Tanja Flügel

Marthe


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die Hoffnung auf ihrer Seite und gewannen. Als die ersten frischen Grashalme in den Bächen zu sehen waren, hatten sie genügend Holz bearbeitet, das es für das Grundgerüst der Mühle reichte und auch erste Balken für den Wiederaufbau der Brauerei beiseitegelegt wurden. Der Bierbrauer Beinling war Mitglied des Rates und hatte alle von der Notwendigkeit einer schnellen Wiederaufnahme des Brauereibetriebs zu überzeugen gewusst, auch wenn das nötige Korn dafür in weiter Ferne war.

      Der Frühling

      Die kleinen Hoffnungsschimmer und die Tatsache, dass unsere Wassersuppen, in denen vorher immer nur altes Gras und Rinde geschwommen waren, nun mit leuchtend grünen und nahrhaften Brennnesseln und Kräutern gekocht wurden, belebten uns etwas.

      Dem mageren Pferd und den knochigen Ochsen wurde eine Pause von zwei Tagen gegönnt, damit sie sich frisches Gras zupften und so zu Kräften kommen konnten. Und es wirkte. Die Holztransporte konnten danach verdoppelt werden.

      Eines Tages war der Magister Heisius eine zeitlang verschwunden und als er wiederkam, zog er eine störrische Kuh am Strick hinter sich her. Er war für uns betteln gewesen im Amt Lauenstein und dies war sein Abschiedsgeschenk. Eine Kuh gegen einen Pfarrer, welch ein Tausch!

      Aber ganz so war es nicht, wir würden bald einen neuen Magister bekommen. Der Heisius hatte in Lauen-stein erfahren, dass sein Nachfolger, ein Pastor Ulrici sich von Hajen aus bereits nach Wallensen auf den Weg gemacht hatte.

      Während ich hungrig und mit Tränen in den Augen dem Magister Heisius nachsah, wie er mit seinen wenigen Habseligkeiten aus dem Niedertor verschwand, ahnte ich nicht, dass mit dem Eintreffen des Pastors Ulrici die glücklichste Zeit meines Lebens beginnen würde.

      Vorerst war das aufregendste Ereignis die Kuh. Wir Kinder hatten die Aufgabe, ihr die besten Weideplätze im Weihbergeschen zu suchen und den strengen Befehl, sie dann ganz in Ruhe grasen zu lassen und auf keinen Fall heimlich an ihrem Euter zu zupfen. Eine Kuh für ein ganzes hungriges Städtchen ist nicht eben üppig. Mit eifersüchtigen Augen überwachten wir das abendliche Melken und die Verteilung der Milch an alle noch lebenden Kinder. Meistens gab es für jeden nur ein Schlückchen, kaum größer als eine Vogelmahlzeit, aber welch ein warmer und sahnig-samtweicher Genuss nach all den Monaten, in denen sich beim Schlucken nur immer wieder unser kratziges Hungergefühl in der Kehle spitz verkantet hatte.

      Ich hauste weiter mit meiner Familie in unserem Verschlag an der Stadtmauer, auch wenn der Bau der Mühle gut voranging. Tagsüber wurde es langsam wärmer, aber nachts war es noch immer empfindlich kalt. Wir kauerten eng aneinander geschmiegt auf unserem dürftigen Lager aus Laub, Hans, die kleine Louise und ich. Hätten wir einander nicht gehabt, wären wir auch in diesen Frühlingsnächten noch vor Kälte gestorben.

      Oft zog ich dann heimlich mein kleines Öltöpfchen von der Kräuterfrau aus meiner Schürzentasche und drehte es im Dunkeln in meinen Händen. Seine raue Haut ließ jenen verzauberten Nachmittag wieder lebendig werden, an dem die Kräuterfrau in meinen Augen meine Zukunft gesehen hatte. Es war noch nicht so lange her, doch es schien eine Geschichte aus einer anderen Welt zu sein.

      Ein Wagen kommt

      Saatgut. Kleine verheißungsvolle Körner, die glatt und rund aus der Hand perlen, sich hinter den Krumen der warmen feuchten Frühlingserde verstecken und dort beginnen, ihr ganz eigenes Leben zu leben. Deren energisches Wachstum fast mit bloßem Auge beobachtet werden kann und Bilder von duftenden braunen Brotlaiben und einem fröhlichen Erntedankfest heraufbeschwören.

      Wir hatten kein Saatgut.

      Das tückische Feuer hatte gewartet, bis all unsere Vorsorge für den Winter und das kommende Frühjahr sicher in den Fächern und Kornböden verstaut war und hatte sich dann den Oktober für seine Tat gewählt, um uns völlig mittellos zu machen.

      All die schweren Tätigkeiten, pflügen, eggen und harken, bei denen uns sonst die Lerchen im Frühjahr spöttisch und ob ihrer eigenen Freiheit jubilierend, beobachtet hatten, waren nutzlos ohne Saatgut. Die Lerchen hatten in diesem Jahr 1618 die schnell verkrautenden Felder ganz für sich alleine.

      Wie auf ein Wunder hoffend, kämpften die Frauen trotzig in ihren Gärten hinter den Häusern gegen das Unkraut, welches sich beschwingt und gut genährt durch die schwarze Asche in grünen Flecken ausbreitete. Sie jäteten und harkten und standen am Abend verloren vor der blanken und fruchtbaren braunen Erde, wie eine Mutter vor der leeren Wiege ihres frisch verstorbenen Säuglings. Ein Gefühl das viele von ihnen aus den letzten Monaten nur zu gut kannten.

      Ein Garten allerdings ist ein treuer Freund, wenn man ihn aufmerksam behandelt. Als unser Fleckchen Erde hinter der Mühle merkte, dass wir ihm nichts Neues bieten konnten, kramte es in seinem Schatzkästlein und zauberte hier und da den Trieb einer vergessenen Bohne oder Erbse aus dem letzten Jahr hervor. Der Gute Heinrich, ein wohlschmeckender kleiner Busch hatte sich vom Feuer nicht beeindrucken lassen und ganz hinten im Garten, wo im letzten Herbst ein Sack umgekippt war, spross ein leuchtend grünes Feld dichtgesäter Linsen.

      Jedes dieser kleinen Wunder barg meine Mutter mit äußerster Sorgfalt, pflanzte es in Reihen und wachte mit Argusaugen über sein Wachstum. Denn jedes einzelne Pflänzchen bedeutete ein winziges bisschen Hoffnung auf Überleben in dieser schweren Zeit.

      Meine Aufgabe war es, Schnecken und Raupen zu sammeln, die kleinen Pflanzen vor Louises täppischen Füßchen zu beschützen, die ihre ersten Gehversuche machte, und warnende Blicke auf jeden zu werfen, der sich unserem Gärtchen näherte.

      Als ich gerade einen schweren Krug mit Saalewasser in den Garten balancierte, um unsere Kostbarkeiten ausreichend feucht zu halten, kam Hans völlig außer Atem in den Garten gerannt.

      „Der neue Pastor ist da!“, schrie er. „Der neue Pastor ist durchs Obertor gekommen!“

      Hin- und hergerissen zwischen Pflichtbewusstsein und Neugier trat ich unschlüssig von einem Bein auf das andere. Als aber sogar mein Großvater sein Werkzeug sinken ließ und sich langsam in Richtung Markplatz aufmachte, konnte ich mich auch nicht mehr halten. Wie der Wind rannte ich hinter Hans her, der schon wieder zurückgelaufen war.

      Mitten auf dem Marktplatz umringten die Wallenser ein braunes Pferd und einen stabilen Leiterwagen. Ein hagerer Mann ganz in Schwarz gekleidet, war vom Bock geklettert und sah sich um. An der Hand hielt er einen ordentlichen kleinen Jungen, etwa so alt wie ich. Beide standen da, die Körper wie in Stein gemeißelt, lediglich ihre Köpfe schienen beweglich und so maßen sie das, was von Wallensen übrig war, mit Blicken, die schieres Entsetzen ausdrückten. Die Consules Schmiedes und Bleibaum waren schon da und zogen mit einer Verbeugung die Kappen vor dem Herrn, doch dieser schien sie nicht wahrzunehmen, seine gemessenen Kopfdrehungen waren einem weitaus schnelleren, ungläubigen Kopfschütteln gewichen.

      Erst eine ganze Weile später sagte er tonlos: „ Seid gegrüßt, Gemeinde von Wallensen. Mein Name ist Vitus Ulrici, das Amt Lauenstein hat mich als Pastor zu euch gesandt. Und dies ist mein Sohn Conrad.“

      Die Männer verbeugten sich und die Frauen knicksten, der Pastor nickte ihnen zu.

      „Das Pfarrhaus?“, fragte er zweifelnd. „Wohin muss ich mich wenden?“

      Die Wallenser sahen sich betreten an.

      „Das Pfarrhaus ist im letzten Oktober abgebrannt, wie alle unsere anderen Häuser. Nur die Kirche ist übrig geblieben!“, wagte schließlich der Consule Schmides zu erwidern.

      „Dann bringt mich zum Amtsvogt!“, forderte Ulrici, der sichtlich um Fassung rang.

      „Der Amtsvogt wohnt seit dem Brand nicht mehr hier, sondern auf der Burg Lauenstein. Es ist ihm zu trostlos hier, wie er sagt.“

      Der Consule Bleibaum konnte einen verbitterten Unterton nicht unterdrücken, als er dem Pastor die schlichte Wahrheit unserer alleingelassenen Existenz überbrachte.

      Niemand hatte es für nötig befunden, dem Vitus Ulrici mitzuteilen, dass seine zukünftige Wirkungsstätte in Schutt und Asche lag. Frohgemut war er mit seinem Sohn aus Hajen aufgebrochen, wo ihn die Erinnerungen an seine jüngst verstorbene Frau quälten, und hatte