Frank Habbe

Taschengeld


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fehlen.“ Das er das Geld freiwillig liegengelassen hatte, behielt Malik lieber für sich.

      04:07:51

      Nach dem Telefonat ging der Mann zu der Mikrowelle. Matschig und lauwarm lag die Pizza auf dem Teller. Er warf sie in den Mülleimer. Das Gespräch hatte nicht lange gedauert. Schon als der Mann die Stimme Schlossers erkannt hatte, wusste er, dass es Arbeit gab. Sein Auftraggeber war einfach nicht der Typ, der eine offene Rechnung stehen ließ. Auch wenn es die letzte war. In einer Stunde sollte er bei ihm sein.

      Der Mann duschte, zog ein weißes Hemd und eine dunkle Baumwollhose über. Dann ging er in den Flur zu seinen Schuhen, die dort sorgfältig geputzt auf einem kleinen Brett standen. Er entschied sich für ein Paar schwarzer Halbschuhe mit bequem dämpfender Sohle. Im Hinausgehen griff er nach dem am einzigen Haken hängenden grauen Mantel und einer Mütze. Er sah auf die Uhr. Mit dem Bus sollte er es pünktlich nach Charlottenburg schaffen. Sorgsam zog er die Wohnungstür zu, schloss ab und ging die Stufen in dem dunklen, feuchtklammen Treppenhaus hinunter auf die Straße.

      Ein kühler, nach moderndem Herbstlaub stinkender Wind schlug ihm entgegen. Es hatte zu nieseln begonnen. Mit einer raschen Bewegung schlug er den Kragen hoch und ging zügigen Schrittes in Richtung Bushaltestelle. Eine nach den missratenen Schießübungen vom Morgen nicht zu erwarten gewesene Ruhe erfasste ihn.

      Nun war es also soweit. Schlossers letzter Auftrag stand an.

      04:07:30

      Das Wageninnere war mit bis zur Decke mit Equipment zur Observation vollgestopft. Neben all den Bildschirmen, Funkempfängern und Kameras war nur wenig Platz für die zwei lehnenlosen Stühle, auf denen sie seit dem frühen Morgen eng beieinander hockten. Seitdem beobachtete Krauser den flimmernden Monitor, der das Bild der auf Schlossers Büroeingang gerichteten Kamera einfing. Seit über drei Stunden tat sich nichts. Neben ihm schniefte Laarsen und rieb sich müde die Augen. Krauser unterdrückte ein Gähnen. Er nahm einen Schluck Kaffee und fragte sich, wie er diese Schicht annähernd wach überstehen sollte.

      * * *

      Natürlich war er nach den Monaten des therapeutischen Nichtstuns froh darüber gewesen, überhaupt bei der Truppe bleiben zu dürfen. Das sie ihn aus Hamburg versetzten, war ihm sogar gelegen gekommen. Mit seiner Personalakte ein Angebot für den Innendienstjob beim Berliner LKA zu bekommen, hatte glatt an einen Lottogewinn gegrenzt. Es hatte für ihn nach Großstadt, bequem, ohne Nachtschichten und kalte Füße geklungen. Seine Vorstellung von dem Job sollte sich mehr als bewahrheiten.

      In den vier Monaten, die seit seinem Einstieg vergangen waren, hatte er ausreichend Gelegenheit gehabt, die Kantine und all die umliegenden Lokale mit ihren preiswerten Mittagstischen genauestens kennenzulernen. Dazu bestimmt sämtliche Kaffeeautomaten des Präsidiums. Darüber hinaus war er mit all den pensionsreifen Beamten in der Disposition per du, da er dort andauernd Akten, Stifte oder CD-Rohlinge für Kollegen abzuholen hatte, die dazu keine Lust hatten. Innerlich hatte Krauser sich gefragt, warum sie ihn nicht auf die andere Seite des Tresens versetzt hatten. An richtige Fälle ließen sie ihn nicht und er bezweifelte, ob sich das jemals ändern würde. Ihm konnte es so nur recht sein. Pünktlich um halb fünf verließ er jeden Tag nach acht Stunden seinen Schreibtisch und fuhr in seine kleine Schöneberger Wohnung. Dort schmierte er sich ein paar Brote oder wärmte etwas in der Mikrowelle auf. Dann sah er fern, bis er müde wurde und ins Bett ging. Restaurantbesuche oder Freunde? Fehlanzeige. Davon hatte er in seiner Vergangenheit mehr als genug gehabt. Außerdem hatten ihm die Ärzte eindringlich geraten, es langsam angehen zu lassen. Genau das tat er, fand sogar Gefallen daran.

      Dann war der September extrem feucht und kalt dahergekommen und mit ihm die Krankmeldungen der Kollegen sprunghaft angestiegen. Mit einem Mal herrschte an allen Ecken Mangel und Bedarf. Für die Strippenzieher in der Verwaltung war Krauser mit seiner Erfahrung in Fahndung und Außendienst eine willkommene Verschiebungsmasse. So hatte sich er ein paar Tage später von seinem Sessel im Präsidium auf die ungepolsterten Hocker eines VW-Busses versetzt gesehen. Nur so lange, bis sich die Personalsituation wieder entspannte, wie ihm sein Chef wiederholt versichert hatte. Da war sich Krauser nicht so sicher.

      04:07:20

      Bei Aral tankte Malik den Wagen voll und deckte sich mit Red Bull, Snickers und einem welk aussehenden Käsesandwich ein. Dazu vier Packungen Marlboro Red. Er war zum Kofferraum gegangen und hatte einen Packen Fünfziger gegriffen. Es war ihm egal, dass er seine Bilanz so mit weiteren tausend Euro belastete. Den misstrauischen Blick des Tankwartes registrierte er nicht, als er beim Bezahlen die Scheine aus dem Bündel zog. Er war hundemüde, hatte er von den letzten fünfunddreißig Stunden vielleicht drei schlafend verbracht. Ihm war klar, dass er unbedingt einen Platz zum ausruhen brauchte. Aber vorher musste er aus Berlin verschwinden.

      Achtlos warf er die leere Hülle des ersten Snickers’ auf den leeren Beifahrersitz, als er in Richtung Stadtautobahn bog.

      * * *

      Nachdem er Andy von dem fehlenden Geld erzählt hatte, war der die ersten Minuten absolut still gewesen. Malik hatte sich bereits gefragt, wie lange der Schockzustand seines Mitfahrers andauern würde, als der sich an einer roten Ampel aus seiner Starre befreit und mit einem Ruck die Handbremse gezogen hatte. Verbunden mit einem „Du bist vollkommen durchgeknallt! Ich regle das jetzt!“ hatte er sich aus dem Auto geschwungen und war zur Heckklappe gegangen. Wie versteinert war Malik am Steuer sitzengeblieben, bis die Ampel auf grün umgesprungen war. Die Autos hinter ihm hatten zu hupen begonnen, aber Andy hatte die Heckklappe noch immer nicht aufbekommen. Sie hatte gehakt, mal wieder. Laut fluchend hatte Andy sich abgemüht, als Malik reflexartig die Handbremse gelöst und vehement aufs Gaspedal getreten hatte. Im Rückspiegel war der überraschte und wild gestikulierende Andy, der in seiner Wut gegen den Kotflügel des hinter ihnen wartenden Autos getreten hatte, immer kleiner geworden. Den weiteren Fortgang dieser Szene konnte Malik nicht mehr sehen. Er war bereits zu weit weg gewesen.

      04:07:00

      Genau eine Stunde nach dem Telefonat erreichte der Mann Schlossers Geschäft. Es befand sich im Erdgeschoss eines schmutzig grau verputzten Nachkriegsbaus und erschien an diesem herbstlichen Nachmittag abweisend und dunkel. Augenscheinlich war das Geschäft nicht dazu gedacht, Kundschaft in seine Räume zu ziehen. Kein Schild wies werbend auf Sinn und Zweck der Unternehmung hin, was offensichtlich ganz im Sinne des Betreibers war.

      Der dichter gewordene Regen tropfte beständig herab und trotz Schutz durch Mütze und Mantel durchdrang den Mann eine unangenehm kühle Nässe. Ohne an der Tür zu halten, ging er an dem Geschäft vorbei und bog rechts in die nächste Querstraße ein. Nach hundert Metern war zu seiner Rechten eine Toreinfahrt, in der er nach einem prüfendem Blick über die Schulter verschwand. Sie öffnete sich zu einem großen, mit alten Bäumen bestandenen Innenhof, der von tristen Wohnhäusern aus den Sechzigern umrahmt wurde. Zügig durchschritt der Mann den Hof, an dessen rechter Diagonalseite ein unscheinbarer, durch Abfallcontainer verdeckter weiterer Durchgang sichtbar wurde. Dieser war mit einem Stahlgitter versehen, welches der Mann unverschlossen vorfand. Nachdem er hindurch geschlüpft war, stand er in einem kleineren, dunklen Hof, der fast gänzlich mit älteren Autos zugeparkt war. Bis auf das Gurren der Tauben war es totenstill. Der Mann bahnte sich einen Weg durch das Autolabyrinth und stand schließlich vor einer gusseisernen, halb geöffneten Tür. Leise trat er hinein, ging durch einen kurzen, mit dunklem, abgewetztem Linoleum ausgelegten Flur. Von dort aus gelangte er in Schlossers Geschäft, an dem er vor wenigen Minuten draußen vorbeigegangen war.

      Der Raum war übersichtlich, maß vielleicht drei mal fünf Meter und beherbergte außer einem schweren Holzschreibtisch nur zwei altersschwache Bürostühle. An der Wand hinter dem Schreibtisch hing ein im Laufe der Jahre und unter Einfluss unzähliger Zigaretten vergilbtes Plakat mit technischen Zeichnungen von Automotoren.

      Ein untersetzter, pausbäckiger Mann mit breitem Schnauzbart und Mönchsglatze