Edith Stein

Aus dem Leben einer jüdischen Familie


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seiner Braut jahrelang gegen den Willen meiner Mutter fortgesetzt, und schließlich, weil er ihre Einwilligung zur Verlobung nicht erlangen konnte, heimlich das Haus verlassen. Meine Schwester Erna und ich waren damals noch Kinder. Wir wachten eines Abends auf und sahen unsere Mutter weinen. Wir liefen zu ihr hin, kletterten auf ihren Schoß und suchten sie zu trösten. Erst nach Jahren haben wir erfahren, daß an jenem Abend unser ältester Bruder vermißt wurde und daß unsere andern Geschwister ihn suchten. Er war seiner Braut nach Berlin nachgereist und meldete sich erst schriftlich von dort. Die Ehe wurde geschlossen, die Hochzeit als Familienfest von uns gefeiert, das junge Paar in allen Notfällen selbstverständlich unterstützt, das älteste Enkelkind mit der zärtlichsten Liebe umgeben — aber ein herzliches Verhältnis zur Schwiegertochter hat sich niemals hergestellt, obgleich meine Schwägerin Trude sich immer wieder darum bemühte.

      Mein Bruder Arno hat seine Braut im Einverständnis mit meiner Mutter und uns allen gewählt. Sie war eine alte Freundin unserer Familie, eine Klassengefährtin meiner Schwester Else vom Seminar her. Sie war sehr jung mit ihren Angehörigen nach Amerika gegangen, hatte dort geheiratet, aber die Ehe später wieder gelöst. Sie verdiente sich selbst ihren Unterhalt und verwandte ihre Ersparnisse zu Reisen nach Deutschland, um meine Schwester in Hamburg und uns in Breslau zu besuchen. Sie war sehr lustig, laut und lebhaft und brachte immer viel Leben in unser ruhiges Haus. Sie hatte wohl längst die Heirat mit meinem Bruder ins Auge gefaßt, ehe er selbst auf den Gedanken kam. Sie war überglücklich, als ihr Wunsch in Erfüllung ging, und wurde mit Freuden in die Familie aufgenommen. Das junge Ehepaar zog sogar in unser eigenes Haus, das wir kurz zuvor gekauft hatten; ja, anfangs versuchte man sogar einen gemeinsamen Haushalt zu führen. Aber auch hier war kein harmonisches Zusammenleben möglich. Was meine Mutter an meinen beiden Schwägerinnen beständig kränkt, ist, daß sie beide nicht gelernt haben, einen geordneten Haushalt zu führen. Die eine ist musikalisch begabt und hat immer viel Zeit zum Stundennehmen und Stundengeben gebraucht. Die andere liebt es, Einkäufe und Besuche zu machen und immer neue Anregungen außerhalb des Hauses zu suchen. Und beide sind meiner Mutter durchaus wesensfremd. So gütig und hilfsbereit meine Mutter sonst allen Menschen gegenüber ist, gegen gewisse Charakterfehler ist sie durchaus unduldsam: das sind vor allem Unwahrhaftigkeit, Unpünktlichkeit und ein übersteigertes Selbstbewußtsein. Leute, die am liebsten von sich selbst sprechen und ihre eigenen Leistungen nicht genug rühmen können, sind ihr unerträglich, und sie gibt ihrem Mißfallen auch unverhohlen Ausdruck. Sie war immer sehr unglücklich, wenn wir ihr — halb im Scherz, halb im Ernst — manchmal sagten, daß sie eine schlechte Schwiegermutter sei. Es ist aber die stark ausgeprägte Familieneigenart ein großes Hemmnis für die Aufnahme fremder Elemente. Das Urteil: „Die sind ganz anders als wir“ bedeutete im Munde meiner Mutter und meiner Schwestern Frieda und Rosa immer einen entschiedenen Trennungsstrich. Meine Brüder sind dadurch in eine schwierige Lage gekommen, und nur eine große Herzensgüte und Treue machte es ihnen möglich, einen Bruch zu vermeiden. Beide leben glücklich mit ihren Frauen und stehen in andern Dingen stark unter ihrem Einfluß. Aber meine Schwägerinnen wissen, daß sie an das Verhältnis zur Mutter nicht rühren dürfen; die Anhänglichkeit an sie ist unvermindert geblieben. Mein Bruder Paul kommt die ganzen Jahrzehnte hindurch, seit er verheiratet ist, am Freitagabend in das Haus seiner Mutter, um den Sabbatbeginn zu feiern. In den ersten Jahren kam meine Schwägerin mit. Da sie es aber nie fertig brachte, pünktlich zu erscheinen, sich oft eine Stunde und mehr verspätete und dadurch immer wieder Ärger erregte, blieb sie schließlich zu Hause und ließ ihn allein gehen. Das andere Paar nimmt das Abendessen mit seinen vier Kindern zu Hause und kommt erst hinterher zu uns. Sobald meine Schwägerin Martha im Zimmer ist, braucht niemand mehr für Unterhaltung zu sorgen. Sie hat immer einen ganzen Vorrat von lustigen Geschichten auf Lager und vergnügt sich damit, alle Anwesenden zu necken. Es ist der Ton, in dem sie mit ihrer Mutter und Schwester zu verkehren gewöhnt war, und es ist ihr nicht leicht gewesen, sich bei so ernsthaften Menschen einzuleben. In einem ausgebreiteten Freundes- und Bekanntenkreis findet sie die Resonanz, die in der Familie fehlt. Meine Mutter ärgerte sich immer, wenn Martha nicht genug von Amerika schwärmen konnte. Sie selbst ist immer eine deutsche Patriotin gewesen. Sie hat im Jahre 1871 geheiratet, und das Hochzeitslied ist auf die Melodie: „Es braust ein Ruf wie Donnerhall“ gedichtet worden. Darum kann sie auch heute gar nicht darüber hinwegkommen, daß man ihr ihr Deutschtum abstreiten will.

      Neben meinem Bruder Arno wirkt seit Jahrzehnten als treue Stütze unserer Mutter im Geschäft meine Schwester Frieda. Unser Ältester hat uns als Kindern allen Spitznamen gegeben. Frieda war der „Frosch“. Von den andern Geschwistern unterschied sie sich durch ein ausgesprochenes Phlegma. Sie hat wohl am wenigsten theoretische Begabung mitbekommen und mußte sich in der Schule sehr plagen. Sie brauchte lange Zeit, um sich etwas einzuprägen, dann saß es aber sehr fest. Es machte ihr Freude, die Gedichte, die sie für die Schule auswendig lernen mußte, immer wieder laut herzusagen. Dadurch habe ich schon als kleines Kind Schillers und Uhlands Balladen kennen gelernt und mit fünf Jahren „Bertran de Born“ auswendig deklamieren können. Durch ihren großen Fleiß gelang es ihr, den Klassenanforderungen zu genügen und die höhere Mädchenschule (wir haben alle die Viktoriaschule besucht) ohne Anstoß zu absolvieren. Dann erlernte sie den Haushalt und auf einer Handelsschule Buchführung. Von ihrer Einführung in die häuslichen Geschäfte hat sich mir ein Bild unauslöschlich eingeprägt: sie sollte die Küche scheuern; dazu nahm sie in der Mitte der Küche auf einem Stuhl Platz und begann mit der Scheuerbürste den Fußboden um sich herum zu bearbeiten. Das laute Gelächter der Zuschauer brachte sie schnell auf die Beine. Schwere körperliche Arbeit hat ihr nie gelegen, nicht nur aus Bequemlichkeit, sondern weil sie sehr klein und schwächlich war. Dagegen hatte sie Talent, einen Haushalt einzurichten und zu leiten. Es machte ihr große Freude, Pläne für die Einrichtung einer Wohnung zu entwerfen. Und seit wir im eigenen Hause wohnen, liebt sie es, von Zeit zu Zeit eine Umorganisation vorzunehmen. Ebenso gern entwirft sie Lebenspläne für sich und andere. Sie hat auch Geschick und Liebe zu Handarbeiten; ihre Aufgabe ist es, die Wäsche in Ordnung zu halten und auch neue für die ganze Familie zu nähen; in den letzten Jahren, seit es im Geschäftsbetrieb sehr still geworden ist, hat sie sich eine große Fertigkeit im Stricken von Wollsachen erworben, um damit alle Angehörigen zu versorgen. Im Geschäft führt sie die Bücher und versieht die Kasse. Sie ist nicht so großzügig wie meine Mutter, wirkt aber sehr nützlich als hemmendes Element, das vor gewagten Unternehmungen warnt, vor allem wenn die andern sich überreden lassen wollen, unsicheren Kunden auf „Pump“ zu geben.

      Meiner Mutter ist sie immer eine gehorsame Tochter gewesen und ist noch heute gewöhnt, sich wie ein Kind befehlen zu lassen. Ihre eigene erwachsene Tochter protestiert jetzt häufig und nennt die Großmutter einen „Diktator“, wenn sie sie mit dem Kommando „Frieda, hopp!“ dahin oder dorthin schickt. Ihre beiden jüngsten Schwestern sind von ihr mit erzogen worden; wir haben mit großer Liebe und zugleich mit Respekt an ihr gehangen. Sie teilte alle unsere Schulfreuden und -leiden, war für uns überaus ehrgeizig und nur mit den besten Noten zufrieden, immer hilfsbereit — mir hat sie meine Schulaufsätze aus dem Konzept in die Reinschrift diktiert und später meine großen Arbeiten getippt — und wußte sehr schön mit uns zu spielen. Aber sie ließ keine kindliche Unart durchgehen, und wenn wir ungezogen waren, mußten wir sie abbitten, ehe sie wieder mit uns sprach. Wie sie äußerlich auf sich hielt, ihre Kleider sorgfältig schonte und immer in Ordnung hatte, so war sie streng auf moralische Sauberkeit bedacht. Es läßt sich nicht leugnen, daß dieses Tugendstreben einen Anstrich von Selbstgerechtigkeit hatte und daß sie zu scharfen Urteilen über andere neigte. Als Einzige aus der Familie hat sie ein Tagebuch geführt. Ihr stilles und gleichförmiges Leben hat eine kurze, an harten Erfahrungen reiche Unterbrechung gefunden, als sie sich entschloß zu heiraten.

      Meine Schwestern Frieda und Rosa kamen wenig mit Menschen außerhalb des Verwandtenkreises zusammen. Da Frieda sich nach einer eigenen Häuslichkeit sehnte, ließ sie sich zu einer „vermittelten Partie“ bestimmen. Ich war damals noch Gymnasiastin. Aber nach dem ersten Besuch des Bewerbers wandte ich meine ganze Beredsamkeit auf, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Auch unsere Verwandten rieten entschieden ab. Aber meine Schwester war nicht mehr umzustimmen, und selbst meine kluge Mutter ließ damals den klaren Blick durch ihre Wünsche trüben. Der Bräutigam war Witwer und hatte zwei schon ziemlich große Kinder. Meine Schwester freute sich darauf, ihnen Mutter zu sein, und auch sie kamen ihr freundlich entgegen. Den Anlaß zur Trennung gaben die wirtschaftlichen