Dietrich Plückhahn

Mein kleiner Verrat an der großen Sache


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auf dem Bürgersteig. Unmittelbar bevor die Fenster und Türen auf der Ost-Berliner Straßenseite von den Grenzern zugemauert wurden, hatten Hausbewohner versucht, sich durch Sprünge aus dem Fenster in den Westen zu retten. Zwei von ihnen überlebten diesen Versuch nicht. Meine Eltern beließen es nicht dabei, meine Geschwister und mich auf die Kränze aufmerksam zu machen. Sie erklärten uns, warum und für wen die Kränze dort lagen und als phantasiebegabtem Kind, für das ich mich bis heute halte, wurde mir schlecht.

      Die nach dem 13. August eilends aufgebauten Aussichtspodeste, von denen aus die Grenzanlagen mit dem dahinterliegenden Terrain betrachtet werden konnten, übten auf meine Eltern eine geradezu magnetische Anziehungskraft aus, vor allem an solchen Stellen, an denen das Ensemble von Mauer, Stacheldraht, Wachtürmen, Bogenlampen und Panzersperren eine besonders martialische Wirkung hatte. Nicht nur, dass unsere zahlreichen Besucher von auswärts an diese Stellen geführt wurden; der samstägliche oder sonntägliche Grenzbesuch gehörte auch ohne auswärtige Gäste zum festen familiären Wochenendritual. Beliebt war neben dem Checkpoint Charlie vor allem die Knesebeckbrücke, die zwischen Teltow und Zehlendorf über den Teltowkanal führte und mit ihrer Sperre aus Unmengen von Stacheldrahtrollen über dem trüben Kanalwasser nebst den am Ufer errichteten Grenzanlagen einen ausgesprochen trostlosen, irgendwie aber doch auch malerischen Anblick bot.

      Das Thema Grenze wurde noch bedeutender, als mein Vater wenige Wochen nach dem Mauerbau eine durch die Grenzbefestigung hervorgerufene und äußerst grenznahe Beschäftigung bekam. Sie war mit einem solchen Grenzwert behaftet, dass er dafür später das Bundesverdienstkreuz erster Klasse erhielt. Was war seine Aufgabe? Er fuhr mit einem hellblauen VW-Bus, amtliches Kennzeichen B-1411, an der 153 km langen Grenze der Berliner Westsektoren entlang. Auf beiden Seiten des Wagens prangten in weißer Schrift die Worte Studio am Stacheldraht. Auf dem Dach befanden sich sechs Lautsprechertrichter mit einer Leistung, die die Mauern von Jericho zum Einsturz hätte bringen können. Im Innern des Wagens saßen vier Berliner Landesbeamte, von denen einer, es war mein Vater, das Sagen hatte. Das galt sowohl hinsichtlich der Stellen, an die sich der Lautsprecherwagen zu begeben hatte, als auch bezüglich der Propagandaansprachen, die in Richtung Osten über die Grenze geschleudert wurden und sich vor allem an die DDR-Grenzer richteten. Zwischen den Ansprachen legte der Bordtonmeister auch mal einen flotten Schlager auf - von Bill Ramseys „Pigalle“ bis zu Hazy Osterwalds „Konjunktur-Cha-Cha“ bekamen die Ostler Vieles zu hören, was sie nach dem Willen der SED-Führung nicht hören sollten. Den Einfall mit den Lautsprecherfahrzeugen hielt die SED-Führung allerdings für so brauchbar, dass sie ebenfalls Lautsprecherwagen an der Grenze entlangfahren ließ, mittels derer sie versuchte, die West-Berliner Bevölkerung von der Richtigkeit des im Osten eingeschlagenen Kurses zu überzeugen. Gelegentlich kam es am selben Grenzabschnitt zu Begegnungen zwischen den östlichen und den westlichen Propagandafahrzeugen. Man beschimpfte sich dann wechselseitig in der technisch höchstmöglichen Lautstärke. Meistens blieb es bei einem verbalen Schlagabtausch. Etwas handgreiflicher ging es zu, als der Lautsprecherwagen des Studios am Stacheldraht aus dem Gleimtunnel heraus versuchte, nach Ost-Berlin hinüberzuschallen. Der Tunnel war an seinem östlichen Ende mit Stacheldrahtrollen verbarrikadiert, hinter denen DDR-Grenzer standen. Einige von ihnen brachten ihre Schusswaffen in Anschlag, als mein Vater mit seiner Ansprache loslegte. Andere warfen Tränengasbomben in den Tunnel und der Einsatz musste unter reichlich Tränen abgebrochen werden.

      Es war also richtig spannend, was mein Vater von seinem Arbeitsalltag zu erzählen hatte. Kaum ein Tag ohne besondere Vorkommnisse und alles irgendwie immer am Puls der Zeit. Ich war ein politisches Kind und was mein Vater von seiner Arbeit berichtete fügte sich bestens in das ein, was ich aus dem Radio zu hören bekam. Der kleine Röhrenempfänger der Marke Loewe Opta lief, jedenfalls wenn mein Vater zu Hause war, unentwegt, brachte mir das Weltgeschehen nahe und machte mich mit Namen vertraut, die irgendwie wichtig zu sein schienen. Bundeskanzler Adenauer, Regierender Bürgermeister Brandt, Außenminister Schröder – ich wusste, wer diese Leute waren, wie sich ihre Stimmen anhörten und was man, der Beurteilung meiner Eltern folgend, von dem einen oder anderen zu halten hatte. SPD-Politiker kamen in der Regel schlecht weg. Eine Ausnahme bildete neben dem Berliner Innensenator Joachim Lipschitz sein Hamburger Amtskollege Helmut Schmidt, der sich bei der Flutkatastrophe im Februar 1962 einen auch in den Berliner Radiosendern vernehmbaren Namen gemacht hatte. Natürlich nur in den West-Sendern. Dem SFB (Sender Freies Berlin) und dem RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) stand im Ostteil der Stadt der Berliner Rundfunk gegenüber, der als Hauptstadtsender alles daran setzte, seinen Hörern die Eigenstaatlichkeit der DDR schmackhaft zu machen.

      Dass die DDR von den Aktivitäten des Studios am Stacheldraht nicht begeistert war, liegt auf der Hand. Es war klar, dass sich mein Vater auf DDR-Gebiet nicht mehr blicken lassen durfte. Damit war für ihn und seine Familie auch der Weg über die Transitstrecken nach Westdeutschland nicht mehr ratsam und seine Benutzung vom Innensenator auch ausdrücklich untersagt. Wir hatten also, mit staatlicher Flugkostenbezuschussung, den Luftweg zu nehmen. Die drei Luftkorridore, die West-Berlin mit dem Bundesgebiet verbanden, wurden von Pan American Airways, British European Airways und Air France beflogen. Zunächst in heftiger Konkurrenz untereinander, bis die Flugrouten später einvernehmlich aufgeteilt wurden. Mit Pan Am flog ich am liebsten. Die blau-weiße Einfärbung der Maschinen war schicker als die schwarz-weiß-rote von BEA und die Form der Fenster fand ich bei BEA auch blöde. Dafür gab es bei BEA mehr zu essen. Das war aber wiederum ein Problem. Denn vor allem auf der kurzen Strecke von und nach Hannover hatte man zwischen Start und Landung kaum genügend Zeit, mit dem vom Kabinenpersonal eilends auf den Klapptisch geschleuderten Fresspaket fertig zu werden. Die Sache verschärfte sich noch, als sich BEA, um im Konkurrenzkampf mit Pan Am und Air France die Nase nach vorn zu bekommen, den Super-Silverstar-Service einfallen ließ. Das bedeutete nichts weiter, als noch mehr zu fressen. Zu allem Überfluss wurden jetzt auch noch verstärkt Düsenmaschinen eingesetzt, womit sich der Flug auf der Hannoverroute auf 35 Minuten verkürzte. Mit brüchigem Plastikbesteck mussten Brötchen durchgeschnitten und mit Butter beschmiert, zähe Lappen aus rohem Schinken auseinandergefleddert und zerschnitten, Schmier- und Scheiblettenkäse auf Kräcker platziert und mit Süßspeisen, Heiß- und Kaltgetränken eilends heruntergeschluckt werden, bevor mit dem Beginn des Landeanflugs der Befehl zum Hochklappen der Tische erteilt wurde. Wenn man alles rechtzeitig schaffte, konnte man richtig satt werden.

      Wer sich bei der SED nicht unbeliebt gemacht hatte und folglich nicht auf den Luftweg angewiesen war, durfte als Transitreisender mit dem Auto oder mit der Bahn durch die DDR unterwegs sein. Mit Hilfe von „Harms Berliner Grundschulatlas“ wurden wir über die für West-Berliner relevanten Grenzübergänge aufgeklärt. Ortsnamen, die ich bis dahin noch nie gehört hatte, mussten auswendig gelernt und einer Transitstrecke zugeordnet werden. Das war wichtig, um zu wissen, dass man die Kontrollpunkte Lauenburg/Horst oder mit der Bahn Büchen/Schwanheide anzusteuern hatte, wenn man nach Hamburg wollte und nicht etwa Helmstedt/Marienborn, Wartha/Herleshausen, Bebra/Gerstungen, Rudolphstein/Hirschberg oder Ludwigsstadt/Probstzella. Es war gut, sich mit den Transitstrecken und auch mit den Gepflogenheiten bei der Grenzkontrolle auszukennen, wenn man sich unnötige Scherereien ersparen wollte.

      In West-Berlin selbst war, wenn man sich nicht in der Nähe der Mauer aufhielt, von der Insellage der Stadt wenig zu merken. Was dagegen auffiel, war die unübersehbare Präsenz amerikanischer, britischer und französischer Soldaten. In der Nähe der großen Kasernen beherrschten sie das Ortsbild, wie zum Beispiel bei den McNair Barracks in Lichterfelde. Manchmal sah man sie in Tarnanzügen zu Manöverzwecken durch den Grunewald streifen. Nach den Übungen lagen reichlich Patronenhülsen im Wald herum, die von Jungen in meinem Alter gern gesammelt wurden. Ich hatte davon einen ganzen Schuhkarton voll. Großen Eindruck machten auch die Kettenpanzer der US-Army, wenn sie von McNair in den Grunewald durch die Wohn- und Geschäftsstraßen donnerten und alle Gebäude in der Umgebung erzittern ließen. War der Lärm, den sie machten, auch ohrenbetäubend, so handelte es sich doch um Lärm der Westalliierten, der im Interesse der Sicherheit der Stadt also hinzunehmen war. Anders verhielt es sich mit den Schallmauerdurchbrüchen sowjetischer Düsenjäger. Die Sowjetunion fühlte sich regelmäßig provoziert, wenn Verfassungsorgane der Bundesrepublik in West-Berlin in Erscheinung traten. So war es unter anderem bei der Wahl des Bundespräsidenten, zu der die Bundesversammlung am 1. Juli 1964 in Berlin zusammentrat. Für die Sowjets war das ein willkommener Anlass, es mal wieder richtig knallen