Axel Birkmann

Der Mann, der den Weihnachtsmann erschoss


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sind lecker«, sagte er mit vollem Mund und biss nun auch die andere Seite der Wurst gierig ab.

      »Langsam, Alois, es nimmt dir keiner was weg. Wir sind doch nicht auf der Flucht.«

      »Ich hab Hunger«, entschuldigte er sich und biss ein weiteres Mal hinein. Melanie hatte ihre Wurst nicht einmal zur Hälfte geschafft, da wischte Alois sich schon den Mund mit der Serviette ab und schaute sehnsüchtig auf die verbliebenen Würste auf dem Spindelgrill.

      »Hast du etwa noch Hunger?«, fragte sie ihn erstaunt.

      »Das war schon mal ein guter Anfang. War lecker.«

      »Du Fressnase. Jetzt gibt es erst einmal einen Glühwein, dann sehen wir weiter. Es gibt ja auch noch ein paar andere Stände hier.«

      Melanie schritt langsam immer noch den Rest ihrer Wurst genießend zwischen den Buden hindurch Richtung Glühwein und Feuerzangenbowle. Vor einem Glühweinstand blieb sie stehen und deutete Alois mit dem Victoryzeichen an - zwei gespreizte Finger - er solle zwei Becher dieses teuflischen Getränkes holen.

      Das Essen bildete eine gute Grundlage für den Alkohol.

      Melanie und Alois standen wie ein älteres Ehepaar in ihren Drink vertieft an einem Bistrotisch und wärmten sich die Hände am heißen Becher. Während sie so dastanden und den Besuchern, die langsam an ihnen vorbei schlenderten, zuschauten, machte sich am anderen Ende des Freisinger Adventszaubers jemand ganz anderes auf, um die Besucher an diesem Abend in Verzückung zu bringen und sie gedanklich in ihre Jugend zurückzubringen: der Weihnachtsmann oder auch bekannt als der Heilige Nikolaus.

      Es war schon spät und er war noch nicht fertig. Eigentlich hasste er den Job. Aber was sollte er machen. Im Winter war das für ihn fast die einzige Möglichkeit Geld zu verdienen. Und so schlecht bezahlt war es nicht.

      Vor ein paar Jahren hatte ihn ein Freund darauf aufmerksam gemacht. Fast in allen Großstädten gab es zur Weihnachtszeit eigene Agenturen mit mehren Angestellten, die nichts anderes taten, als Familien- und Betriebsfeiern mit ihrer Anwesenheit zu beglücken, und Kindern wie Erwachsenen Tränen in die Augen zu treiben. Und so hatte es dann für ihn in Freising angefangen.

      Am Anfang nur ein paar unterbezahlte Aufträge in Kindertagestätten, Schulen und betrieblichen Weihnachtsfeiern. Jetzt nach ein paar Jahren war für ihn daraus ein richtiger Geschäftszweig geworden. Im Winter, wenn seine eigentliche Arbeit wegen schlechtem Wetter meist ausfiel, stiefelte er verkleidet munter darauf los und machte den Auftraggebern eine Freude. Er verlangte pro Stunde 30 Euro und die wurden ohne Zögern jedes Mal bezahlt. An Weihnachten warfen die Menschen nur so mit Geld um sich. Auch die weniger Betuchten. Einige seiner Aufträge kamen sogar aus den Wohnsilos im Lerchenfeld. Auch hier wollten die Eltern ihre Kindern mit einer vorweihnachtlichen Freude überraschen.

      Heute hatte er den Auftrag von der Stadt Freising höchstpersönlich bekommen. Vom Bürgermeisteramt. Oberbürgermeister Tobias Eschenbacher hatte es geschafft, zum ersten Mal einen Weihnachtsmarkt auf dem Domberg zu organisieren. Mit dem ortsansässigen Gewerbeverband und einigen Herren vom Ordnungsamt war ihm das Meisterstück gelungen. Der Bürgermeister wollte den Freisinger Bürgern etwas bieten. Sein städtisches Ordnungsamt war vor ein paar Monaten durch den mysteriösen Tod des zuständigen Leiters unangenehm in die Presse gekommen. Man hatte dessen Leiche im Waldlehrpfad in der Nähe der Plantage gefunden. Allem Anschein war er in einen Bestechungsskandal um die Vergabe von Stellplätzen rund um das Freisinger Volksfest verwickelt gewesen. Und ein abgelehnter Schausteller soll ihn angeblich erschossen haben.

      Jetzt waren die Gemüter wieder beruhigt und der Adventszauber, so nannte man den neuen Markt, füllte die Boulevardpresse mit positiven Zeilen. Und um allem noch einen oben drauf zu geben, hatte man ihn gebucht. Ihn den Weihnachtsmann. Für das gesamte Wochenende. Für die Stadt eine kleine Summe Geld aus der Portokasse, für ihn eine stolze Summe Geld, die ihm bis in den Januar hinein helfen würde.

      Er zog seine gefütterte Hose hoch und zwirbelte eine weiße Kordel als Gürtel durch die Schlaufen. Dann schlupfte er in ein weißes Hemd und steckte es in die Hose. Schließlich kam der schlimmste Augenblick seiner Maskerade, hautfreundlichen Klebstoff auf Wangen und Kinn vorsichtig verteilen, um den weißen Bart daran halten zu können. Auf seine eigenen schmalen Augenbrauen setzte er dicke weiße aus Watte. Dann zog er die rote Joppe über, setzte seine Mütze auf, schlupfte in seine Wanderstiefel und drehte sich zu guter Letzt um die eigene Achse vor einem großen Spiegel im Schlafzimmer.

      Er sah perfekt aus. Niemand würde ihn erkennen. Jetzt fehlten nur noch der Leinensack und der Stock mit der Rute. Er blieb stehen und starrte auf sein Spiegelbild.

      »Wer ihm da wohl aus dem Spiegelbild entgegenlächelte?«, sagte er leise zu seinem zweiten Ich.

      Er musste sich daran erinnern, wie einmal ein junges Mädchen ihn bei einem seiner Auftritte gefragt hatte, ob er von Coca Cola komme. Kurz hatte er gestutzt, doch dann ihre Frage schlichtweg verneint. Obwohl sein jetziges Erscheinungsbild, das Erscheinungsbild der Gegenwart, in den 1930er-Jahren von Coca Cola aus der Vielfalt der verschiedensten Darstellungen aufgegriffen und in riesigen Kampagnen weltweit vermarktet wurde.

      Natürlich kannte er die Wurzel seines verkleideten Ichs. Die hatte es nämlich in der Reformation. Die Protestanten wollten sich nicht mehr vom Heiligen Nikolaus der Katholiken beschenken lassen, der bisher an seinem Namenstag Geschenke für die Kinder hinterlegt hatte. Der Schenktermin wurde kurzerhand auf den heutigen Weihnachtstermin verlegt und zwei andere Figuren als protestantische Ersatzleute für den Nikolaus ins Leben gerufen: das Christkind und der Weihnachtsmann. Und das, was ihm jetzt aus dem Wandspiegel hämisch entgegen lächelte, das war sein zweites Ich, wenigstens für die Weihnachtszeit: der Weihnachtsmann.

      Ihm lächelte ein kräftiger Weihnachtsmann zu, mit roter Hose, roter Jacke, einem schneeweißen langen Bart, roter Mütze und festen schneesicheren Stiefeln. So wie er jetzt aussah, so stellte sich jedes Kind und vor allem auch die Erwachsenen, die ihn schließlich bezahlten, den Weihnachtsmann vor.

      Heute gab es fast keine andere Vorstellung vom Weihnachtsmann mehr als die von Coca Cola popularisierte. Der einst ehrwürdige Gabenbringer drohte zum Hampelmann zu verkommen. Jedes Jahr zur Weihnachtszeit grinste der rot-weiße gekleidete Weihnachtsmann, à la Coca Cola, mit Zipfelmütze aus den Supermarktregalen. Und seit der Coca Cola-Weihnachtsmann durch das Fernsehen spukte, wussten viele Kinder nicht mehr, wie er eigentlich aussah, der echte Nikolaus.

      Sein anfängliches Nikolauskostüm mit goldgewirktem Gehrock, dem Messgewand, einer Mitra und einem Bischofs-Stab hing schon seit Jahren im Schrank. Denn Nikolaus von Myra, ca. 270 nach Christus im Gebiet der heutigen Türkei nahe Antalya geboren, war ein Bischof der Frühkirche. Und als Sohn reicher Eltern habe er sein ganzes Vermögen an die Armen verschenkt, sagte die Überlieferung. Deswegen auch die Geschenke.

      Er schaute gebannt auf sein Spiegelbild. Sein jetziges rotes Kostüm hingegen war die aktuelle Arbeitskleidung des Weihnachtsmannes. Und so wollten sie ihn auch haben. Und so zeigte er sich auch dem Volk. Ein letzter Blick in den Spiegel. Er salutierte seinem Gegenüber, schnappte sich den Leinensack mit Orangen, Nüssen und Äpfeln, klemmte seinen Wanderstock mit Rute unter die Arme und machte sich auf den Weg zum Adventszauber, dem Weihnachtsmarkt auf dem Domberg, auf dem er in den nächsten Stunden alt und jung mit seinen Gaben aus dem Sack beschenken wollte.

      Schwer beladen und in sich tief versunken, machte er sich auf den Weg. Er hatte eine kleine Wohnung in der Kochbäckergasse in der Altstadt, brauchte also keinen Wagen nehmen und so stampfte er immer wieder mit einem tiefen »Ho! Ho! Ho!« die Steige zum Domberg hinauf.

      Er war so mit sich und seinem albernen »Ho! Ho! Ho!« beschäftigt, was er fast jedem Passanten begeistert entgegen schleuderte, dass er die Gestalt nicht bemerken konnte, die ihm in gehörigem Abstand durch die Altstadt folgte.

      Diese Gestalt hatte vor seinem Haus gewartet und war ihm dann gefolgt. Sie war in einen gefütterten Wintermantel mit Kapuze gehüllt und hatte diese tief ins Gesicht gezogen. Das Gesicht war somit nicht zu erkennen. Ihre Hände hatte sie in den Taschen des Mantels versteckt. Fünfzig Meter hinter ihm schlich sie ihm nach. Sie schmunzelte bei jedem seiner Ausrufe.

      Die Person,