Detlef Wolf

Salto Fanale


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der Realschule in der Essener Zweigstelle des Bankhauses ‚Molzberg & Co‘ ihre kaufmännische Ausbildung begonnen und wäre dort auch weiter tätig geblieben, so daß sie zwangsläufig dem Direktor dieses Bankhauses bei einem seiner unregelmäßigen Besuche begegnen mußte. Ihm fiel sie nämlich auf, in dem Moment, in dem er sie zum ersten Mal sah.

      Bald darauf hatte er begonnen, um sie zu werben und nach geraumer Zeit damit auch Erfolg gehabt. Obwohl sie es ihm nicht leicht gemacht hatte. Zum einen war er soviel älter als sie, und zum anderen kamen sie beide aus Verhältnissen, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können: hier der schwerreiche Bankier aus der prächtigen Villa an der Hamburger Außenalster und dort die Tochter eines silikosegeplagten Frührentners aus einer heruntergekommenen Bergarbeitersiedlung in Bochum-Langendreer.

      Aber Oswald Graf von Molzberg hatte sie bekommen, seine Charlotte Pertzau, so wie er alles bekam, was er haben wollte, und er hatte sich gegen alle Widerstände und Einwände durchgesetzt, die ihm wegen dieser offensichtlichen Mesalliance entgegengebracht wurden.

      „Ach was, wenn ein König Eduard VIII eine Wallis Simpson heiraten kann, dann kann ein Graf von Molzberg auch eine Charlotte Pertzau heiraten“, hatte er sämtliche Bedenken beiseitegewischt. „Und ich muß dabei nicht einmal auf was verzichten, während der gute Eduard gleich sein ganzes Königreich verloren hat.“

      Dann hatte er seinem zukünftigen Schwiegervater auf die Schulter geklopft und verlangt: „Komm, Anton, laß uns ein Bier trinken, auf Deine wunderbare Tochter und auf ihren Vater, der das so vorzüglich hinbekommen hat.“

      Daß diese Rede aufgesetzt war und ganz und gar nicht dem Befinden des Grafen entsprach, was seine Schwiegereltern betraf, hatte niemand sonst bemerkt, außer vielleicht seiner jungen Frau, die aber dazu schwieg. Er hatte es auch danach niemals deutlich werden lassen, daß er, außer mit seiner Frau, mit dem Rest der Pertzaus nichts zu tun haben wollte. Im Gegenteil. Er hatte sich vielmehr darum bemüht, ihnen das Leben so angenehm wie möglich zu machen und sich ansonsten von ihnen ferngehalten.

      Obwohl sie nur wenig von dem annahmen, was er ihnen anbot. Sie entschieden sich, ihr bisheriges Leben weiterzuleben und nicht ein vermeintlich wesentlich angenehmeres und zumindest sorgenfreies Dasein in Hamburg zu genießen. Sie wollten bleiben wo und wie sie waren. Immerhin hatten sie mit Hilfe ihres Schwiegersohns ihr kleines Bergarbeiterhäuschen erworben und herrichten lassen.

      Leider war es Anton Pertzau nur einige, wenige Jahre vergönnt, seinen unerwarteten Wohlstand zu genießen, dann wurde er das Opfer seiner Staublunge und der vielen Zigaretten, die er trotzdem nicht aufgehört hatte, zu rauchen. Charlottes Mutter überlebte ihren Mann um gut zehn Jahre, aber im vergangenen Jahr war auch sie gestorben.

      Ihren einzigen Enkel Adrian hatte sie während dieser Zeit kaum zu Gesicht bekommen. In Bochum, im Haus seiner Großeltern, war er nie gewesen und getroffen hatte er sie lediglich bei den Geburtstagsfeiern seiner Mutter, die stets Wert darauf gelegt hatte, daß ihre Eltern und, nach dem Tod ihres Vaters, zumindest ihre Mutter dazu eingeladen wurden. Sie blieb einen oder zwei Tage in Hamburg, fuhr dann aber bald wieder zurück nach Bochum. Sie fühlte sich einfach nicht wohl in dem riesigen Haus ihres Schwiegersohns mit all dem Personal und ihrem verwöhnten, anspruchsvollen und eingebildeten Enkel, der so gar nichts von seiner Großmutter wissen wollte. Nicht einmal zur Beerdigung war er nach Bochum gekommen.

      Das hatte auch sein Vater nicht getan. Angeblich hatte ihn eine unaufschiebbare Geschäftsreise daran gehindert.

      So war denn Charlotte, geborene Pertzau allein ins Ruhrgebiet gereist, zur Beerdigung ihrer Mutter. Mit dem Zug diesmal und nicht mit einer chauffeurgesteuerten Limousine des Bankhauses ‚Molzberg & Co‘, die ihr normalerweise für ihre Reisen zur Verfügung stand. Gewohnt hatte sie in dem kleinen Bergarbeiterhaus, das ihr Elternhaus gewesen war und das nun ihr gehörte.

      Lange hatte sie nicht gewußt, was sie damit machen sollte. Es zu verkaufen wäre ihr schäbig vorgekommen, obwohl ihr Mann sie damit bedrängte. Also hatte sie es zuerst einmal gründlich renovieren und modernisieren lassen. Jetzt war es das schönste Haus der Siedlung, die längst nicht mehr als schäbig zu bezeichnen war, denn auch die Nachbarn hatten im Laufe der Zeit ihre Häuser herrichten lassen, nachdem sie mehr oder weniger alle zu bescheidenem Wohlstand gekommen waren. Doch trotzdem es ein so schönes Haus geworden war, bewohnte es niemand. Charlotte konnte sich nicht dazu durchringen, es zu vermieten. Der Gedanke daran, daß fremde Leute in den Zimmern leben würden, die einmal die ihren und die ihrer Eltern gewesen waren, behagte ihr nicht. Zum Glück war sie nicht auf Mietzahlungen angewiesen und überdies noch in der Lage, es in einem bewohnbaren Zustand halten lassen zu können. Also ließ sie es leerstehen.

      Das letzte Mal hatte sie darin gewohnt, als sie zu Allerheiligen des vergangenen Jahres die Gräber ihrer Eltern besucht hatte. Auch bei dieser Gelegenheit hatte sie alleine fahren müssen. Adrian hatte ihre Bitte, sie zu begleiten, rundweg abgelehnt und Oswald, nun ja, er zog das alljährliche Abendessen der Hamburger Bankiers dem Besuch am Grab seiner Schwiegereltern vor.

      „Was soll ich da?“ hatte er gefragt. „Deine Eltern sind tot, und sie werden es bleiben, ob ich sie nun auf dem Friedhof besuche oder nicht. Aber meine Kollegen hier, die leben. Und ich will, daß sie meine Kollegen auch bleiben. Und deshalb werde ich diese Dinnerparty besuchen.“

      Seine Worte hatten ihr einen ziemlichen Stich versetzt, aber in ihrer stillen Art hatte sie es hingenommen und nicht protestiert. Weder ihrem Mann noch ihrem Sohn gegenüber. Es hätte auch keinen Sinn gehabt. Ihr Mann hatte es schon immer verstanden, kompromißlos seinen Willen durchzusetzen, und sein Sohn verstand es zunehmend. Es gab wenige Dinge, die er sich von ihr noch sagen ließ.

      ***

      Das gemeinsame Frühstück, zu dem er jetzt kam, war eines der wenigen. Den Begrüßungskuß, den er ihr gab, den gab er ihr allerdings freiwillig. Dazu mußte ihn niemand auffordern. Und auch das Lächeln, mit dem er ihr einen Guten Morgen wünschte, war nicht aufgesetzt. Es war ehrlich gemeint.

      Adrian von Molzberg liebte seine Mutter. Aufrichtig. Und sogar mehr als Bellinda. Mit Sicherheit. Denn ob er Bellinda überhaupt liebte, dessen war er sich keineswegs sicher. Gut, sie verstanden sich prächtig im Bett, und man konnte eine Menge mit ihr unternehmen, aber ob er sie wirklich liebte? Und wenn schon nicht sie, wen liebte er überhaupt? Abgesehen von seiner Mutter. Aber sonst? Seinen Vater vielleicht? Schon allein der Gedanke daran war absurd. Wie konnte man einen Mann wie Oskar von Molzberg überhaupt lieben? Selbst wenn er der eigene Vater war. Wie hatte sich seine Mutter je in ihn verlieben können? Aber vielleicht hatte sie das ja auch gar nicht. Vielleicht hatte sie der Hochzeit einfach nur zugestimmt, damit sie endlich ihren Frieden hatte. Wer, außer ihr, konnte das schon wissen? Und sie würde diese Frage bestimmt nicht beantworten.

      Und sein Vater? Liebte der seine Mutter eigentlich noch? Daß seine Eltern irgendwelche Zärtlichkeiten austauschten, hatte er noch nie gesehen. Vielleicht taten sie das, wenn sie miteinander allein waren, das konnte er natürlich nicht wissen. Obwohl, schließlich mußte er selbst ja irgendwie mal entstanden sein. Aber vorstellen konnte er sich das kaum. Es gab ja auch so gut wie keine Gelegenheit dazu. Die meiste Zeit war sein Vater nicht zu Hause, und wenn er es war, dann schliefen seine Eltern in getrennten Zimmern. Und über die Zeit gegenseitiger nächlicher Besuche zum Kuscheln in des anderen Bett oder mehr, waren sie vermutlich längst hinaus.

      Aber das alles focht ihn nicht an, als er sich an diesem Morgen zu seiner Mutter an den Frühstückstisch setzte, nachdem er sich an dem umfangreichen Buffet bedient hatte, das die Köchin jeden Morgen für sie beide oder, in Ausnahmefällen und meistens an den Wochenenden, für ihn und seine Eltern im Eßzimmer aufbaute.

      Adrian war ein guter Frühstücker. Mit Appetit verputzte er eine umfangreiche Portion Rührei mit Speck, Würstchen und Pilzen. Amüsiert sah ihm seine Mutter dabei zu, während sie sich mit einem Marmeladentoast begnügte.

      „Du scheinst ja richtig ausgehungert zu sein“, stellte sie fest. „Hast Du gestern kein ordentliches Abendessen bekommen?“

      „Ich war bei Bellinda“, antwortete er zwischen zwei Bissen. „Und Du weißt ja, wie weit es mit deren Kochkünsten her ist.“ Er sah sie an und zwinkerte ihr zu. „Aber bevor