sie. Pierre räumt seine Sachen ein und scheint bleiben zu wollen. Die erste Hürde ist genommen auf dem langen Weg seiner Trauer.
Die Nacht in Felicitas Gästezimmer ist die erste ohne Albträume. Pierre liegt im Bett und horcht erstmals nicht auf die Geräusche des Hauses, in dem er sein ganzes bisheriges Leben zusammen mit seinen Eltern verbracht hat. Seit dem Unglück hatte er in allen Nächten auf Zeichen geachtet, die womöglich die Ankunft seiner Eltern ankündigen - das Drehen ihres Schlüssels im Türschloss, ihre leisen Schritte und Stimmen. Vielleicht waren sie ja gar nicht in das Flugzeug gestiegen. Vielleicht hatten sie ihren kurzen Urlaub einfach verlängert und würden irgendwann überraschend zurückkommen. Eine verzweifelte Hoffnung, an die er sich klammerte und doch spürte, dass sie vergebens war. Hier in der Wohnung seiner Tante kann er sich hinlegen, die Augen schließen und einfach einschlafen.
Die darauf folgenden Tage zeigen, dass die Entscheidung, das Haus und die gewohnte Umgebung zu verlassen, genau die richtige war. Pierre nimmt inzwischen sogar am Fußballtraining wieder teil. Die Vorbereitungen für das kurz bevorstehende Schulfest laufen auf Hochtouren und lenken ihn ab. Die Aufregung über das Konzert von Dark Raven zum Abschluss des Schuljahres lässt ihm kaum eine ruhige Minute, und Felicitas freut sich über Pierres Engagement für den Auftritt der Band. Natürlich ist auch sie eingeladen.
Der Anblick von Pierres strahlendem Gesicht, als er am Tag der großen Fete zusammen mit dem Bandleader die Bühne betritt, versöhnt sie für einen Augenblick mit dem Schicksal. Dominic, Star der Gruppe Dark Raven, klopft seinem Freund aus Kindertagen auf die Schulter, bevor er einen Akkord auf seiner Gitarre spielt und die Menschen in der Sporthalle der Schule zum Jubeln bringt.
„Ich freue mich, dass wir hier bei euch spielen können“, sagt er zur Begrüßung ins Mikro. „Und ich freue mich besonders, dass ihr die Ersten seid, die einige Songs zu hören bekommen, die auch auf unserer ersten CD sind.“
Erneut jubeln die Konzertbesucher. Dann hebt Dominic die Hand.
„Bevor es losgeht, möchte ich eine Schweigeminute für die verstorbenen Eltern von Pierre einlegen, die Freunde meiner Eltern und auch meine Freunde waren.“
Plötzlich ist es so still in der Halle, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. Pierre schluckt und starrt Dominic an, der seine Gitarre von der Schulter nimmt, auf den Boden legt und seine Augen schließt. Nach einer Weile, in der alle Anwesenden schweigend den Blick auf den Boden richten, nimmt Dom die Gitarre auf und spielt einen kurzen langsamen Song. Als der letzte Akkord erklingt, lässt er kaum eine Chance für Applaus, sondern fegt plötzlich