Reiner Kotulla

Marijana


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      Aber, so tröstete sich Alexander, was waren schon drei Wochen Leiden im Jahr gegen fünfzig andere. Und doch, das glaubte er zu wissen, eines Tages würde sie gehen. Nur gut, dachte er, dass man nicht weiß, wann „eines Tages“ sein wird. Alexander Fabuschewski war Optimist, bildete er sich ein. Echte Depressionen waren ihm fremd. Deshalb dachte er nun nach vorn, an den Sommer und einen längeren Urlaub.

      Simone würde ab dem 9. Juli Ferien haben, so oder so.

      Gerade wollte er den Kaffee bezahlen, als er auf dem Eisenmarkt, von der Krämerstraße her kommend, Volker Grün entdeckte, der nun wie unschlüssig stehen geblieben war. Alexander wartete einen Augenblick, bis er glaubte, dass Volker in seine Richtung schaute. Da hob er die Hand und machte ihn durch sein Winken auf sich aufmerksam. Als hätte der darauf gewartet, winkte er zurück und steuerte auf das Café zu.

      Volker Grün war ihm ein Freund geworden, seit sie sich im Zusammenhang mit Alexanders Recherchen zu „Michelle“ kennengelernt hatten. Bei Volker hatte er eines Abends Simone wiedergetroffen. Seitdem waren sie zusammen, er und Simone. Die dramatischen Ereignisse im Zusammenhang mit der Festnahme von Klaus Wagner hatte aus der Bekanntschaft eine Freundschaft werden lassen. In den letzten Wochen hatten sie sich ein wenig aus den Augen verloren. Mehrmals hatte Alexander versucht, Volker telefonisch zu erreichen, aber immer ohne Erfolg. Sogleich sollte er den Grund für Volkers Abwesenheit erfahren.

      „Hallo Alexander“, rief Volker, als er das Café betreten hatte. Alexander war aufgestanden, um seinen Freund begrüßen zu können. Er spürte die Erwiderung, freute sich aufrichtig über das Wiedersehen. Das sagte er Volker auch, sobald sie sich gesetzt hatten.

      „Schön, dich zu sehen Volker, ein paar Mal habe ich schon versucht, dich anzurufen.“

      „Kann ich mir denken, Alexander, ich war in der letzten Zeit oft unterwegs.“

      Volker machte einen recht aufgekratzten Eindruck. Irgendetwas musste sich ereignet haben, vermutete Alexander, wollte aber nicht so direkt nach den Ursachen dafür nachfragen. Brauchte er auch nicht. „Du erinnerst dich an Charlene Reimann?“

      „Na klar, Volker, die Frau mit den schönen Augen.“

      „Ja, ja, ich weiß, das habe ich damals so gesagt.“

      Charlene Reimann hatte Alexander seinerzeit wichtige Informationen über eine Wetzlarer Burschenschaft beschafft. Sie hatte nicht nur schöne Augen, erinnerte sich Alexander, sie war attraktiv und ihm damals sehr sympathisch gewesen. Auch er hätte sie gerne näher kennengelernt, hätte sie gerne für das Titelbild seines Romans fotografiert. Charlene aber hatte seine Bitte abgelehnt, wegen ihres damaligen Freundes, wie sie sagte.

      Einmal war er zusammen mit Volker im Gaudi gewesen, wo Charlene arbeitete, um sich ihr Studium finanzieren zu können. Schon da hatte er bemerkt, dass sich Charlene stets an Volker gewandt hatte, wenn sie beiden etwas erklärte, nachdem Alexander gesagt hatte, dass Volker ein Freund und über den Stand seiner Recherche informiert sei. „Und nun hast du sie näher kennengelernt?“

      „Ja, wir waren, wie gesagt, viel zusammen in der letzten Zeit. Demnächst wird sie zu mir ziehen, denn meine Wohnung ist größer als die ihre.“

      „Da freue ich mich für dich.“

      „Nun aber zu dir, Alexander, wie geht es dir, und was macht Simone?“

      Alexander erzählte, und bald hatten sie die zweite Tasse Kaffee getrunken. Zum Schluss verabredeten sie sich zu einem gemeinsamen Abendessen, zu Hause bei Simone und Alexander. „Ich werde kochen“, sagte Alexander, bevor sie sich verabschiedeten.

       Zwei

      Alexanders Wohnung befand sich in der ersten Etage eines Hauses in der Weißadlergasse. Er stieg die Treppe hoch. Vom Flur aus gelangte man rechter Hand zuerst in die Küche, die zweite Tür führte ins Wohnzimmer. Von der Küche und dem Wohnzimmer aus blickte man hinunter auf die Weißadlergasse. Vom Flur aus linker Hand kam man ins Schlafzimmer und in das Arbeitszimmer. Von hier aus schaute man in einen Hof und auf andere Häuser in Richtung Dom, den man aber nicht sehen konnte.

      Er ging zuerst in die Küche, holte sich aus der Vorratskammer eine Flasche Bier, lief zurück ins Wohnzimmer, öffnete beide Fenster und setzte sich in einen Sessel, der gegenüber des einen Fensters stand. Simone war noch nicht zu Hause. Er wollte nachdenken, hatte noch keine Idee für einen neuen Roman. Und wie das so ist mit den Ideen, man hat sie oft dann nicht, wenn man sie braucht. Doch dann, unvermutet, als das Ergebnis sich kreuzender Gedankengänge, erscheinen sie, wie aus dem Nichts. Jedoch nur dann, wenn man denkt. Alexander überlegte, was er kochen könnte. Und plötzlich, wie gesagt, aus dem Nichts, taucht sie auf, die Erinnerung an schöne Tage in Straßburg. Eine Reportage über das Europaparlament hatte er schreiben sollen, und Sylvia war als Fotografin mitgefahren. Woher sie die Fotos dann letztendlich hatte, war Alexander ein Rätsel geblieben. Er jedenfalls hatte den Artikel erst geschrieben, als sie schon wieder zu Hause gewesen waren. Die nötigen Informationen stammten aus dem Internet.

      In Straßburg hatten sie das Hotel nicht verlassen und das gemeinsame Zimmer beziehungsweise das Bett nur zum Essen. An einem Abend hatte sie aus der Speisekarte Elsässer Flammkuchen gewählt. Der hatte ihnen so gut geschmeckt, dass er nach dem Rezept gefragt hatte. Der Zettel musste noch in seinen alten Unterlagen zu finden sein. Bald fand er den Ordner und in ihm den Zettel. Zuerst der Einkauf. Er benötigte Dörrfleisch, saure Sahne und Schmand, Zwiebeln, Salz, Knoblauch und Brotteig.

      Den Brotteig bekam er erst in der dritten Bäckerei am Schillerplatz. Er hätte natürlich den Teig auch selbst herstellen können, doch in gewisser Weise neigte Alexander Fabuschewski zur Bequemlichkeit, und weil er beides schon einmal ausprobiert hatte, war er der Ansicht, dass der Brotteig aus einer Bäckerei vom Geschmack her besser geeignet war, als der selbst hergestellte.

      Wieder zu Hause angekommen, begann er sofort mit den Vorbereitungen. Das Backblech bestrich er mit Olivenöl, heizte den Ofen auf zweihundert Grad vor, rollte den Teig auf Mehl aus, legte ihn auf das Blech und passte ihn dessen Form an. Das Dörrfleisch schnitt er in möglichst dünne Scheiben und die Zwiebeln in Ringe. Die saure Sahne mit Schmand und Käseresten, mit Knoblauch, Salz und Schnittlauch vermischt, verteilte er gleichmäßig auf den Teig im Backblech, belegte die Fläche mit den Zwiebelringen und dem Dörrfleisch. Jetzt drosselte er die Temperatur im Backofen auf hundertsiebzig Grad und schob das Blech hinein. Er rechnete mit einer knappen Stunde an Backzeit.

      Bereits nach den ersten Bissen lobten alle seine Kochkunst. „Manchmal frage ich mich, warum ich eigentlich schreibe.“

      Volker schaute ihn verwundert an. „Schreibst du nicht, um Geld zu verdienen?“

      „Das auch, Volker, aber fragt sich denn nicht jeder irgendwann, warum er diese oder jene Arbeit macht?“

      „Natürlich, da hast du recht. Auch ich überlege manchmal, schon während meines Unterrichts, ob die, die da vor mir sitzen, überhaupt etwas lernen wollen. Und oft glaube ich, diese Frage mit einem glatten Nein beantworten zu können. Da frage ich mich natürlich, warum ich das überhaupt tue.“

      „Genau, Volker, so habe ich das gemeint.“

      Simone und Charlene hatten bisher nur zugehört. Jetzt mischte sich Simone ein. „Also, ich stelle mir die Frage in dieser Weise nicht. Ich lerne, um ein bestimmtes Ziel erreichen zu können.“

      „Genauso geht es mir auch, Simone“, bestätigte Charlene.

      Es entstand eine Pause. Alexander dachte über das nach, was die beiden Frauen gesagt hatten. „Ihr seid in einer anderen Situation, weil ihr euer Berufsziel noch nicht erreicht habt.“

      „Doch, Alexander, nur stelle ich mir die Frage anders. Ich frage mich manchmal, warum ich dieses oder jenes überhaupt lernen muss.“

      „Sicher, Charlene, das frage ich mich auch manchmal, aber zu deiner Frage, Alexander, hast du darauf schon eine Antwort gefunden?“

      „Nein, ihr seid aber Leserinnen. Mich interessiert schon, warum ihr lest.“

      „Das