Dietrich Plückhahn

Mein kleiner Verrat an der großen Sache


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      Im Westen freute sich die Berliner Abendschau gönnerhaft, als Christa Ohnesorg im Herbst einen gesunden Jungen zur Welt brachte. Na bitte, ist doch alles gut gegangen!

      Der Sarg mit Ohnesorgs Leiche wurde am 9. Juni von Berlin in seine Heimatstadt Hannover überführt. Den Autokorso, der den Leichenwagen die ganze Strecke über begleitete, ließ die DDR auf der Transitstrecke, ganz entgegen ihren sonstigen Gepflogenheiten, unkontrolliert passieren. Bis zum Kontrollpunkt Dreilinden folgte dem Sarg ein langer Trauerzug. Der wenige Tage zuvor ausgebrochene Sechstagekrieg im Nahen Osten hatte die Diskussion um Ohnesorgs Tod zwar etwas überlagert, dennoch hatten sich dem Zug Tausende von Studenten angeschlossen.

      Ich stand mit meinem Fahrrad an der Potsdamer Chaussee und sah mir die trauernden Studenten an, von denen viele Schwarz trugen. Wem ich die Schuld an Ohnesorgs Tod geben sollte, wusste ich nicht genau. In der Schule wurde sehr kontrovers darüber diskutiert. Die meisten hielten das Vorgehen der Polizei für richtig, es gab aber auch Verständnis für die protestierenden Studenten. Zu Hause war die Stimmung eindeutiger. Die Radikalisierung der Studentenschaft bedeutete nach Befürchtung meiner Eltern den wahrscheinlichen „Untergang unserer Demokratie“. Da half nur hartes Dagegenhalten. Es gab schließlich was zu verlieren.

      Verloren gegangen war bereits kurz zuvor eine Ikone der bundesrepublikanischen Erfolgsgeschichte. Konrad Adenauer hatte am 19. April 1967 das Zeitliche gesegnet. Seit einigen Tagen schon hatte der kritische Gesundheitszustand des greisen Altbundeskanzlers die Nachrichten beherrscht. Am Tag nach seinem Tod wurden wir von der Schulleitung in die Aula beordert. Bundesflagge an der Bühnenwand, ein trauerflorumrahmtes Adenauer-Bild, Blumen natürlich und vier Instrumentalisten aus dem Schulorchester, die das Deutschlandlied intonierten. Der SMV-Vorsitzende mit schwarzer Krawatte (SMV = Schülermitverwaltung oder -verantwortung) würdigte in einer kleinen Ansprache den Verstorbenen und seine Verdienste. Am Tag von Adenauers Beerdigung wurde der Unterricht vorzeitig beendet, damit sich alle die Direktübertragung der Trauerfeierlichkeiten im Fernsehen angucken konnten. Die Trauerfeier in der Schulaula war eine der letzten staatstragenden Veranstaltungen, die ich in diesem Saal erlebte. Was danach kam, trug unübersehbar den Keim der Revolution in sich.

      Es begann mit den Wahlen zur SMV. Die drei Kandidaten für den Vorsitz stellten sich der versammelten Schülerschaft in der Aula vor. Einer von ihnen, Esra Gerhard, fiel mit seinen ungewöhnlich langen Haaren schon äußerlich auf. Er trug zwar einen Anzug, der Schlips war aber in geradezu provokanter Weise nachlässig gebunden. Entscheidend und beunruhigend war, dass dieser Elftklässler aus seiner Sympathie für den SDS keinen Hehl machte. Als wichtigste Aufgabe der SMV sah er es an, die autoritären Schulstrukturen zu sprengen und die Schule vom überkommenen bürgerlichen Gesellschaftsmodell wegzuorientieren. Hierfür erforderlich war neben der Schaffung einer Raucherecke auch die Einrichtung eines Liebeszimmers. Die Forderung nach der Raucherecke setzte sich nach einigem Hin und Her durch; aus dem Liebeszimmer wurde nichts. Die Schulleitung ihrerseits war auch nicht untätig. An einem Samstagvormittag zitierte der Direktor die gesamte Schüler- und Lehrerschaft in die Aula, um der linksgerichteten Schülerzeitung in einer langen Ansprache die Leviten zu lesen. Es wurde also diskutiert, es wurde argumentiert, man setzte sich auseinander. Und das war neu. Bis dahin gab es für mich feststehende Wahrheiten und ich war gar nicht auf die Idee gekommen, diese Wahrheiten in Frage zu stellen. Das änderte sich im Laufe des Jahres 1967. Dass die Polizei immer im Recht war, war auf einmal genauso wenig sicher wie das Recht der amerikanischen Besatzungsmacht, dem kommunistischen Vormarsch in Vietnam Einhalt zu gebieten. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir Schüler uns erhoben, wenn ein Lehrer das Klassenzimmer betrat, wurde plötzlich genauso angezweifelt wie die Vergabe von Zensuren und das Verbot, bei Rot über die Straße zu gehen. Es begann mir Spaß zu machen, vermeintliche oder tatsächliche Widersprüche und Ungereimtheiten aufzudecken. Vor allem dann, wenn man konformistische erwachsene Gesprächspartner damit gründlich verunsichern konnte. Dabei half mir auch ein Buch, an dem Esra Gerhard und Peter Brandt mitgeschrieben hatten: „Kinderkreuzzug oder beginnt die Revolution in den Schulen?“ So lautete der Titel des von Günter Amendt herausgegebenen Rowohlt-Bändchens.

      Die von Esra Gerhard erhobene Forderung, ein Liebeszimmer einzurichten, kam nicht von ungefähr. Es war die Zeit der sogenannten Sexwelle. Das Thema Sex, das vorher nur unterschwellig mitschwang, war jetzt ganz vorn. Oswalt Kolle verbreitete sich in mehreren Illustrierten über das, was die Leser vermeintlich oder tatsächlich nicht wussten, bevor er bald darauf seine Aufklärungsfilme drehte. „Deine Frau – das unbekannte Wesen“, „Dein Mann – das unbekannte Wesen“ usw. (der Kabarettist Dietrich Kittner machte daraus die schöne Umdrehung „Dein Staat – das bekannte Unwesen“). In den Filmen mit der Titelheldin Helga wurde das wissbegierige Publikum mit anregenden Szenen konfrontiert. Auch in anderen Filmen, in denen es nicht in der Hauptsache um Sex ging, wurden neuerdings für damalige Verhältnisse extrem freizügige Bilder gezeigt. Leider war ich noch nicht alt genug, um in entsprechende Vorstellungen eingelassen zu werden. Aber ältere Jungs aus der Nachbarschaft hielten mich detailliert auf dem Laufenden. Natürlich war alles, was mit Sex zu tun hatte, ein Kassenschlager und dementsprechend kritisch wurde der kommerzielle Umgang mit Sex von der Protestbewegung beäugt, was die Kommunardin Uschi Obermaier nicht daran hinderte, sich gegen gutes Geld oben ohne für den Stern ablichten zu lassen. Und es kursierte der angeberische Slogan: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.“ Auch das Thema Sex musste in einen linken Diskurs eingebunden werden und die Schriften von Wilhelm Reich fanden schnell Verbreitung. Ein Raubdruckexemplar von Reichs „Der sexuelle Kampf der Jugend“ wurde mir von einem evangelischen Religionslehrer mit dem Hinweis in die Hand gedrückt, dieses Buch sei richtig gut. Ich fand die Lektüre langweilig und politisch in keiner Weise erhellend.

      Schon interessanter waren da die Flugblätter, die immer öfter morgens vor der Schule verteilt wurden und die auf irgendeinen Missstand aufmerksam machen oder einen zur Teilnahme an dieser oder jener Aktion aufrütteln sollten. Die Flugblattverteiler beeindruckten mich zunächst insbesondere dadurch, dass sie schon frühzeitig vor dem Schulbeginn aufgestanden sein mussten, um ihrer Agitationsaufgabe nachzukommen. Aber auch die Inhalte sprachen mich mit der Zeit immer mehr an. International stand der Vietnamkonflikt ganz vorn.

      Bei einer Vietnamdemonstration, deren Zeuge ich im Oktober 1967 am Wittenbergplatz eher zufällig wurde, hörte ich zum ersten Mal den Sprechchor „Ho, Ho, Ho Chi Minh“. Auf von den Demonstranten hochgehaltenen Plakaten war das Konterfei des nordvietnamesischen Parteiführers zu sehen. „Amis raus aus Vietnam!“, schallte es in Sprechchören, die von einer Megaphonstimme angeheizt wurden, über den Tauentzien. „Amis raus aus Vietnam!“ – so stand es auch auf Spruchbändern und Sandwich-Plakaten, die vorn und hinten an ihren Trägern baumelten. Eine Demonstrantin hatte an den Kinderwagen, den sie mit ihrem schreienden Baby vor sich her schob, links und rechts Pappschilder mit der Aufschrift „Lieber rot und Brot als Napalm und Tod“ angeheftet. „Von Hanoi bis Saigon alle Macht dem Vietcong!“ Beeindruckend war das schon. Aber die Polizei war auch nicht schlecht. Mit ihren rot-weißen Absperrgittern, Streifen- und Mannschaftswagen (die waren damals dunkelblau) trug sie dazu bei, die Wichtigkeit der Veranstaltung zu unterstreichen. Erst recht, als eine Stunde später die Kreuzung am Kranzler-Eck von Demonstranten besetzt wurde. „Achtung, Achtung! Hier spricht die Polizei“, tönte es aus einem Lautsprecherwagen. Die umstehenden Gaffer, zu denen auch ich gehörte, wurden gebeten, sich zu entfernen, man geriete sonst in den Bereich polizeilicher Maßnahmen. Was mit polizeilichen Maßnahmen gemeint war, erschloss sich wenig später, als die Befehle „Wasserwerfer marsch!“ und „Polizeikette marsch!“ aus dem Lautsprecher kamen. Der polizeilichen Aufforderung, die Kreuzung freiwillig zu räumen, waren die Demonstranten erwartungsgemäß nicht nachgekommen. Den Polizeieinsatz quittierten sie mit dem Sprechchor „Notstandsübung! Notstandsübung!“

      Ausschreitungen und Polizeieinsätze bei und im Anschluss an Demonstrationen waren in dieser Zeit nichts Ungewöhnliches und hatten fast schon rituellen Charakter. Steine und andere Wurfgeschosse auf der einen, Gummiknüppel, Wasserwerfer und, ja, das gab’s auch noch, Polizeipferde auf der anderen Seite. Zum Ritual gehörte eine allenthalben zu vernehmende redliche Empörung. APO-Anhänger verurteilten die unverhältnismäßige Polizeigewalt, APO-Gegner regten sich über zu lasches Vorgehen gegen studentische Randalierer