Tanja Flügel

Marthe


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und mit der gleichen Ergebenheit, mit der sie im letzten Jahrhundert immer wieder bestrebt sein mussten, aus dem Verbliebenen das Beste und Wallensen wieder bewohnbar zu machen, ordneten sie jetzt ihre menschlichen Verhältnisse neu. Die übrig gebliebenen Kinder fanden Aufnahme in Familien, denen die Pest sämtliche kleinen Mitglieder geraubt hatte. Männer und Frauen fanden zueinander, vielleicht schneller als es in glücklicheren Zeiten möglich gewesen wäre. Jeder suchte nach helfenden Händen und fand sie auf die eine oder andere Weise. Leere Häuser wurden wieder besiedelt und manch einer mag dadurch sogar zu unverhofftem Aufstieg gekommen sein, wie es in Krisenzeiten so oft zu beobachten ist.

      Meine Mutter kam bei dem Bierbrauer Beinling und seiner Frau unter, denen ihr Haus geblieben, aber sechs Kinder genommen worden waren. Neben der Brauerei gab es hier eine große Landwirtschaft; Felder und reichlich Tiere machten aus dem Beinling einen wohlhabenden Ackerbürger.

      Als meine Mutter einige Jahre später meinen Vater heiratete, war das Leben fast zur Normalität zurückgekehrt, die schäbigen Hütten an der Stadtmauer verfielen und zum Zeitpunkt meiner Geburt gab es in Wallensen vierzehn Ackerleute, reiche Bürger mit ausreichend Feldern und fettem Weideland. Auf ihren Wohlstand blickten, nicht ganz ohne Neid, die Familien der vier sogenannten Halbspänner, deren Land gerade so eben reichte, um alle Münder satt zu bekommen. Dazu gab es sechsunddreißig arme Kötnerfamilien, die hinter ihren winzigen Häuschen nur einen kleinen Garten ihr Eigen nannten und sich zusätzlichen Lohn und Handwerk suchen mussten, um nicht zu verhungern.

      Meine Mutter zog nach ihrer Hochzeit zu meinem Vater in das Haus meiner Großeltern, die Müller waren und deren Mühle damals gerade aus dem frischem Bauholz, das den Wallensern von Herzog Erich II. zugesprochen wurde, am Ufer der Saale erbaut worden war. Während die letzte Mühle, sowie wir sie heute kennen, in direkter Nähe zum Brauhaus des Beinlings liegt, musste meine Mutter damals an den Rand des Ortes, ganz in die Nähe der Mühlenpforte, ziehen.

      Auch wenn sie das stetige Klappern des Mühlrades liebte, ließ doch die nahe Pforte immer wieder die Erinnerung an jene Pestnacht in ihr aufkommen, in der sie herausgeschlüpft war und alles verloren hatte. Der steile Weg aus dem Tor führt direkt nach Thüste und wenn sich die Notwendigkeit ergab, dorthin zu gehen, schickte sie immer uns Kinder. Sie selber ging bis zu ihrem Tod nur noch ein einziges Mal aus diesem Tor.

      Kindheit in der Mühle

      Der Geruch nach frisch gemahlenem Korn und das Plätschern des Wassers sind meine ersten Erinnerungen. Die Erinnerungen eines kleinen Mädchens, das durch das geheimnisvolle Halbdunkel der Mühle tappst, in dem sich knarrend große Holzräder drehen und die Luft den Staub kaum tragen kann. Verschwommen konnte ich meinen Großvater erkennen, der zusammen mit meinem Vater und dem Müllerburschen Adam Säcke schleppte, das Mühlrad kontrollierte und mit den Bauern, inmitten der Nebelschwaden aus Mehl, Geschäfte durch Handschlag besiegelte. Adam war ein freundlicher Junge, manchmal piekte ich ihn mit meinem kleinen Finger, wenn er einen Mehlsack auf dem Buckel an mir vorbei trug und er tat so als sei er schrecklich kitzelig, weil mich das zum Lachen brachte.

      Mein Bruder Hans, drei Jahre älter als ich, hatte ebenfalls bereits seine Aufgabe in der Mühle. Er musste das herabgefallene Korn mit dem struppigen Reisigbesen zusammenfegen und in einen Sack füllen. Oft kam er abends nach vielen Stunden Arbeit mit rot geschwollenen Augen ins Freie und wusch sich wie besessen das Gesicht im klaren Wasser der Saale. Dann tat er mir leid. Aber meistens nicht lange, denn sobald es ihm besser ging, erzählte er mir entsetzliche Geschichten. Über weiße Frauen, die sich aus dem Nebel der Mühle zusammenrotten und kleine Kinder mit sich nehmen, um sie grausam umzubringen. Wie Speere im Rücken verfolgten mich diese Geschichten, wenn ich durch den Mühlenraum musste, um den Schweinen hinterm Haus Futter zu bringen und zufällig kein Erwachsener da war.

      Außer Hans hatte ich noch drei weitere Brüder, aber sie alle waren kaum lange genug lebendig um einen Namen zu bekommen. Die wachsende Rundung des Bauches meiner Mutter endet zweimal damit, dass ich in aller Eile zum Magister Buchholz, den ihr in eurer Zeit Pastor nennen würdet, geschickt wurde, um ihn zur Nottaufe in die Mühle zu holen.

      Das letzte Mal kam er Anfang des Jahres 1616 zu uns, selbst mit triefender Nase und geschwollenen Lymphen, übergab er den schwächlichen Säugling in Gottes Gnade. Bald darauf starb er selbst und bekam ein schönes Grabmal, das ihr noch heute im Turmraum der Wallenser Kirche besichtigen könnt.

      Carl, mein jüngster Bruder, krähte fast ein Jahr fröhlich durch das Haus, bis er sich eines Morgens plötzlich mit hochrotem Kopf und glühenden Händchen in seinem Bett hin- und herwarf.

      Dieses Mal wurde ich zur Kräuterfrau geschickt, die in einer kleinen Hütte weit außerhalb der Stadtmauern bachaufwärts wohnte und nur in äußersten Notfällen und heimlich in die Stadt gerufen wurde. Die Menschen hatten Gerüchte über ihre Hexenkünste gehört und vertrauten im Allgemeinen lieber der heilenden Kraft eines Gebetes anstatt sich einer solchen Gefahr auszusetzen. Es musste ernst um Carl, meinen Bruder, stehen, wenn meine Eltern ein solches Risiko eingehen wollten.

      Ich machte mich also auf den Weg. Im Bachbett ging ich entlang, gegen den Strom, denn einen anderen Weg gab es nicht, und hielt sorgfältig mein Kleid mit der Hand geschürzt. Auch wenn ich die Spaziergänge in der Saale liebte und sonst munter in der Strömung planschte, war mir doch heute bang ums Herz. Ich wollte auf jeden Fall meine Kleidung ordentlich halten, denn es bestand eine gute Wahrscheinlichkeit, dass ich heute Abend bereits tot oder verzaubert sein würde, wenn ich der Kräuterhexe begegnete. Und im ersten Fall wollte ich dem Herrgott unbedingt als ordentliches kleines Mädchen gegenüber treten.

      Dass meine Eltern ebenfalls mit einer solchen Entwicklung rechneten, konnte man auch daran ablesen, dass sie mich und nicht meinen Bruder Hans schickten, der ja immerhin drei Jahre älter war als ich, nämlich inzwischen neun. Mich verwunderte das nicht weiter. Er war schließlich der - möglicherweise einzige – Erbe und ich war nur ein Mädchen, dessen Verlust zwar tragisch, aber leichter zu verschmerzen wäre.

      So schritt ich voller Angst, aber mutig voran. Mal in der Saale, mal an ihrem Ufer, vorsichtig auf mein Kleid bedacht und auf den Krug Bier, den ich als Lohn für die Kräuterfrau bei mir trug.

      Ich kam an der Quelle vorbei, deren Wasser salzig schmeckt und an der Stelle, an der heute, vierhundert Jahre später, der Paradiesteich liegt. Von großen Eichen ist er umgeben, die wie alte Leute weise auf das modrige Wasser blicken, das sie mit ihrem fallenden Laub jedes Jahr schwärzer machen. Ich bekam sehr schmutzige Füße, als ich einen Abhang mit merkwürdig trockener, braunstaubiger Erde vom Ufer empor kletterte, und stand schließlich vor dem Garten der Kräuterfrau in einer Lichtung im Wald. Zwischen sich und die Welt hatte sie einen spitzen Zaun aus gespaltenen Kastanienhölzern gestellt und ein kleines wackeliges Türchen, das sich nur von innen öffnen ließ.

      Hexe kommt von Hagis, ‚die auf dem Zaun zwischen den Welten sitzen‘, so heißt es. Diese Kräuterfrau saß zwar nicht wirklich auf dem Zaun, aber wie aus einer anderen Welt sah sie schon aus, wie sie da im flirrenden Sonnenschein in ihren grünen und bunten Wolken aus blühender Melisse und duftender Pfefferminze stand.

      Hinter ihr ragte mannshoher Liebstöckel empor, neben dem sie klein und zierlich aussah, und in der Hand hielt sie ein Büschel Ysop mit einer Unzahl kleiner lila Blüten.

      Nein, furchterregend erschien sie mir nicht und so trug ich ihr vor, warum ich kam. Über den Zaun reckte ich ihr mein Geschenk, das Bier, entgegen. Sie nahm es und ließ mich genau schildern, wie der kleine Carl heute Morgen ausgesehen hatte, sah mich nachdenklich an und verschwand dann in der kleinen Eingangstür ihres Hauses. Ratlos stand ich da, sechs Jahre alt, mitten im Wald, einer Kräuterhexe auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, und wagte nicht, mich von der Stelle zur rühren.

      Als sie wiederkam, blickte sie mir ernst in die Augen und hätte ich zu denken gewagt, hätte ich ihr Gesicht vielleicht jung und nett gefunden, so aber sah ich, mit dem verschwimmenden Blütenmeer im Hintergrund, nur zwei eindringlich leuchtende dunkelblaue Augen und rote flüsternde Lippen.

      „Dein Bruder wird bereits tot sein, wenn du nach Hause kommst. Nimm diesen Kräutersud für deine Mutter, damit sie kräftig bleibt und gesunde Kinder zur Welt bringen kann, als Dank für das Bier.

      Nimm