Ich versuche, auf alles gefasst zu sein. Auf einen betrunkenen Obdachlosen vielleicht, der es nicht mitbekommt, wenn ihm meine Katze einen Finger abbeißt. Macht Inka so etwas überhaupt? Sind Katzen eigentlich zu so etwas fähig?
Ich werde brutal mit der Realität konfrontiert. Mir bleibt das Herz stehen, als etwas überraschend Schweres auf meine Hand rutscht. Etwas Grauen erregendes hat sich in den Ästen verheddert. Es ist die Hand zum fehlenden Daumen. Ich kreische, springe zurück. Taumle, bis ich mit dem Rücken am Auto stehe. Ein älterer Mann kommt vorbei. Sein Hund, den er Gassi führt, verjagt Inka und er fragt mich, ob er mir helfen könne, ob mit mir alles in Ordnung sei. Es vergehen nur Sekunden und ich benötige nicht einmal Worte, damit er begreift.
Aeia - TREECSS
Ich befinde mich auf der A5, bin unterwegs zum TREECSS-Institut, als mich die aktuellen Meldungen im Radio in ihren Bann ziehen.
Eine Leiche wurde in den frühen Morgenstunden im Colombipark gefunden. Eine junge Frau hat das Opfer entdeckt.
Diese Frau bin ich.
Der Polizei zufolge handelt es sich bei dem Toten um einen Mann. In den Nachrichten schildern sie nicht, was ich mit eigenen Augen gesehen habe. Sie erwähnen nicht, dass dem Toten die Haut abgezogen wurde. Die Leiche wurde lediglich auf schrecklichste Art verstümmelt.
Furchtbar, zu welchen Dingen Menschen fähig sein können, meint der Nachrichtensprecher. Im idyllischen Colombipark, wo Schlösschen, Kiefern und Blumenbeete keine 100 Meter von dem Ort entfernt liegen, wo die Polizei ihre Wache hat.
Ein Mord in Freiburg. Direkt vor meiner Haustür.
Ich schalte das Radio ab. Kurble das Seitenfenster runter und atme ein paar Mal tief die sommerliche Luft ein. Solange, bis es mir besser geht und ich die gruseligen Bilder aus meinem Kopf verbannt habe.
Eine gute Stunde nach dem Horrorerlebnis komme ich mit meinen samtroten Käfer auf dem weitläufigen Areal des Instituts an. Es ist über die A5 in fast genau 45 Minuten Richtung Süden zu erreichen und befindet sich auf einer bewaldeten Anhöhe.
Das ganze Gelände und das ehemalige Schloss wurden von TREECSS vor Jahrzehnten aufgekauft. Ich habe das im Internet recherchiert. Leider war nicht viel mehr herauszufinden. Nachdem das Schloss und seine Nebengebäude drohten, aufgrund fehlender Mittel, zu zerfallen, wurde beschlossen, es in private Hände zu geben. Man erhoffte sich ein Stück Kultur zu bewahren.
Aber das, was ich jetzt von dem Gebäude durch die Windschutzscheibe sehe, ist bestimmt nicht das, was sich Historiker unter Erhaltung vorstellen.
Das alte Schloss ist zwar noch vorhanden, es macht jedoch lediglich einen Bruchteil des gesamten Komplexes aus. Es wurde von den Architekten beeindruckend in das Moderne integriert. Mein Blick schweift über verspiegelte Glasfronten, kantige Bürotürme und verspielte, kirchenähnliche Nebengebäude, die alle über Stege auf unterschiedlichen Ebenen miteinander verbunden sind. Ich bin baff. Habe nicht mit so etwas Imposantem gerechnet.
Ich steige aus meinem Käfer aus, blicke zurück und von der Anhöhe des Anwesens eröffnet sich mir ein grandioses Panorama. Das Rheintal mit den Vogesen ist zu sehen. Ich blicke gegen Süden. Der Dunstschleier hinter dem Jurakamm löst sich auf und die schneebedeckten Berge der Alpen treten in weiter Ferne hervor. Der Ausblick ist atemberaubend, lässt mich vergessen, was ich heute Morgen erlebt habe.
Ich reiße mich los, muss weiter und wende mich wieder dem Institutsgebäude zu. In seiner ursprünglichen Form hat es sich hunderte Jahre im Familienbesitz der von Kaltenbachs - einem alten Rittergeschlecht - befunden.
Lediglich der verspielte Rokoko-Dekor und die geschwungene Freitreppe, die hoch zu den Eingangsportalen führt, erinnern an die alten Bilder im Internet.
Ich schreite die Treppe hoch und fühle wieder, wie todmüde ich bin. Wie durch die Mühle gedreht. Ich beschließe, abends noch früher ins Bett zu gehen.
Dann stehe ich vor den verschlossenen Türen meiner zukünftigen Wirkungsstätte. Hier würde ich mein Studium beenden und Geld verdienen.
Aber zunächst studiere ich die Türen. Es gibt keine Klinke, keine Klingel.
Ich sehe hoch und lese den Namen, der in metallenen Lettern über den Türportalen prangt: TREECSS.
Was der Name des Instituts, diese sieben Buchstaben, bedeuten, konnte ich, auch nach intensiven Recherchen, nicht in Erfahrung bringen. Aber alles sieht bist jetzt sehr vielversprechend aus und ich bereue es nicht, die Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg hierfür einzutauschen.
Das Geräusch von aufspritzendem Kies und einem Motor, der brüllt wie ein wütender Dämon, lassen mich herumfahren. Ein pechschwarzer Porsche prescht ungezähmt auf das Institutsgelände. Mit schlitterndem Heck fräst er sich um die Ecke und kommt schließlich auf dem Parkplatz unter den mächtigen Bäumen zum Stehen.
Ich sehe zu dem Porsche. Reiche Schnösel können sich wohl überall einkaufen.
Ich spüre aber auch einen Funken Hoffnung in mir aufglühen, denn der Fahrer könnte mir bestimmt zeigen, wo ich mich anmelden muss.
Ich bin verblüfft. Denn es ist eine Frau, die aussteigt.
Das Erste, was ich von ihr zu sehen bekomme, sind ihre schwarzen, eleganten, hochhackigen Schuhe und ihre langen, schlanken Beine. Sie kommt auf mich zu, bewegt sich mit übermenschlicher Anmut und einer Selbstsicherheit, die ich mir nur erträumen kann.
Sie trägt ihre dicken, blonden Haare in einem kunstvoll geflochtenen Zopf. Eine weiße Bluse und ein nicht zu kurzer, brauner Rock betonen ihre auffallend attraktive Figur und runden den Gesamteindruck elegant ab.
Ihr teures Auto zwinkert ihr zum Abschied zweimal zu, als sie es abschließt und zu mir herüberkommt.
Als ich ihr beim Gehen zusehe, erinnert sie mich an Heidi Klums Germany´s next Topmodel. Ich überlege kurz, ob ich vielleicht auch ein Lauftraining für Models bei YouTube studieren und mir außerdem von meinem ersten Gehalt einen großen Wandspiegel zum Üben kaufen sollte.
Ich lasse den Gedanken verpuffen, weil wir keinen Platz für einen Wandspiegel haben und auch keinen, um Laufen zu üben.
Tatsache ist, dass diese Frau von einer atemberaubenden Aura umgeben ist und aussieht wie ein Supermodel. Die Männer müssen ihr zu Füßen liegen.
Sie entdeckt mich, lächelt mich an wie eine alte Freundin und während sie neben mir anhält, bekomme ich einen trockenen Mund, weil ich registriere, wie jung sie noch ist.
Sie ist bestimmt erst Anfang zwanzig.
»Hi, du siehst aus wie ich an meinem ersten Tag«, sagt sie mit einem flockenleichten bayrischen Akzent.
»Studierst du auch hier?« Toll. Ich hätte erst denken sollen und anschließend reden. Was soll sie hier denn sonst machen.
»Ich bin Luise, aber alle nennen mich einfach Lu und nein, ich studiere nicht. Ich arbeite und unterrichte im TREECSS«, sagt sie beiläufig und streckt mir ihre Hand entgegen. Ich bemerke ihre perfekten Fingernägel. Sie hat einen kräftigen Händedruck und eine warme, seidige Haut.
»Ich bin Aeia«, sage ich verlegen und kann den Blick nicht von ihren himmelblauen Augen nehmen.
»Aeia? Spreche ich das so richtig aus? Das klingt nicht deutsch, oder?«
»Nein, nicht wirklich. Meine Mutter kommt aus Guatemala. Sie ist eine echte Maya-Indianerin. Daher mein Name. Aber ich bin in Deutschland aufgewachsen.«
»Ich stamme aus Schliersee in Oberbayern«, gesteht sie.
»Das habe ich mir gedacht.«
Lu sieht mich interessiert an. »Was hast du dir gedacht?«
»Dass du aus Bayern kommst.«
»Das hört man, oder? Ich kann das einfach nicht ablegen«, sagt sie und lächelt.
»Ja,