Tanja Flügel

Marthe


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Und dies war in etwa auch das Geräusch, das nun unwillkürlich unser neuer Pastor laut über den Marktplatz schickte.

      Wir Kinder kicherten und während die, die in Reichweite ihre Mütter standen sich dafür eine Kopfnuss einfingen, fiel mir ein verzweifelter Blick des Pastorensohns Conrad zu. Sofort schämte ich mich.

      All die entsetzlichen Dinge um mich herum, waren mir in den letzten Monaten so selbstverständlich geworden und da ich keine Wahl hatte, als sie zu akzeptieren, war ich über jede Gelegenheit zum Fröhlichsein dankbar. Der arme Conrad sah all das zum ersten Mal, war erschrocken über die Fassungslosigkeit seines Vaters, den er sonst nur als unerschütterlichen Fels in der Brandung kannte und stand nun auch noch vor einer Horde kichernder zerlumpter Kinder, die über ihn lachten.

      Verwundert über meinen eigenen Mut ging ich zu ihm, nahm in an der Hand und sagte: „Ich bin Marthe. Komm ich zeige dir alles.“

      Verblüfft stolperte er hinter mir her, seinem Vater fiel nicht einmal auf, dass er verschwand und wir liefen zwischen den vielen frischen Gräbern hindurch über den Kirchhof davon. Mit der ersten Berührung zwischen uns färbte meine schmutzige Hand die seine mit rußigem Schwarz, der Farbe Wallensens, und als er sich erhitzt vom Laufen, damit die blonden Haare aus der Stirn strich, sah er fast schon aus wie ein Wallenser Bürger.

      Ich lachte, er besah seine Handflächen, lachte auch und damit waren wir Freunde. Conrad und Marthe, zwei Kinder in Wallensen.

      Vitus Ulrici

      Conrads Vater, der Vitus Ulrici, war ein tatkräftiger, energischer Mann und ließ sich im Gegensatz zum Amtsvogt auch nicht durch eine Brandkatastrophe von seiner Pflicht abbringen. Er vertraute auf Gott, der ihn zu uns geschickt hatte, und dessen Hilfe ihn und uns über die kommenden Monate und Jahre tragen sollte. Nachdem er den ersten Schock über den Zustand seiner neuen Wirkungsstätte überwunden hatte, nahm er unter der Führung der Consules in Augenschein, was an Material für eine Neugeburt Wallensen zur Verfügung stand.

      Er besah sich den Zustand der Kirche und sprach vor dem neuen Holzkreuz sein erstes Gebet in Wallensen. Er runzelte die Stirn, als er die zahlreichen, noch hohen Grabhügel auf dem Kirchhof sah und nickte anerkennend, als er den großen Stapel Baumstämme und die zum Teil schon behauenen Holzbalken bemerkte, die auf dem Marktplatz lagerten.

      Die Consules zeigten ihm das nahezu unversehrte steinerne Niedertor und die mit kaltem und klarem Frühlingshochwasser reichlich gefüllte Saale. Stolz führten sie ihn zu dem schon recht ansehnlichen Gerüst der im Bau befindlichen Mühle und wiesen auf das Mühlrad, dessen leichte Brandspuren längst ausgebessert waren und das bereits auf seinen Einsatz zu warten schien.

      Auch unsere Gärten, in denen das wenige, was wir hatten, üppig wuchs, begutachtete er, bewunderte unsere Sorgfalt und Pflege und erkannte, wie schlimm es um uns bestellt war.

      Hatte uns unsere Freude über jeden kleinen Bohnen- und Linsenkeimling, der sich durch Zufall in unsere Gärten verirrt hatte und unsere unermüdliche Sorge um das Überleben eines jeden Sprosses in den letzten Wochen vor jedem weiteren Gedanken geschützt, so lasen wir diesen Gedanken jetzt überdeutlich in den Augen des Pastors Ulrici. Niemals würden wir mit der zu erwartenden bescheidenen Ernte genug haben, um auch nur den nächsten Herbst zu überstehen.

      Schließlich zeigten sie ihm auch die windschiefen Verschläge an der Stadtmauer, in denen wir alle seit dem Brand hausten, ohne großen Unterschied, die Ackerbürger und die Kötner nebeneinander, der eine nicht geschützter als der andere.

      Nach diesem Rundgang durch die Reste des Städtchens wären andere in Hoffnungslosigkeit versunken, der Vitus Ulrici aber war ein gläubiger Mann. Er glaubte an Gott, an die Menschen und an die eigene Tatkraft und daraus erwuchs ein fertiger Plan, den er uns nun verkündete.

      „Gott hat mich zu euch gesandt und so werde ich bleiben, auch wenn es hier nicht einmal ein Pfarrhaus für mich gibt. Es gibt einen heilen Kirchturm, ein Kreuz und viele fleißige Hände, und so werden wir mit Gottes Hilfe das nächste Jahr überstehen. Ich werde weiterfahren auf das Amt Lauenstein und dort vorsprechen. Mein Hab und Gut lagere ich unterdessen in der Kirche, ich vertraue darauf, dass es dort sicher ist.

      Und während ich fort bin, möchte ich, dass ihr mit dem Bau eines Pfarrhauses beginnt. Hier sind einige Taler als Gegenwert für das Holz und eure Arbeit.“

      Dieser ungeheure Vertrauensbeweis, der jetzt silbern blinkend in die schwielige schmutzige Hand des Consule Bleibaum klimperte, war wohl das Ungewöhnlichste, was ich bis dahin in meinem Leben gesehen hatte. Münzgeld war selten in Wallensen der damaligen Zeit und wenn tatsächlich etwas davon zum Bezahlen genutzt wurde, dann höchstens die schweren, aber weit weniger wertvollen Groschen oder krukelige Pfennige.

      Eine ganze Handvoll Silbertaler, alle seine Kleider und persönlichen Gegenstände ließ der Magister Ulrici bei uns, als Zeichen, dass er an uns und unser Städtchen glaubte, und als Versicherung, dass er wieder kehren würde. Staunend sahen wir ihm und seinem Sohn nach, als sie durch das Niedertor davon fuhren.

      Wie eine seltsame Zauberei erschien uns die letzte Stunde, als Pferd und Wagen dann verschwunden waren. Nur das Geld und die Habseligkeiten in der Kirche ließen uns glauben, dass alles gerade wirklich hier auf dem Marktplatz in Wallensen passiert war.

      Wir waren immer noch hungrig, aber niemanden fiel auf, dass wir jetzt mit den Talern in den Nachbarorten Hirse und Hafer, Linsen und Bohnen, Hühner und Ziegen und sogar eine Kuh würden kaufen können.

      Alle sprachen von dem schönen Pfarrhaus, welches man diesem besonderen Mann errichten wollte. Und ich dachte an Conrad, seinen Sohn und mein neuer Freund.

      Wallensen erwacht

      Wie wenn ein Bader einen Sterbenskranken zur Ader lässt und dieser bald darauf, noch sehr schwach aber mit gereinigtem Blut und wieder glänzenden Augen, am Leben teilnimmt, so hatte der Eingriff des Vitus Ulrici unser sieches Städtchen zum neuen Leben erweckt.

      Die Männer zogen mit aller Kraft, die sie noch aufbringen konnten, die Holzbalken zur Kirche und beratschlagten über den besten Platz für das neue Pfarrhaus. Sie einigten sich schließlich darauf, es in einiger Entfernung hinter der Apsis aufzubauen, so dass der Vitus Ulrici nur wenige Schritte zu seinem Arbeitsplatz zurücklegen musste.

      Einzig der Bierbrauer Beinling meuterte. Sein Haus wäre als nächstes zu errichten gewesen und das sah er durch den Bau des Pfarrhauses nun stark gefährdet. Der Rat kam ihm entgegen, in dem beschlossen wurde, jeden zweiten Balken einige Meter über die Baustelle des Pfarrhauses hinaus zu ziehen und in seiner unmittelbaren Nachbarschaft mit dem Bau der Brauerei zu beginnen. So konnten die knappen Werkzeuge geteilt und die menschliche Arbeitskraft bei Bedarf auf Zuruf verdoppelt werden.

      Damit war der Beinling zufrieden und alle anderen auch, denn von den Silbertalern hatte bereits eine Abordnung Wallenser Bürger in Duingen nicht nur eine Schar gackernder brauner Hühner, eine wohlgenährte trächtige Kuh und verheißungsvoll rasselnde Säcke mit Buchweizen, Erbsen und Bohnen erstanden. Zusätzlich hatten sie einige Säcke voll mit Gerste auf dem Handkarren gehabt, und das Geräusch weicher Nachgiebigkeit, mit der sie auf den Boden plumpsten, kitzelte die Erinnerung an süße Malz- und Gärgerüche in Nase und Gaumen wach. Ein Schluck Wallenser Breyhahn Bier schien ein fürwahr ebenso erstrebenswertes Ziel, wie ein schönes Pfarrhaus.

      Bei der Mühle indessen waren nur noch einige Restarbeiten für ihren vollständigen Aufbau zu erledigen. Die Frauen und Kinder konnten beginnen, in die Fächer Reisig zu flechten und den Lehm darüber zu verschmieren, den sie seit Wochen mühsam aus den Kuhlen am Weenzer Bruch herbeigeschafft hatten.

      Zunächst jedoch galt es, mit dem gekauften und gerecht unter den Wallensern aufgeteilten Saatgut, den Garten zu bestellen, um die Wachstumslust des Frühjahrs zu nutzen.

      Mein Vater und mein Großvater bauten wie alle emsig am Pfarrhaus; mit den anderen Männern stemmten sie auch die schweren eichenen Stützbalken für die Brauerei in die Höhe. Darüberhinaus aber nutzten sie jeden Lichtstrahl der länger werdenden Tage, um mit viel Geschick und sparsamsten Holzverbrauch die Mühle wieder funktionsfähig zu