Sanne Prag

Ein Kleid aus Seide


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Wenn sich ein Teil nicht biegen ließ, war das ein Minus. Abzug. Verachtung, die anhielt. Manchmal dachte sie, dass es so etwas wie ein Schwarzbuch der Körperhaltungen gab. Wenn was nicht ging, war sie eingetragen, eingeschränkt verwendbar – Wertminderung. Das war der Punkt, an dem Mädchen nicht völlig austauschbar waren. Wichtig war, bei einer sehr anstrengenden, schwierigen Körperhaltung keinen roten Kopf zu bekommen, lässig zu lächeln. Das ging fast nicht, wenn man keine Luft bekam.

      Da war es wieder, das scheußliche Gefühl vom Vortag. – Keine Luft. Fast so schlimm wie kein Essen, kein Wasser, aber schneller in der Bedrohung, gewaltiger im Moment. So sehr sie versuchte, es abzuschütteln, es war da, riss plötzlich ein Loch in den Vorhang vor dem Gestern.

      Sie versuchte, wie beweglich ihre Finger waren, immer ein Auge auf die gerade anlaufende Fotosession. Die Finger ließen Bewegung zu, obwohl ihre Handgelenke schmerzten. Aber das angeschwollene Knie ließ sich nicht ganz abbiegen.

      Tennisspieler durften weinen, wenn ein Bein krampfte. Sie durften Timeout nehmen, sich deutlich sichtbare Bandagen um die unfunktionellen Teile wickeln. Durften humpeln, sich bedauern lassen und wegen ihrer Stärke bewundert werden. Alles undenkbar in ihrem Fall. Schon zu sagen, dass Abbiegen nicht möglich wäre, war so etwas wie Vertragsbruch. Sie musste das Knie bei der Nachtsession beichten und irgendeinen harmlosen Grund erfinden. Nicht die Wahrheit, nein keinesfalls. Kein Mensch in einem Fotostudio war an der Wahrheit interessiert. Die wollten herrliche Bilder, Eindrücke schaffen, wunderbare Impressionen. Ein kaputtes Knie war ein Hindernis, sonst nichts.

      „Sag Rod, wer macht denn bei der Nachtsession Kamera?“ Sie hatte sich an Rod angeschlichen und zupfte an seinem Ärmel.

      Er, mit rot geränderten Augen, hatte nach dem Vortag auch keine gute Nacht gehabt. Er befragte seine Seele, seine Erinnerung, sein gesamtes System, sein dickes Buch. „Heinz“, sagte er schließlich. Rod war immer höflich und bereitwillig, sogar zu einem Kleiderständer.

      Heinz war ok. Eigentlich mochte sie Heinz sehr gerne. Sensibel und realistisch, eine gute Mischung.

      SPÄT NACHTS

      Die erste Kamera-Einstellung, die ersten Bilder waren geschafft, aber sie wusste, dass sie im Moment keine mehr schaffen würde. Sie setzte einen sehr verlorenen Blick in ihre Augen und ging aus dem Raum in eine dunkle Halle. Flucht vor der Wiederverwendung, scheinbar Richtung WC.

      Da standen Rüstungen und Glaskästen mit aufgespießten Käfern, Tote an der Wand und Tote unter Glas in übrig gebliebenen Panzern aus Eisen oder Chitin mit dem Speer noch mittendurch. Die Rüstungen, die Leben schützen sollten, entlang der Wände und in den Vitrinen aufgereiht als Schauobjekte, aufgespießt. Die Schutzhüllen waren einmal Lebensgrundlage gewesen, jetzt nur mehr Deko, abgewirtschaftet, mit Staub drauf, Ritter wie Käfer.

      Was die Männer in Rüstung wohl damals gedacht hatten, wenn sie entlang der Vitrinen zum Tournier geschritten waren? Ob sie sich auch so aufgespießt gesehen hatten? Zuerst tot und dann Dekoration wie diese Käfer, für alle die zufällig da waren. Der Tod - ein interessantes Ereignis für Leute in eleganten Kleidern. Der Tod beim Tournier war wohl Rahmen für die Kleider, die ja Anlässe brauchten, um angezogen zu werden. Das Ende eines Lebens als nebensächliches Ereignis am Rande einer Modenschau. Therese fragte sich, ob das die Ritter in dieser Burg auch als so komisch gefühlt hätten wie sie. Es kam ihr ungereimt vor, die falsche Wichtigkeit.

      Sie erweckte weiterhin den Anschein, als ob sie gerade ein WC suchen ging. Für wen? Keiner sah sie. Da war niemand. Sie schaute an den Wänden entlang in die Nischen.

      Sie hatte mit Heinz einen Flüsteraustausch wegen des Knies gehabt, fertig in eine auberginefarbene, glatte Robe gehüllt, mit glatten, langen, auberginefarbenen Handschuhen, die ihre Flecken an den Armen gut verdeckten. Sie hatte ihm gesagt, dass sie gerade über den Randstein gekippt war und ihr Knie anschwelle. Er verstand – keine Extremstellungen mit dem Knie. So etwas gab es eben, konnte passieren. Sie war vorübergehend in Sicherheit. Der kühle Gang ließ ihre Angst vorm Schwitzen kleiner werden. Sie musste nur aufpassen, dass das Kopftuch nicht verrutschte. „Wie Samenkapseln“, hatte Udo gesagt. Es verdeckte die Haare großteils, und gleichzeitig lugten sie an Ecken und Spitzen sichtbar hervor aus der kunstvollen Pracht am Kopf, manchmal in einer anderen Farbe als die Haare darunter. Kopftücher als Zentrum der Modelinie. „Könnte ein Erfolg werden“, hatte sie Udo zu einer Assistentin sagen gehört. „Man spart den Friseur.“

      Sie sah in das Glas einer Vitrine, um zu klären, ob eine ihrer Schadstellen sichtbar geworden war. Sie bildete sich ein, dass der Fleck am Hals sich deutlicher abzeichnete. Wenn der noch dunkler wurde, war er nicht mehr zu übersehen. Vielleicht konnte sie Udo infiltrieren, Streifen für den Hals, Halskrausen oder Spitzenstreifen der Kopftuchlinie hinzuzufügen?

      Sie schaute in eine andere Vitrine, um sich von ihren Schmerzen abzulenken.

      Da lag eine Maske, das Bild eines sehr alten Mannes. Die Maske eines Greises, sehr hell, fast weißlich, Porzellan vielleicht. Mit geschlossenen Augen lag er da, wie schlafend, zwischen ausgestopften Tieren und seltsamen Musikinstrumenten. Ein leises Lächeln auf den Lippen, schien er friedlich zu schlafen, still, ohne Forderung. Sie versenkte ihren Blick in sein ruhiges Gesicht, in die feinen Falten, wie Plissees vom zu heißen Bügeln. Die Bilder vom Vortag kreisten fern wie im Reigen. Sie in der Mitte hielt die Gesichter auf Abstand, ein Zauberbann, der viel Kraft kostete. Sie ließ sich sanft in den Schutz dieses Vatergesichtes gleiten. Fünf Minuten Ruhe, bevor sie sich wieder der siedenden Welt gegenübersah. Seine stillen Züge genießend, wie eine weiche, leichte Decke – da öffnete er die Augen.

      Die Maske öffnete die Augen – sehr hellblaue Augen. Sie schauten aus dem Glas wie frisch erwacht.

      Therese war elektrisiert. Fing sie jetzt schon zu spinnen an? Das konnte sie sich nicht leisten. Spinnereien musste man sich leisten können.

      Die Maske schloss die Augen wieder, und es war, als ob nichts gewesen wäre. Sie verharrte noch zwei Minuten.

      Zwei Minuten sind sehr lange, wenn man in Erwartung auf einen bestimmten Punkt starrt. Die Augen blieben geschlossen, als ob nichts gewesen wäre. Ihr hungriger Blick wartete auf ein Zucken der Lider, ein Verändern des Mundes. Da war nichts.

      Hatte sie Halluzinationen?

      Sie musste zurück.

      Sie musste zurück und hatte noch immer keine Ahnung, wo das WC war. Und da gab es blaue Augen, die sie ansahen, oder gab es die nicht?

      Der hell erleuchtete Saal hatte sie wieder. Überall heiße Scheinwerfer, darüber weiße Lichtpunkte im Hitzenebel. In der Mitte stand eine Gruppe um einen Mann, den sie nicht kannte. War es gut hinzugehen, oder sollte sie sich besser still in eine Ecke setzen?

      Er war hellgrau und einheitlich angezogen. Wer war der? Kein Star. Sie hatte gelernt, grau angezogen waren meist nicht die männlichen Stars. Stars waren weiß glitzernd, schwarz oder bunt. Sie war noch zu keinem Entschluss gekommen, als Heinz aus der Gruppe rief: „Theresa komm, du bist gefragt.“

      Langsam ging sie hin, eine starke Spannung im Steißbein. Sie musste sich völlig gerade halten, ihr Gang sollte leicht wirken, schwerelos. Die Schmerzen bremsten den Schritt. Kunstgriff der Leichtigkeit: Sie hatte gelernt, wie leichte Schritte auszusehen hatten. Sie hob die Beine wie eine Marionette an Fäden. Es war wichtig, denn da schien es einen Job zu geben. Sie wusste, da würde ein Angebot kommen. Die Schmerzen schütteten Stoffe in ihren Körper, wie Alkohol. Sie wurde leichtfertig. Schwerelos leichtfertig, völlig unrealistisch. Sie würde jetzt und hier um die Gage pokern.

      Udo sagte: „Das ist Walter von Ponhomy. Ihm gehört die Burg. Hier wird ein Film entstehen. In den Mauern und im Park wird gedreht werden und wir sind mit dabei. Er hat uns engagiert und wir werden unsere Modeschau als Teil des Filmes zur Verfügung stellen. Aber außerdem möchte er, dass einige von unseren Damen sich beim Dinner unter die Gäste mischen. Dekor, Glamour, die Freude am Schönen.“

      Das war eine andere Form von zusätzlicher Arbeit „zu den üblichen Preisen“. Nein! Diesmal nicht. Sie raffte alles an Selbstbewusstsein zusammen,