Tanja Flügel

Marthe


Скачать книгу

Consule Schmides und Bleibaum besondere Geschicklichkeit beweisen, denn dieser hatte die Karten in der Stadt neu gemischt.

      Das Land der zwei im Feuer umgekommenen Kötnerfamilien war nicht üppig, lockte aber zur Neuverteilung. Auf den Garten und die Hofstelle, in der meine Freundin Elisabeth aufgewachsen war, hatte deren ehemaliger Nachbar, der Ackerbürger Hintzen seine begehrlichen Blicke geworfen. Die Zäune waren verbrannt und er spaltete fleißig Kastanienhölzer, um einen neuen zu ziehen. Manchmal überschlugen sich die Hölzer beim Spalten und der Einfachheit halber steckte er sie dorthin, wo sie eben fielen, und das war durchaus nicht immer auf seiner Seite des Gartens.

      Ganz ähnlich verfuhr der Nachbar von der anderen Seite. Sie beäugten sich misstrauisch, aber eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus und so wurde der Betrug erst offenbar, als überlebende Verwandte von Elisabeth Anspruch auf das Land erhoben und feststellen mussten, dass zwischen den blitzneuen Zäunen der Bürger Hintzen und Falcken gerade noch Platz genug war, die Harke einmal hin und wieder zurück zu ziehen.

      Insgesamt drei Kötnerfamilien erhoben Klage wegen der immer schmaler werdenden Landstücke der Brandopfer und das Verfahren war eine der wenigen Abwechslungen in unserem arbeitsreichen Winter. Feierlich trafen wir uns in der Gemeinschaftsscheune, um das Urteil des Rates anzuhören.

      Dieses war nicht so eindeutig zu treffen, wie ihr es vielleicht aus eurer Sicht heute, 400 Jahre später erwarten würdet. Denn selbstverständlich waren alle Ackerbürger davon überzeugt, mehr Rechte als die Kötner zu haben, bewirtschafteten sie doch eine größere Menge Land und gaben sie den Kötnern Arbeit und Lohn, wenn diese mit ihren spärlichen Ernten nicht über die Runden kamen. Ein wenig Dankbarkeit und Ehrerbietung wurden verlangt, mochten die Wallenser Privilegien auch eine allgemeingültige Regelung und das Recht zur Klage vorsehen.

      Ebenfalls selbstverständlich bestand der Wallenser Rat aus Ackerbürgern, denen die Ansprüche der Nachbarn Hintzen und Falcken überaus einleuchtend erschienen. Andererseits war in dieser schwierigen Zeit niemand darauf versessen, Unfrieden in das Städtchen hineinzutragen, denn die Arbeitskraft eines jeden wurde dringend gebraucht. Das Urteil wurde also mit Spannung erwartet.

      Der Rat, unter der Führung von Bleibaum und Schmides bewies Geschick. Natürlich konnten sie den Ackerbürgern nicht unterstellen, die Kastanienhölzer zu weit gesteckt zu haben, andererseits war aber auch nicht davon auszugehen, dass das Land allein aufgrund der gewachsenen Harkenbreite der klagenden Kötnerfamilien schmaler erschien. Da eine eindeutige Grenzziehung fehlte und keine Aufzeichnungen über die Ausbreitung des Gartens von Elisabeths Familie existierte, deklarierte der Rat den Fall als unlösbares Problem, für das es kein gerechtes Urteil gäbe.

      Ohne den Kötnern Luft zum Atemholen für den nun fälligen Protest zu geben, erklärten sie weiter, der alte und neue Rat der Stadt Wallensen hätten aber beschlossen, den Kötnern Flächen außerhalb der Stadtmauern zu zusprechen, auf denen nach dem letzten Brand die zusätzliche Bebauung durch den Herzog Erich II gestattet worden war. Alle drei Kötner würden ein gutes Stück mehr Land erhalten, als sie aufgrund der Forderungen erwarten konnten. Die Gunst des Rates würde unter der Bedingung gewährt werden, dass alle drei Kötnerfamilien gemeinsam den Vorschlag akzeptierten und auf ihre Klage verzichteten.

      Flüsternd berieten die Kläger, aber die Aussicht auf genügend Land, um sich davon ernähren zu können, war so verlockend, dass eine Entscheidung gegen das Angebot schier unmöglich war. Das Risiko, das sie dadurch in Kauf nahmen, war begrenzt. Innerhalb der Stadtmauer mit ihrem wenigen Land immerfort dem Hungertod auf der Schippe, würden sie sich durch die neuen Flächen besser satt werden können, wenn auch von Räubern bedroht und dem nächtlichen Heulen der Wölfe näher. Andererseits waren in der Vergangenheit Wall, Graben und die hohe Mauer auch oft ohne großen Nutzen gegen die Überfälle auf die Stadt gewesen.

      Die Kötner willigten ein und die Häuser ‚Auf dem Anger’ wurden gebaut. Wallensen machte einen Schritt über die Saale und innerhalb der Stadtmauern konnte zukünftig ‚luftiger’ gebaut werden, wie es schon Herzog Erich II gefordert hatte.

      Alter und neuer Rat gratulierten einander zu ihrer Weisheit und der ganze Ort feierte das Ereignis mit einigen zusätzlichen Schlucken kostbaren Breyhahn Bieres aus Beinlings geheimem Vorrat.

      Die weise Entscheidung wurde wie ein hübsches Kinderspielzeug immer wieder von Hand zu Hand gegeben und bestaunt und so kam es, dass bei der Körfeier im nächsten Mai, bei der normalerweise die Hälfte der Ratsmitglieder ausgetauscht wurde, die Wallenser Privilegien großzügig gehandhabt und alter und neuer Rat wiedergewählt wurden.

      Körfeier und Quelle

      Wollte man einen Wallenser auf die Schnelle eine Handbreit wachsen sehen, genügte es gewöhnlich, das Thema auf die jährliche Körfeier zu lenken. Das städtische Recht, einen eigenen Rat zu wählen, erfüllte jeden mit Stolz und Freude, der dabei sein durfte. Nach der offiziellen Wahl wurden daher ausgelassen getafelt und gefeiert und an diesem Vergnügen wurde auch im Jahr 1619 festgehalten.

      Der Marktplatz wurde geschmückt, die Frauen hatten gemeinsam gebacken und gekocht. Die Leichtfertigkeit, ein höchst seltener Gast in unserem Städtchen, hatte sie verleitet, die Vorratskammern etwas freigiebiger aufzuschließen als gewöhnlich. Für jeden anderen wäre unser gemeinsames Mahl sicher immer noch ärmlich erschienen, aber für uns war es ein winziges Zeichen von wiederkehrender Normalität nach dem Brand.

      Conrad und ich nutzten den allgemeinen Trubel, um einen kleinen Ausflug zu machen. Fast ein Jahr war er jetzt schon in Wallensen, aber außer unserem gemeinsamen Glockengeläut, bei dem wir uns lachend von den dicken Seilen mit dem Schwung der Glocken in die Höhe ziehen ließen, hatten wir bisher wenig Gelegenheit gehabt, etwas miteinander zu unternehmen. Die Arbeit in Haus und Garten war eine fest geschmiedete Kette, die schwer um meine Knöchel lag und auch Conrad wurden von seinem Vater viele Aufgaben übertragen, da der alte Küster bereits Anfang des Winters verstorben war.

      Heute jedoch wollte ich ihm die geheimnisvolle Quelle zeigen, die im Weihbergschen aus dem Boden trat. Ich hatte sie im Winter vor dem Brand beim Reisig sammeln entdeckt, als ich übermütig auf dem Eis der zugefrorenen Saale schlitterte und plötzlich auf eine Stelle stieß, an der noch Wasser floss und plätscherte. Das Wasser kam ein Stück oberhalb des Ufers aus dem Boden, hatte eine kleine Mulde gebildet und floss von dort, unbeirrt von der herrschenden Kälte den Hügel hinab.

      Dieses Wunder konnte ich Conrad natürlich jetzt im Mai nicht vorführen, aber er lauschte gespannt meinen Erzählungen. Die Sonne schien warm auf uns herab und wir plantschten mit den Füßen in dem erfrischenden Wasser, spritzten uns gegenseitig nass und quietschten vor Vergnügen, nicht ahnend, dass an dieser Stelle fast vierhundert Jahre später ein künstlicher See in unglaublichem Blau, gespeist aus frischem klaren Quellwasser entstehen würde. Ich meine vernommen zu haben, dass ihr ihn ‚Freibad’ nennt und im Sommer höre ich manchmal helle Kinderstimmen von dort herüber wehen, die ebenso fröhlich im Wasser planschen wie Conrad und ich vor langer Zeit. Dann fühle ich mich gleichzeitig wehmütig und glücklich, und vielleicht hört ihr es am Klang der Uhrglocke, die Euch auf dem Heimweg begleitet. Schlägt sie zu wenig, überwiegt die Wehmut. Schlägt sie zu viel, habe ich wohl einen Moment zu lange gelacht, bei der Erinnerung an Conrads Gesicht, als wir schließlich vom Baden genug hatten und er einen Schluck Quellwasser trank.

      „Igitt!“, rief er erbost, in hohem Bogen einen Schwall Wasser ausspuckend. „Das schmeckt…., das schmeckt… irgendwie salzig.“

      Ich probierte auch und spuckte einen ebenso schönen Bogen. Wir hatten eine Solequelle gefunden, die mit stets gleichbleibender Temperatur und reichlich Salzgehalt aus dem Boden sprudelte. Nicht, dass wir damals den Zusammenhang zu dem auch im Winter fließenden Wasser verstanden hatten, wir teilten nur begeistert unsere geheimnisvolle Entdeckung und genossen unsere kurze Freiheit an diesem herrlichen Frühlingstag.

      Конец ознакомительного фрагмента.

      Текст предоставлен ООО «ЛитРес».

      Прочитайте эту книгу