Jen Minkman

Die Insel


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steht es auch in der Schrift.“

      „Zumindest in dem Teil, den wir lesen dürfen“, murmelt Mara.

      Ich bleib mitten auf dem Weg stehen und starre meine beste Freundin an. „Mara, wovon redest du? Wer hat dir denn solche Sachen erzählt?“

      „Andy“, bekennt Mara. „Er sagt...“

      „Was sagt er?“, bohre ich nach, als Mara sich auf die Lippe beißt und auf den Boden starrt. Meine beste Freundin errötet leicht unter meinem fragenden Blick.

      „Ich und Andy hatten ein Date,“ stammelt sie. „Bevor wir auf diese Wanderung gehen mussten. Wir waren den ganzen Abend zusammen. Und er hat mir ein Geheimnis anvertraut. Über die Schrift. Er sagt, dass Saul uns Dinge vorenthält.“

      Andy und Mara? Mein Herz bekommt einen kleinen Riss. Ich gebe zu, dass ich eigentlich niemanden wirklich mag, aber wenn ich mir jemanden aussuchen müsste, wäre es Andy. Der achtzehnjährige Andy mit seinen freundlichen, braunen Augen, dem schwarzen Haar und den breiten Schultern. Aber er mag Mara. Meine beste Freundin mit ihrem schlanken, bieg­samen Körper, den kastanien­braunen Haaren und ihren fünfzehn Jahren. Für eine kurze Sekunde schmecke ich bittere Eifer­sucht auf der Zunge, doch dann bemerke ich den Ausdruck von Unsicherheit in Maras Augen. Sie will mich nicht wegen dieser Sache verlieren.

      „Also, was hat Andy denn genau gesagt?“, frage ich und bohre nicht weiter wegen der Verabredung nach.

      „Dass Saul Dinge weiß, die er uns nicht verrät. Wichtige Dinge.“

      „Und woher will Andy das so genau wissen?“

      Maras Stimme wird zu einem Flüstern: „Er hat es in der Schrift gesehen.“

      „Wann?“

      „Er konnte nicht lange lesen. Saul hat die Schrift nach einer seiner Reden auf dem Tisch liegen gelassen. An dem Abend, als wir uns den Kampf zwischen Max und deinem Bruder anschauen mussten. Andy konnte sich nicht zurück­halten, einen Blick zu riskieren.“

      „Tatsächlich.“ Ich schaue sie verdutzt an. Dabei habe ich immer geglaubt, Saul könne nur die Kapitel für bestimmte Tage aussuchen. Anscheinend wurden einige Kapitel niemals ausgesucht.

      Wovor hatte er Angst?

      „Die Schrift besagt, dass Zusammenarbeit die wichtigste Über­lebens­regel ist,“ fährt Mara fort. „Wenn wir zusammen arbeiten, haben wir den besten Zugriff auf die Macht. Wir brauchen gar keinen Anführer.“

      „Aber... das ist nicht richtig,“ stammle ich. „Es ist das Gesetz des Anpassungsfähigsten was zählt.“

      „Nein, das stimmt nicht. Eine Gruppe ist am stärksten, wenn wir alle etwas beitragen. Wenn jemand nur alle Kraft aus der Macht für sich selbst abschöpfen will, wird er böse. Und alle, die einem solchen Anführer folgen, werden ebenfalls das Licht verlieren.“

      „Wenn das so ist, müssen wir was tun!“, zische ich leise, obwohl niemand in der Nähe ist, der uns belauschen könnte. „Wenn Saul uns anlügt...“

      Mara seufzt abwehrend. „Es wäre an uns Beweise aufzutreiben. Aber wir können gar nichts beweisen. Andy konnte nur einen kurzen Blick auf die Seite werfen, aber sie nicht herausreißen, damit wir sie herumzeigen können.“

      Den Rest des Rückwegs setzte ich nur benommen einen Fuß vor den anderen ohne überhaupt hinzusehen. Ich kriege Maras Geschichte einfach nicht aus dem Kopf. Es würde bedeuten, dass wir von einem machthungrigen Typen belogen wurden, der uns in die Wildnis schickt, um nach der Macht zu suchen, damit er sie uns stehlen kann. Vielleicht sollte ich Colin davon erzählen.

      ***

      Am Tor im Zaun, der um das Grundstück des Landguts herum läuft, wartet eine Frau. Jemand aus dem Dorf. Vielleicht ist sie hier, um uns Neuigkeiten aus Newexter zu bringen oder um einen Brief von Saul abzuholen.

      Erst als sie sich umdreht, erkenne ich sie. Braunes Haar. Müde, blaue Augen, die mich anstarren. Vor sechs Jahren konnten diese Augen mich nicht ansehen, als ich mein Elternhaus verließ.

      Die Frau ist meine Mutter.

      -3-

      „WAS - was machst du denn hier?“ stammle ich.

      Mara schaut meine Mutter an als hätte sie einen Geist gesehen. Tatsächlich ist die Begebenheit fast schon genauso ungewöhnlich: Eltern besuchen ihre Kinder niemals auf dem Landgut. Warum sollten sie? Wir brauchen sie nicht. Wir können uns sowieso nicht auf sie verlassen.

      Mutter streckt die Hand nach mir aus und legt sie auf meine Schulter. „Leia. Du bist so groß geworden.“ Ihr Blick landet auf der Halskette, die ich trage. Tränen schwimmen in ihren Augen. „Wie geht’s dir?“

      „Gut“, antworte ich steif.

      „Und wie geht’s Colin?“

      „Auch gut.“

      Ihre Augen weichen nicht von meinem Gesicht. „Ich hab dich so vermisst“, wispert sie. „Ich hätte euch beide nie gehen lassen dürfen.“

      Ich blinzle. „Was meinst du damit? So ist das nun mal.“

      Sie schüttelt den Kopf. „Das glaube ich nicht mehr“, murmelt sie kaum hörbar.

      „Was meinst du damit, dass du das nicht mehr glaubst?“

      „Es ist nicht richtig.“ Sie wringt ihre Hände. „Es kann nicht richtig sein, seine Kinder schon so früh loszulassen.“

      „Und was ist mit Vater?“, frage ich perplex.“Steht er als nächstes auf der Matte?“

      „Dein Vater ist tot“, antwortet sie monoton.

      Ich schlucke den Kloß in meinem Hals während sich die Stille zwischen uns in die Länge zieht.

      „Tot?“, wiederhole ich benebelt.

      Meine Mutter nickt nur.

      Damit habe ich nicht gerechnet. Ich habe damit gerechnet, meinen Eltern in einen paar Jahren wieder über den Weg zu laufen. Ich hätte sie von weitem gesehen, am anderen Ende des Marktplatzes. Ich hätte mich höflich mit ihnen im Dorf­laden unterhalten. Sie hätten mich niemals besucht. Sie hätten meine Kinder niemals kennengelernt, aber sie wären wenigstens in der Nähe gewesen.

      Ich werde meinen Vater niemals wiedersehen.

      „Was ist passiert?“, frage ich vorsichtig.

      „Die Grippe hat ihn erwischt. Er hatte hohes Fieber und der Heiler wusste einfach nicht weiter. Es war nichts zu machen.“

      „Tut mir leid“, bringe ich gebrochen heraus. „Mein Beileid.“

      Ich bin meinen eigenen Weg gegangen. Ich stehe auf meinen eigenen Beinen. Ich brauche meine Eltern nicht und sie werden nicht für mich da sein. Die Macht ist das einzige, auf das wir uns verlassen können. Aber warum fühle ich mich dann so unglaublich traurig und leer als ich von dieser Neuigkeit erfahre?

      „Danke,“ nuschelt meine Mutter. „Ich hoffe, du wirst bald nach Hause kommen.“

      Ich nicke widerstrebend. „Sobald ich bereit bin zu heiraten, komme ich zurück. Nicht einen Moment eher.“

      Meine Mutter sieht von mir zu Mara und wieder zurück. „Sagt mal: zieht Saul immer noch die Fäden auf dem Landgut? Er unterschreibt seine Berichte nie.“

      „Ja“, antwortet Mara mit einem angeekelten Gesicht. „Zusammen mit Ben.“

      Mutter runzelt die Stirn in Sorge. „Dann ist es also wahr.“

      „Was denn?“, frage ich.

      Sie schaut mich ernst an. „Süße, Saul ist schon ein­und­zwanzig. Er hätte schon vor langer Zeit gehen sollen. Irgendwas stimmt nicht.“

      Einundzwanzig? Die ältesten von uns, die das Landgut verlassen,