Edith Stein

Aus dem Leben einer jüdischen Familie


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heute ist es ihre Freude, sich täglich von dem Wachstum zu überzeugen und Erdbeeren, Bohnen, Erbsen und Tomaten selbst zu pflücken. Gewiß hat der ständige Aufenthalt in frischer Luft dazu beigetragen, sie bis ins hohe Alter rüstig und frisch zu erhalten. Auch bei bitterer Winterkälte kam sie gewöhnlich mit warmen Händen nach Hause und konnte mir noch die meinen wärmen. Das ist mir immer ein Symbol dafür gewesen, daß alles Leben und alle Wärme im Hause von ihr kamen. Aber rechtschaffen müde war sie, wenn sie abends heimkam. Zuerst mußten immer die Schuhe von den schmerzenden Füßen. Zum Abendessen nahm sie am liebsten nur Tee und Butterbrot. Und wenn nichts Dringendes vorlag, ging sie dann bald zu Bett. Dabei sagte sie gewöhnlich mit großem Behagen: „Das Beste auf der Welt ist mein Bett“. Weil sie selbst die Ruhe so nötig hatte, war es ihr immer schrecklich, jemand anders zu wecken. Sie hat oft gesagt: „Es ist die größte Sünde, einen Menschen im Schlaf zu stören“. Das wirkt bei mir heute noch nach. Wenn ich früh den Kopf aus den Kissen hob, winkte sie mir gewöhnlich ab: „Bleib, bleib, es ist noch lange Zeit“.

      Wenn sie sich abends zur Ruhe gelegt hatte, ließ sie sich sehr gern noch vorlesen. Mit der größten Freude besorgte das mein ältester Bruder, und er war mit solchem Eifer dabei, daß er von Zeit zu Zeit fragte: „Hörst du?“. Meine Mutter fuhr dann auf, sagte: „Ja, ja“ und schlief sofort wieder ein. Sie träumte sehr lebhaft und sprach oft laut aus dem Schlaf, manchmal so, daß man ganze Zwiegespräche verfolgen konnte. Bis zu meinem 6. Jahre schlief ich bei meiner Mutter; viele von den vorgelesenen Erzählungen, die sie verschlief, habe ich angehört, was natürlich keineswegs beabsichtigt war. Das war noch in der Jägerstraße. Die Wohnung bestand dort aus drei großen Zimmern und einem „Kabinett“. Das „gute Zimmer“ bewohnte meine Schwester Else. Sie hatte einen Schreibtisch darin und arbeitete oft bis in die Nacht hinein; manchmal löschte ihr meine Mutter die Lampe aus. Ein zweites Zimmer hatten „die Jungen“. „Die Mädel“ mußten sich mit dem fensterlosen Kabinett begnügen, das nur von dem Schlafzimmer meiner Mutter Licht und Luft bekam. Wenn ich mich recht erinnere, haben sie anfangs auch Erna noch bei sich gehabt. Später waren wir beide bei der Mutter untergebracht. In diesem Zimmer stand auch der große Eßtisch.

      Zeitweise war das „gute Zimmer“ noch an einen Studenten vermietet. Einmal war es ein Jurist aus guter katholischer Familie. Es war fast unvermeidlich, daß er sich in meine schöne Schwester Else verliebte. Es kam auch zur Verlobung; sie wurde aber wieder gelöst, wohl weil beide Familien wegen der Glaubensverschiedenheit dagegen waren.

      Zu den Abendgeschäften gehörte das „Kassemachen“. Die Losung des Tages mußte festgestellt und in ein Kassenbuch eingetragen werden. Es waren oft Geldrollen dabei, die aufgemacht und nachgezählt werden mußten. Mit solchen Rollen spielte ich gern. Einen Kunden gab es, der gewöhnlich mit Rollen von Geldstücken zahlte. Die gefielen mir besonders gut, und ich bat oft: „Gib mir doch eine Pukade“. (Das war der Name des Kunden). Überhaupt lernten wir unversehens die Kunden und den ganzen Geschäftsbetrieb kennen. Meist waren es Handwerker, mit denen meine Mutter zu tun hatte. Sie kannte von jedem die ganze Familiengeschichte. Die erfuhr sie gewöhnlich, wenn die Leute Waren ohne Geld haben wollten oder die Wechsel, mit denen sie zahlten, nicht einlösen konnten. Meine Mutter ist immer wieder ihrem guten Herzen gefolgt; manchmal hat sie den „faulen Kunden“ noch Geld hinzugegeben, wenn sie in Not waren. Sie ist viel betrogen worden, und das Geschäft hat immer mit großen Verlusten gearbeitet. Trotzdem ging es voran. Meine Mutter hat das immer dem Segen von oben zugeschrieben. In späterer Zeit, als ich meinen Kinderglauben verloren hatte, sagte sie mir einmal, gleichsam als ihren Gottesbeweis: „Ich kann mir doch nicht einbilden, daß ich alles, was ich erreicht habe, meiner Kraft verdanke“. Das war gewiß richtig. Aber ihre natürlichen Gaben haben doch auch mitgewirkt. Eines Tages besuchte uns eine alte Freundin meiner Mutter und sagte: „Ich muß euch doch gleich erzählen, was ich eben in der Straßenbahn gehört habe. Ein paar Herren unterhielten sich vom Breslauer Holzhandel, und einer sagte: „Wissen Sie, wer hier der tüchtigste Kaufmann in der ganzen Branche ist? Das ist die Frau Stein ...“

      Aus der Welt der beiden Jüngsten

       1.

      Die Mutter, die Geschwister, der große Verwandtenkreis, der Holzplatz — das war die Welt, in der die beiden Jüngsten heranwuchsen. Meine Schwester Erna und ich lebten miteinander wie Zwillinge. Sie ist ein Jahr und acht Monate älter als ich — als kleines Kind fragte ich einmal, wie es käme, daß sie manchmal 1 Jahr und manchmal 2 Jahre älter sei — und wir waren äußerlich und innerlich sehr ungleiche Zwillinge. Erna war immer groß und kräftig für ihr Alter, hatte zwei lange und dicke braune Zöpfe, große dunkle Augen, das Gesicht weiß und rosig wie ein Schneewittchen. Ich war klein und zart, trotz aller Pflege immer blaß, die damals blonden Haare (später sind sie nachgedunkelt) trug ich meist offen, nur mit einem Band zusammengehalten. So hielt man dem Äußeren nach Erna meist für viel älter als mich. Freilich, sobald ich zu reden anfing, staunte man, was für eine Naseweisheit der „Knirps“ entfaltete. Im zoologischen Garten meines Bruders war Erna die „Krähe“ und ich die „Mietzekatze“. Ob ich den Namen dem Umstand verdankte, daß meine großen Brüder gern mit mir wie mit einem Kätzchen spielten, oder der Farbe meiner Augen oder der Gewandtheit, mit der ich mich in allen Ringkämpfen mit den Großen immer auf den Füßen zu halten wußte und niemals „unterkriegen“ ließ, das weiß ich nicht. Die Krähe besagte jedenfalls, daß Erna leicht zu reizen war, daß ihre Zornesausbrüche sich aber zu Rosas verhielten wie das Schreien der Krähe zum Gebrüll des Löwen. Es waren nur leichte und rasch vorüberziehende Gewitter.

      Im übrigen war sie ein gutes und leicht lenkbares Kind. Die älteren Schwestern sagten von ihr gelegentlich, sie sei durchsichtig wie klares Wasser, während sie mich ein Buch mit sieben Siegeln nannten. Wir waren als Kinder fast nie getrennt, machten gemeinsam unseren Schulweg und unsere Ferienreisen, trugen gleiche Kleider (die neuen Sommerkleider bekam ich gewöhnlich im Februar zu Ernas Geburtstag, die neuen Winterkleider im Oktober zu meinem). So lange unsere Lektüre von den älteren Schwestern sorgfältig überwacht und bestimmt wurde, lasen wir auch dieselben Bücher — dagegen protestierte Erna gelegentlich, weil sie doch älter sei und ich darum erst später an dieselben Sachen herandürfte. Aber das war nur eine augenblickliche Anwandlung. Für gewöhnlich war sie mit dem Zwillingsdasein sehr zufrieden. Wir hatten auch unsere Freundinnen wenigstens so weit gemeinsam, daß eine von denen der andern mit eingeladen wurde. Erna kam ganz normal nach beendetem 6. Lebensjahr zur Schule; sie tat ihre Pflicht, ohne sich besonders anzustrengen, war immer eine recht gute, aber keine hervorragende Schülerin. Ehrgeiz war ihr völlig fremd, außerhalb der Schule zeigte sie keine besonderen wissenschaftlichen Interessen. Leichte Unterhaltungsbücher las sie gern, wie das Lesen in unserer Familie überhaupt eine große Rolle spielte; nach schwerer Kost hatte sie kaum Verlangen.

      Als sie in der 1. Klasse der höheren Mädchenschule war, äußerte sie den Wunsch, danach in das Mädchenrealgymnasium überzugehen, das seit einigen Jahren darauf aufgebaut war; er wurde ihr ohne weiteres gewährt. Sie war damals noch nicht für ein bestimmtes Studium entschieden. Ich hatte den Eindruck, daß es ihr überhaupt noch nicht um einen Beruf zu tun war; sie wollte gern noch länger in der gewohnten und lieben Umgebung bleiben, der Entschluß einer Freundin wirkte wohl auch etwas mit. Es war aber bei der ganzen Einstellung unserer Familie selbstverständlich, daß der Gymnasialbesuch keine Luxusangelegenheit sein konnte, sondern Vorbereitung auf ein ernstes Berufsstudium. Da sie neue Sprachen gern und leicht lernte, dachte sie am ehesten an das Philologiestudium. Ich hatte schon mit 6 Jahren, als unsere Schwester Else das Lehrerinnenexamen machte, erklärt, ich wollte auch Lehrerin werden. So malten sich unsere Verwandten gern aus, wie wir später einmal gemeinsam unsern Beruf ausüben würden. Aber es sollte anders kommen. Als Erna ihr Abitur gemacht hatte, lud unser Onkel David, ein Bruder meiner Mutter, sie für ihre „Muluszeit“ zu sich ein und mich zur Gesellschaft mit. Es waren herrliche Ferien in dem großen Apothekershaus in Chemnitz. Meine Tante war das einzige Kind sehr wohlhabender Eltern und verstand es, ein großes Haus zu führen, sich mit erlesenem Geschmack zu kleiden und für gesellige Freuden zu sorgen. Da sie selbst keine Töchter hatte, fand sie einen besonderen Reiz darin, die jungen Nichten wenigstens für die Dauer des Besuchs in elegante Damen zu verwandeln. Die Freunde des Hauses bemühten sich um die Wette, uns zu erfreuen: