Tanja Flügel

Marthe


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Teig aus Asche und verkohlten Holzbalken. Anstelle von Rosinen war er mit vereinzelten Tierkadavern und menschliche Leichen gespickt, kleinere Rauchwolken ergaben eine bösartige Garnierung.

      Ein Kind begann in der Stille zu weinen und bei diesem Zeichen wurde aus lautlosen Tränen ringsherum leises Schluchzen und dann lautes Wehklagen. Männer und Frauen schlugen fassungslos die Hände vor das Gesicht, krümmten sich vor nicht beherrschbarem Entsetzen und schrien schließlich ihre Verzweiflung in den Morgen hinaus.

      „Was soll aus uns werden?“, flüsterte meine Mutter und sah auf die kleine Louise in ihren Armen.

      „Was soll aus uns werden…“

      „Alles vorbei“, sagte mein Vater mit tonloser Stimme und drückte Hans und mich so fest an sich, dass wir kaum noch Luft bekamen.

      Unsere Nachbarin, die alte Base Klingbeil kniete mit vor Kummer schmerzverzerrtem Gesicht im Gras, hatte die Arme vor dem Leib verschränkt und schaukelte auf unmenschliche Weise stöhnend vor und zurück. Von dem, was um sie herum geschah, schien sie nichts mehr wahrzunehmen.

      Sie war nicht die Einzige. Hatte es mit einem gemeinsamen Klagelaut der Wallenser Bürger begonnen, verfielen jetzt immer mehr Menschen in eine Art Irresein an der Welt, sie umarmten einander und verharrten reglos so, mit stupfsinnigen und erschöpften Gesichtern, deren Augen ins Leere sahen. Eine Versammlung verschmutzter und leichenblasser Menschen, die aussahen, als erwarteten sie außer dem Tod nichts mehr vom Leben.

      Niemand bemerkte, dass ein kleiner gebückter Mann sich entfernte und in Richtung Wallensen hinkte. Jeder kämpfte auf seine Weise mit dem Schmerz, alles verloren zu haben und die Älteren wurden zusätzlich von ihren Erfahrungen gequält, denn sie wussten noch vom letzten Feuer nur zu gut, was uns allen bevorstand.

      Plötzlich schlug die Wallenser Kirchturmglocke. Acht laute und klare Schläge.

      In der Menge erhob sich ein leises Raunen, die Starre wich aus den Menschengrüppchen. Der Magister Heisius war auf einen Karren geklettert.

      „Seht!“, rief er und zeigte in das Tal. „Seht doch, die Kirche! Sie steht inmitten der Trümmer und ist fast unversehrt. Gott hat uns nicht verlassen! Er wird uns beistehen, bei allem was kommt. Er wird uns auch diesmal helfen, Wallensen wieder aufzubauen, wie es den Älteren unter uns und deren Vätern und Großvätern mit Gottes Hilfe schon so oft gelungen ist.“

      Die Menschen fielen auf die Knie und sprachen auf Geheiß des Magisters im Chor ein Gebet und dann ein weiteres. Sie sangen gemeinsam „Lobet den Herren“, erst zaghaft, dann immer lauter, als webten sie sich mit diesem gemeinsamen Lied eine wärmende Decke für den kalten Morgen im Oktober, die sie mit sich nahmen, als sie all ihre Kraft brauchten, um ihr verkohltes Städtchen näher in Augenschein zu nehmen.

      Ich ging widerstrebend an der Hand meines Vaters hinter den Consules Bleibaum und Schmiedes durch das Niedertor. „Gott hat uns nicht verlassen!“, hatte der Magister gesagt. Vielleicht war es dann doch nicht meine Schuld, dass es zu dem Brand gekommen war. Immerhin stand die Kirche gut sichtbar und ohne größere Schäden vor uns und ich war bereit, diesen Beweis meiner Unschuld zu akzeptieren. Alles andere wäre zu schrecklich gewesen.

      Wir sahen die verkohlten Leichen derer, denen die Flucht nicht mehr geglückt war. Es waren ungefähr zehn. Erwachsene und Kinder, zwei Kötnerfamilien, wie wir später feststellten, als die Wunden geleckt und die Lebenden gezählt wurden. Die Verzweiflung mit der die Menschen ihr weniges Hab und Gut retten wollten, hatte ihnen den Tod gebracht.

      Über verbrannte, herabgefallene Balken kämpften wir uns bis zum Marktplatz, wo wir einen weiteren Toten fanden, der leicht zu erkennen war. Es war der einbeinige Samuel, der ohne Verwandten war und an den in der Eile niemand anders auch nur einen Gedanken verschwendet hatte. Bis aus seinem kleinen Häuschen hatte er es geschafft, aber auf der Straße hatte ihm das Feuer die Hand auf die Schulter gelegt und war mit Holzbein und Menschenfleisch gleich verfahren.

      Gemeinsam zogen wir zur Kirche. Die Flammen hatten die Steine der Kirche geschwärzt und in die hölzerne Tür der Kirche gebissen, aber die schien nicht nach ihrem Geschmack gewesen zu sein. Sie hing noch, nur an den Rändern angefressen und etwas schief, in den Angeln. So musste man tatsächlich eine Tür öffnen, um in einen Kirchenraum zu gelangen, in den von oben die Sonne schien. Über dem Altar war das Dach geschmolzen, die Dachsteine waren zerbrochen und glühend auf das Kirchengestühl herabgeregnet. Das Glas der zwei Fensterreihen war zersplittert. Unberührt stand der steinerne Altar, aber der geschnitzte Jesus und sein Holzkreuz hatten sich erschöpft als Häufchen Asche darauf niedergelegt.

      Auch die ganz vorderen Holzbänke waren zu Asche geworden, bei denen dahinter waren nur die Lehnen zusammengesunken und in den weiteren Reihen waren die Bänke zwar verkohlt, standen aber aufrecht. Wie eine Welle, die nach hinten ansteigt und immer höher wird, wiesen sie uns auf das Unfassbare hin. Der Turm war unversehrt! Sogar die Holztreppe, die zu den Glocken führte, sah aus wie neu und hatte es dem Küster ermöglicht, für uns zu läuten.

      Spontan fielen wir alle auf die Knie und beteten. Zweihundert Menschen, zweihundert Stimmen in den letzten vier stehenden Wänden der Stadt.

      Winter

      Die letzte Wärme, die das Jahr 1617 uns brachte, war tatsächlich die des Feuers gewesen. Die nun folgenden Wintermonate waren bitterkalt und verschärften unsere Leiden zusätzlich. In den wenigen hellen Stunden des Tages waren alle, die sich bewegen konnten, damit beschäftigt, in den schwarzverkohlten Trümmern zu wühlen, noch ansatzweise Brauchbares auszusortieren und vor dem Nachbarn zu schützen.

      Wir Kinder wurden in den Wald geschickt, um Bucheckern und Reisig zu sammeln, denn sobald die Sonne untergangen war, wurden Hunger und Kälte unerträglich. Mit knurrenden Mägen und vor Kälte schlotternde Gliedern hockten sich die Familien enganeinander gedrängt um kümmerliche Feuerchen und beäugten misstrauisch und neidisch ihre ehemaligen Nachbarn und Freunde. Die Not war groß, von den Wintervorräten war nichts geblieben.

      Auch wenn wir dank der Weisheit meines Großvaters einige Vorräte hatten retten können, ging unser Sack Mehl doch schnell zur Neige und unsere Decken schützen nur unzulänglich vor der grimmigen Kälte des hereinbrechenden Novembers. Unsere paar geretteten Hühner legten im Winter keine Eier und wurden mit jedem Tag magerer. Angesichts hungernder Menschen wäre es Verschwendung gewesen, sie leben zu lassen.

      Der Amtsvogt, der am Tag des Brandes in Lauenstein gewesen war und erst am nächsten Morgen wieder in Wallensen eintraf, wendete sofort sein Pferd, um sich auf dem Amt Lauenstein dafür einzusetzen, dass uns und ihm geholfen würde.

      Doch wenn Gott auch alles sieht auf Erden, verließen sich seine Stellvertreter lieber auf die eigenen Augen. Und so kam zunächst und ohne Eile eine Abordnung würdiger alter Herren aus dem Amt Lauenstein, um zu prüfen, ob es uns auch wirklich schlecht genug ginge.

      Sie fanden alles zu ihrer Zufriedenheit elend und waren bereit, für uns ein gutes Wort bei Herzog Friedrich-Ulrich einzulegen. Schon um ihre Einkünfte zu retten, denn der zehnte Teil all unseres Wohlstandes, unsere Ernten und Vorräte gehörte von Rechts wegen ihnen und davon war nicht viel übriggeblieben. Nach dieser Besichtigung verschwanden sie. Zurück in die vor dem eisigen Wind schützenden Mauern ihrer Lauensteiner Burg, froh den hungrigen und frierenden Menschen in Wallensen den Rücken zukehren zu können.

      Wir hofften das Beste und fürchteten das Schlimmste. Beim letzten Brandunglück hatte Herzog Erich zwar großzügig, aber ungehindert von jeglicher Ortskenntnis, 100 Eichenbalken und 250 Eichensparren im Solling zuweisen lassen, mehrere Tagesreisen von Wallensen entfernt und damit völlig nutzlos. Erst nach weiteren Bittbriefen und vielen kalten Wintern bekamen die Wallenser damals schließlich Holz aus dem umliegenden Forst.

      Holz aus den eigenen kleinen Waldstücken der Bauern war kaum zu gebrauchen, durch die vielen Brände und Nöte der letzten Jahrzehnte waren die großen Bäume so gut wie alle gefällt worden. Übrig waren nur geschmeidige junge Stämme, in die man, wie in Kinder, große Hoffnungen setzten konnte, die zunächst aber noch der Pflege und Rücksicht bedurften.

      Während wir warteten, suchten und bauten wir,