Laura Feder

Die Kinder Paxias (Leseprobe XXL)


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leiser Schrei drang vom Bett zu ihm durch, worauf er sofort an Colias Seite stand und besorgt das schmerzverzerrte Gesicht des Mädchens betrachtete.

      „Sie hat sich den Unterschenkel gebrochen. Ich fürchte, ich werde den Bruch richten müssen.

      Halt sie bitte fest, Iain, sie darf sich dabei nicht rühren.“ Colia leitete ihn an das Kopfende des Bettes und zeigte ihm wie er sie fixieren musste – nicht, ohne dem Mädchen zuvor mit bedeutungsvollem Grinsen das Hemd überzuziehen.

      Iain hatte nichts dagegen. Dieses Wesen brachte ihn dermaßen aus der Fassung, dass er sich sicher nicht auf seine Aufgabe hätte konzentrieren können, wenn er ihren nackten Busen direkt vor den Augen gehabt hätte – seine Hände in Reichweite.

      „Festhalten, Iain!“, mahnte Colia noch einmal, dann zog sie mit einem kräftigen Ruck an dem betroffenen Bein.

      Er war auf alles gefasst gewesen, aber nicht auf diese Augen.

      Der plötzliche Schmerz, der durch den Körper der Verletzten raste, musste sie aus ihrer Bewusstlosigkeit gerissen haben.

      Aus weit aufgerissenen Augen starrte sie Iain an.

      Es war nichts, was er jemals zuvor gesehen hatte. Es war wie funkelnder, schimmernder, dunkler Nachthimmel voller Sterne. Überwältigt von dieser Schönheit wich er zurück.

      Dann kam der Schrei.

      Er schien aus ihrem tiefsten Innern zu kommen, ihrer Seele zu entfliehen. Ihr Körper bäumte sich mit ihm auf, fand keinen Halt.

      „Iain!“, schrie Colia hinter ihm und riss ihn endlich aus seiner Lähmung. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen die Schultern des Mädchens.

      Doch es wurde zum Kampf.

      Ihre Stärke war seiner ebenbürtig. Sie wehrte sich, rang wild vor Schmerzen um ihre Freiheit.

      Dann, endlich, erlöste sie abermals eine wohltätige Ohnmacht.

      Schwer atmend lehnte Iain sich an das Kopfende des Bettes, Colia aus halb geschlossenen Augen betrachtend, die den Schienenverband vorbereitete – seelenruhig.

      „Ganz schön kräftig die Kleine, oder?“ Die Frage war so betont beiläufig, dass er deutlich Schadenfreude heraushören konnte.

      „Du hättest mir ruhig helfen können, schließlich bist du die Medizinerin“, murrte er ein wenig verstimmt.

      Colia ließ sich Zeit, sie legte zuerst den Verband an, flößte dem Mädchen eine Kräutermixtur ein und sammelte ihre Sachen zusammen. Dann erst wandte sie sich Iain zu, musterte ihn mit undefinierbarem Blick.

      „Ich dachte“, meinte sie dann verschmitzt lächelnd und schloss die Tür auf, „du könntest ein wenig Abkühlung gebrauchen.

      Die Kräutermedizin lässt sie ungefähr sechs Stunden schlafen, dann komme ich wieder.

      Pass auf sie auf und mach keine Dummheiten.“

      Bevor er etwas erwidern konnte, war sie hinausgehuscht. Einigermaßen konsterniert blickte er ihr nach, doch dann siegte sein Humor. Grinsend schüttelte er den Kopf. Diese Frau.

      „Iain.“ Janos näherte sich ihm mit einem Zettel in der Hand.

      Er verdrehte die Augen. „Was willst du, Janos? Ich hoffe, du verlangst keine weiteren Absurditäten von mir, sonst sehe ich mich gezwungen, einen neuen Berater zu suchen.“

      Dieser zuckte ein wenig zusammen angesichts der drohenden Worte, aber er reichte dennoch dem jungen Mann den Zettel. Eine Liste, wie Iain mit prüfendem Blick feststellte. „Was soll ich damit?“

      Der Berater beugte sich mit einem verschwörerischen Lächeln vor. „Da dieses … Wesen Euch Eures Schlafplatzes beraubt hat, habe ich mir erlaubt eine Liste der jungen Damen zusammenzustellen, die gern bereit wären den ihren mit Euch zu teilen.“

      Die Tür wurde Janos vor der Nase zugeschlagen.

      Kapitel 2

      Sie kämpfte gegen die Leere in ihrem Kopf an, versuchte dem traumähnlichen Zustand, der ihre Sinne gefangen hielt, sie regelrecht zu lähmen schien, zu entkommen.

      Irgendetwas oder irgendjemand hielt sie in einem Bann, doch sie vermochte weder Angst noch Wut zu spüren.

      Es musste ein machtvoller Zauber sein, der sie sogar ihrer elementarsten Gefühle beraubt – sie in ein Nichts gestoßen hatte, mit Körper, Herz und Seele.

      Vielleicht war dies ja der Tod, und sie befand sich an einem Übergangsort, bis Paxia sie wieder in sich aufnahm, sie wieder ein Teil des Ganzen wurde, bevor die Reise des individuellen Lebens abermals ihren Kreislauf nahm und sie einer neuen Herausforderung entgegenblicken ließ.

      Eine Realität, die nahezu ihre Akzeptanz erlangt hatte, als ein Strahl hellen Lichtes den Schleier über ihrem Bewusstsein durchschnitt und sein wohltuendes Zerstörungswerk begann.

      Sie spürte ihren Verstand die Herrschaft zurückgewinnen, allem voran mit der Erkenntnis: Sie war unsterblich.

      Die Unsinnigkeit ihrer ersten Vermutung überwältigte sie fast und brachte ihr gleichermaßen ihre Willenskraft zurück, die nun gemeinsam mit ihrem Verstand den Kampf um ihr Bewusstsein verstärkt aufnahm.

      Mühsam versuchte sie sich zu konzentrieren.

      Da sie nicht tot sein konnte, in welch seltsamem Zustand befand sie sich dann?

      Und wo befand sie sich?

      Und vor allem – wie war sie hierher gekommen?

      War sie überhaupt auf Paxia?

      Konnte es sein, dass dem Ältesten ein schrecklicher Fehler bei der Aktivierung des Transferturms unterlaufen war?

      Oder waren die bösen Mächte, die das Unglück ihres Volkes verursacht hatten, so stark, auch Paxia selbst verschlungen zu haben, und sie war nun ebenfalls eine Gefangene?

      Existierte Paxia womöglich gar nicht mehr?

      Existierte sie selbst dann auch nicht mehr?

      Konnte die Macht eines fremden Wesens solche Ausmaße annehmen, so überwältigend sein?

      Nein, das konnte nicht sein – sie spürte es tief in ihrem Innern. Wo auch immer sie war, das pulsierende Leben Paxias umgab sie sicher und beständig – sogar wesentlich intensiver als in ihrer Heimat.

      Ihre Sorge war zu sehr von wachsender Panik beherrscht gewesen, hatte ihre Gedanken auf absurde Wege geleitet, die sie mit ruhigen Überlegungen nie beschritten hätte.

      Sie hatte ein weiteres Mal zu viel ihre Emotionen über den Verstand siegen lassen – angesichts ihrer Situation verständlich, aber nicht entschuldbar für eine Gelehrte der Sternwächter.

      Mit dieser Erkenntnis kehrte ihr Bewusstsein endgültig zurück. Es war, als erwachte sie aus einer Art tiefer Ohnmacht.

      Wärme umgab sie, und sie konnte etwas hören, das man ihr oft als das Flackern von Feuer beschrieben hatte. Dazu das leise Knistern der brennenden Holzscheite und die seidige Weichheit, in die sie gebettet lag. Es vermittelte Geborgenheit und ein gewisses Maß an Sicherheit.

      Vorsichtig horchte sie in sich hinein, doch zu ihrer Erleichterung, wie auch zu ihrem Erstaunen, verspürte sie keinerlei Schmerz. Dabei war sie sicher, nach dem Transfer mitten im Auge eines Tornados gelandet zu sein.

      Dieser hatte sie jedoch gewiss nicht in ein weiches Bett gelegt und unnötigerweise zugedeckt, wo sie Kälte als solche doch gar nicht empfinden konnte.

      Mühsam sammelte sie ihre Gedanken und versuchte sich ganz auf ihre Erinnerungen seit dem Transfer zu konzentrieren. Doch jedes Mal, wenn sich ein Bild vor ihrem inneren Auge zusammenzufügen schien, verschwamm alles gleich wieder in dem milchigen Dunst eines Nebels, der diesen Teil ihrer Vergangenheit verschlang.

      In jeder anderen Situation hätte sie längst die Nerven verloren.