Alexander Winethorn

Endgame


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Krowley war sozusagen der Anführer der Demonstranten, oder zumindest glaubte sie das. Sie war sich nicht ganz sicher, welche Stellung er im Lager hatte. Alice wusste nicht einmal genau, worum es bei diesen Demonstrationen ging. Im Radio hieß es, die hohe Arbeitslosigkeit wäre die Ursache für die Unruhen. Aber sie hatte schon andere Gründe gehört, von irgendwelchen Gesetzesänderungen oder so etwas Ähnlichem.

      Obwohl ihr Vater, Richard Pollux, der Präsident des Landes war, hatte Alice nicht das geringste Interesse an der Politik. Die Politik war für sie zu trocken und zu langweilig, außerdem stellte sie fest, dass Politiker im Allgemeinen keine besonders attraktiven Menschen waren. Warum sich also damit beschäftigen?

      Ihr Interesse an diesem Abend galt einzig und alleine Albert. Bereits im allerersten Moment, als sie ihn bei einer Party eines Bekannten erblickte, wusste Alice, dass sie füreinander bestimmt waren. Zwar war Albert bereits Mitte vierzig, also fast doppelt so alt wie sie, aber da sie mit Männern in ihrem Alter noch nie wirklich etwas anfangen konnte, störte sie der Altersunterschied nicht. Im Gegenteil, sie fand ihn deswegen umso attraktiver. Seine groß gewachsene Figur mit dezent antrainierten Muskeln, sein weiches Gesicht und seine haselnussbraunen Augen waren ihre Beweggründe zu demonstrieren. Wohin und weswegen sie demonstrierte, spielte für Alice keine Rolle, Hauptsache sie war in Alberts Nähe. Leider wusste er nichts von ihren Gefühlen zu ihm, aber das sollte sich ändern, denn heute Nacht wollte sie ihm ihre Liebe gestehen.

      »Hallo! Gut, dass du gekommen bist!«, sagte Albert mit einem charmanten Lächeln.

      »Danke, dass ich hier sein darf«, piepste sie zurück.

      »Ich bitte dich. Jeder, der für unsere Sache kämpft, ist willkommen.« Albert sprang mit jugendhaftem Eifer auf einen Sessel, hob die Arme in die Höhe und rief den Leuten zu: »Hört her!« Alle Augen im Zelt waren auf ihn gerichtet. »Das ist … Steffi? Äh … Isabella? Nein! Sandra!« Albert runzelte die Stirn und blickte sie fragend an.

      »Alice«, flüsterte sie ihm leicht verlegen zu.

      »Alice! Natürlich! Das ist Alice! Sie wird mit uns marschieren, wenn wir diesem veralteten Polizeistaat eine Lektion erteilen, indem wir eine gerechte und soziale Kommune erschaffen! Lang lebe die spirituelle Revolution!«

      Ein kurzer, zustimmender Applaus folgte.

      Albert nahm ihre Hand und führte Alice zu einem anderen Teil des Zeltes, wo mehrere Personen lebhaft miteinander diskutierten. Sie konnte nicht feststellen, worüber sie sprachen. Nicht, dass es sie wirklich interessiert hätte, allerdings wollte sie Albert beeindrucken. Als sie näher herantrat, sah sie ihre Freundin Lydia.

      Lydia hatte schulterlange, braune Haare, einen wohlproportionierten Körper und ein hübsches Gesicht. Sie studierte Biologie an der städtischen Universität. Alice selbst war Medizinstudentin und traf Lydia in einer Vorlesung über Humanethik. Eine langweilige und überflüssige Vorlesung, aber eine geschenkte Prüfung.

      »Hallo Prinzessin! Ich dachte, du kommst gar nicht mehr.« Lydia umarmte Alice zur Begrüßung und küsste sie auf die Wangen.

      »Ja, sorry, musste meinen Bruder noch bei seinem Freund abliefern. Was besprecht ihr gerade so Wichtiges?«, fragte Alice, mehr aus Höflichkeit als aus Interesse.

      »Gestern Nacht gab es einen unglücklichen Zwischenfall mit der Polizei«, sagte Lydia mit besorgter Miene. »Niemand weiß was Genaues, aber angeblich ist ein Polizeitransporter, der voll mit Demonstranten war, explodiert.«

      Alice konnte ihr schockiertes Gesicht nicht verbergen. »Ich dachte, wir würden nur ein paar Plakate herumtragen und friedlich herumspazieren … ähm … ich meinte, demonstrieren?«

      »Keine Angst. Ist wahrscheinlich nur ein Gerücht«, beruhigte Lydia ihre Freundin. »Von solchen hört man im Lager viele. Die Nachrichten sind in dieser Hinsicht keine große Hilfe. Die zeigen auch nur das, was die Politiker ihnen vorgeben. Sie wollen uns Demonstranten als gewalttätige und aufständische Rebellen darstellen.«

      Alice blickte auf ihre rosa Jacke und ihre weißen Stiefel. Dass jemand denken könnte, sie wäre eine Rebellin, amüsierte sie. Alice Pollux, die High-Society-Rebellin!

      »Du bist nicht wirklich den Umständen passend angezogen«, meinte Lydia, als hätte sie ihre Gedanken gelesen.

      »Typisch Prinzessin eben«, erwiderte Alice grinsend und strich sich dabei durch ihre blond gefärbten Haare.

      Die Gruppe, die zuvor noch miteinander diskutiert hatte, verschwand mit Albert hinter einem purpurnen Vorhang. Alice wollte mit ihm mitgehen, doch ihre Freundin hielt sie zurück.

      »Da dürfen wir nicht hinein. Ist so eine Art VIP-Bereich«, sagte Lydia.

      Alice machte einen leicht verdutzten Gesichtsausdruck. »Ein VIP-Bereich in einem Zelt?« Sie konzentrierte ihren Blick, als wolle sie mit einem Röntgenblick durch den purpurnen Vorhang hindurchsehen. Aber all ihre Konzentration half nichts. Sie fragte sich, was wohl hinter dem Vorhang so Wichtiges und Exklusives passierte. Sie nahm sich vor, Albert beim nächsten Mal darauf anzusprechen.

      »Lass uns gehen, Alice. Wir müssen für dich geeignete Klamotten finden.« Mit diesen Worten verließ Lydia das Zelt, und Alice folgte ihr.

      Die Matriarchin

      ****

      Kleine grüne Punkte wirbelten durch die Luft, wie Glühwürmchen, die im tiefschwarzen Himmel herumschwirrten. Die fliegenden Lichtpunkte ließen die Umrisse von etwas Großem und Bedrohlichem erkennen. Die Scheinwerfer des Parlaments strahlten mit ihrem hellweißen Licht auf das unbekannte Objekt im Himmel. Allmählich wurde der Flugkörper sichtbar. Es war ein schwarzer Helikopter.

      Der Hubschrauber setzte zur Landung auf dem Dach des Parlaments an. Gleich wie ein Raubtier, das auf seine Beute sprang.

      Ein Mann und eine Frau stiegen mit eingezogenen Köpfen aus dem Helikopter. Mehrere Leibwächter eskortierten die beiden.

      Der Mann, um die fünfzig, mit randloser Brille, blauer Krawatte und silbernem Haar, war Richard Pollux, der Präsident des Landes. Die Frau, die ihn begleitete, hieß Eva Scheppert. Sie hatte lange, schwarze Haare, eine schlanke Figur und eine dunkle Hautfarbe.

      Eva war die erste Frau in der Geschichte des Landes, die zur Kanzlerin gewählt wurde. Ein Posten, der bisher immer nur von Männern besetzt worden war.

      »Was wissen die Medien über den Zwischenfall von gestern Nacht, Frau Scheppert?«, rief der Präsident mit aller Kraft, damit seine Stimme nicht unter dem Motorenlärm des Hubschraubers unterging.

      »Nicht viel«, erwiderte Eva in einer genauso hohen Lautstärke. »Sie wissen nur, dass ein Polizeitransporter angegriffen wurde und es Tote gab. Aber sie haben weder konkrete Zahlen, noch können sie etwas über den Vorgang sagen, Herr Präsident.«

      »Gut, gut«, sagte Pollux. »Lassen Sie uns hoffen, dass das auch so bleibt. Ich rate Ihnen, ein Flugverbot auf alle Privatflieger und Nachrichtenhubschrauber zu verhängen. Die Medien sollten so wenig wie möglich mitbekommen. Was schreiben die Zeitungen über die derzeitige Situation?«

      Beide gingen durch eine Tür, die ins Innere des Parlaments führte, und stiegen die Treppen hinunter.

      »Das TÄGLICHE BLATT lobt den Abbruch Ihres Urlaubes als ein Zeichen für Ihre Sorge um das Volk. Außerdem sind sie der Ansicht, dass ich als Frau den Anforderungen des Kanzlerpostens nicht gewachsen bin. Die XRF bleibt bei den Fakten. Sie meint jedoch, dass die Ausschreitungen ein weiterer Beweis dafür wären, dass das Amt des Präsidenten überflüssig geworden ist und endgültig abgeschafft werden sollte. DIE NORM nennt die letzte Nacht eine ›verheerende Katastrophe‹ und beschwört eine ›Revolution des Volkes‹.«

      »Revolution?«, entfuhr es dem Präsidenten. »Diese Medienclowns haben keine Ahnung, was eine Revolution ist! Es geht hier doch nicht um den Sturm auf die Bastille! Nur weil einige Arbeitslose den Weg zum Arbeitsamt nicht mehr finden, sondern auf den Straßen umherirren, denkt jeder gleich, das sei das Ende