Jen Minkman

Die Insel


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auf. „Eine Intervention? Vergiss es!“ Der Älteste mag zwar hohes Ansehen genießen, weil er am längsten überlebt hat, aber das gibt ihm noch lange nicht das Recht, für uns auf dem Landgut Entscheidungen zu treffen.

      „Wir wollen euch doch nur helfen.“

      Ich gebe einen deutlich abwertenden Laut von mir. „Wir brauchen eure Hilfe nicht. Wir können uns um uns selbst kümmern.“ Bevor sie noch weiteren Unsinn von sich geben kann, öffne ich das Tor und schleife Mara mit hinein. Innerlich koche ich vor Wut. Wenn Saul wirklich schon zu alt ist, um noch länger hier zu bleiben, dann werden wir ihn dafür zur Rechenschaft ziehen. Die Eltern aus Newexter sollten schön dort bleiben und uns das selbst regeln lassen.

      Dann muss ich plötzlich wieder an sie denken. Mutter. Sie sah einsam und blass aus. Hat sie sich wirklich Sorgen um mich und Colin gemacht? Warum sollte sie?

      Zögerlich schaue ich zurück, aber ich sehe sie nicht länger am Tor stehen.

      ***

      Saul steht draußen vor dem Haus als wir vom Seiten­eingang auf ihn zukommen. Seine starken Hände hantieren mit einem Messer, um einen neuen Pfeil zu schnitzen. Er schaut nicht in unsere Richtung, aber mein Herz klopft schneller, je näher wir kommen. Ich kann seinen Blick auf uns irgendwie spüren. Er weiß, dass wir da sind.

      Gerade als wir auf die Terrasse neben das Haus treten wollen, atmet er einmal tief ein. „Halt“, sagt er leise.

      Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Mara schaut weg und alle Farbe weicht aus ihrem Gesicht als Saul sich zu uns umdreht und sein Messer wegsteckt. Seine dunklen Augen, das dunkle Haar und die dunkle Kleidung sind wie ein Tintenfleck auf der weißen Wand des Herrenhauses.

      Wir stehen da wie ein Paar Rehe in Erwartung auf den Sprung des wilden Hundes. Festgehalten von Sauls schwarzem Blick. Einer seiner Mundwinkel verzieht sich zu einem Lächeln.

      „Du solltest dich besser nützlich machen,“ sagt er zu Mara. Seine Stimme ist noch immer so leise, dass ich sie über das Rauschen des Blutes in meinen Ohren kaum hören kann.

      „Nü... nützlich?“, stammelt sie.

      „Nützlicher, als du meinem Bruder warst“, erklärt er, noch immer mit diesem unheimlichen Lächeln auf den Lippen. „Wenn du nicht die wichtigste Pflicht einer Frau erfüllen kannst, solltest du dich besser um andere Aufgaben kümmern – die Wäsche, zum Beispiel. Zufällig weiß ich, dass es da so einiges zu tun gibt. Ich erwarte, dass es bis heute Abend sauber ist.“

      „Okay“, wispert Mara, die Augen auf ihren Füßen. „Ich mach mich an die Arbeit.“

      „Mach das.“ Sauls Augen wandern zu mir. Ich wünschte, ich könnte auch einfach auf meine Füße starren, aber der kämpferische Teil in mir lässt mich seinen Blick ohne zucken erwidern. Im Augenwinkel sehe ich, wie Mara geht. Ich bin auf mich selbst angewiesen.

      „Leia.“ Der Ausdruck in Sauls Augen wurzelt mich fest. „Du siehst ein bisschen blass aus. Irgendwelche Probleme?“

      „Nein, mir geht’s gut.“

      Er schüttelt ungläubig den Kopf. „Hat es dich nicht aufgeregt, deine Mutter zu sehen?“

      Er hat uns gesehen? Ich ziehe scharf die Luft ein.

      „Warum sollte es?“

      Er kommt einen Schritt auf mich zu. So nahe, dass ich seinen Atem riechen kann. „Warum ist sie her­ge­kommen?“, flüstert er.

      Ich glaube nicht, dass es war um mir zu sagen, dass Vater gestorben ist. Vielleicht wollte sie mich einfach nur sehen. Ich bin ein Teil von ihm, den sie vermisst.

      „Um einen Bericht abzugeben, denke ich“, murmele ich und fühle mich durch seine Nähe zunehmend bedroht.

      Er lacht kurz auf. „Ach, ja. Die Neuigkeiten. Im letzten Bericht habe ich gelesen, dass dein Vater gestorben ist.“

      Die Boshaftigkeit in seiner Stimme setzt mir zu. Ganz plötzlich muss ich blinzeln, um Tränen zurückzuhalten.

      „Oh, tut mir leid, wie unsensibel von mir“, fährt Saul fort. „Hattest du dich nicht darauf gefreut, ihn wiederzusehen, sobald du von hier wegkommst?“

      „Nein. Das war Colin.“ Meine Stimme hört sich erstickt an.

      Er bleibt still, bewegt sich immer noch nicht von mir weg. Als er schließlich etwas sagt, wünschte ich, ich hätte den Schritt zurück gemacht.

      „Dein Vater war nie für dich da, und jetzt wird er das auch nie mehr sein. Vergiss das nicht.“ Er schaut mir tief in die Augen und macht ein abwertendes Geräusch. „Du wirst doch nicht um ihn weinen, oder?“

      Ich schüttle den Kopf. „Nein“, flüstere ich vorsichtig, denn ich habe Angst, dass meine Stimme bricht.

      „Gut. Jetzt geh und hilf deinem Bruder in der Küche. Vielleicht weint er ja, wenn er es erfährt. Sag ihm Grüße von mir.“

      Seine Schritte entfernen sich von mir und trotz der warmen Sommer­sonne fröstelt es mich in meinen noch immer feuchten Kleidern. Ich schaue nicht noch einmal zu seinen Augen auf als ich in Richtung Küche eile.

      -4-

      „ALSO WAR sie hier.“ Colin wirft mir einen undeutbaren Blick zu.

      „Ja.“

      „Sie hat uns nicht vergessen.“ Er schließt für einen Moment die Augen. „Heißt es nicht, dass Eltern ihre Kinder immer vergessen?“

      Meine Finger streichen über die Perlen an Mutters Hals­kette, die ich jeden Tag getragen habe seit wir gegangen sind. Ich denke an Newexter. Ich denke an die Eltern, die sich einfach wieder dem Alltag zuwenden, wenn ihre Kinder ausziehen. Sie müssen sich dann keine Sorgen mehr machen, ob sie genug zu essen haben. Menschen, die die Verantwortung für ihre Töchter und Söhne nie tragen wollten. Manche haben die Tage gezählt, bis ihre Kinder das Haus verlassen würden.

      Aber es gibt auch andere. Einmal war da ein Mann, der nach dem Tod seiner Frau über das Alter seines Sohnes log, damit er noch ein bisschen länger bei ihm bleiben konnte. Jeder wusste, dass die Zahlen keinen Sinn ergaben, aber der Älteste von Newexter brachte es nicht übers Herz den Jungen wegzuschicken.

      Die Frau von nebenan, die für Tage nachdem ihre Tochter gegehen war auf den Stufen saß und weinte als würde sie hoffen, ihr Kind käme zu ihr zurück.

      „Ja, so heißt es“, antworte ich leise.

      „Und Vater ist gestorben“, fährt Colin fort. „Wir haben die Beerdigung verpasst. Warum waren wir nicht dort?“ Er schlägt frustriert mit der Faust auf den Küchentisch. Das Messer, mit dem er Fische ausgenommen hat, macht einen Satz als hätte er es erschreckt.

      „Die meisten Leute gehen nicht zu den Beerdigungen ihrer Eltern“, stammle ich.

      „Tja, ich bin eben nicht ‚die meisten Leute‘. Ich hätte ihn gern ein letztes Mal gesehen“, gibt Colin barsch zurück. „Und noch viel lieber hätte ich ihn noch einmal gesehen, als er noch gelebt hat, aber hey, dafür ist es nun zu spät.“

      Ich sehe meinen Zwillingsbruder an. Blitzend blaue Augen und pech­schwarzes Haar, genauso wie ich. Er ist groß und breitschultrig für sein Alter. Er mag Ami. Es würde mich nicht wundern, wenn er plötzlich beschließen würde, seine Sachen zu packen und mit ihr als seiner Braut zurück nach Newexter zu ziehen. Er hat es hier nie nützlich gefunden; immer stur davon überzeugt, dass Mutter und Vater ihm das Über­leben genauso gut hätten beibringen können.

      „Ich weiß“, flüstere ich. „Ich versteh schon.“

      „Nein, du verstehst es nicht. Du hattest niemals den geringsten Zweifel, dass es einem höheren Zweck dient, sie zu verlassen. Du vermisst sie nicht einmal.“

      Meine Lippe zittert. „Du verstehst es aber auch nicht. Warum glaubst du wohl, trage ich das hier immer?“ Meine Hand