Patty May

Sieben Tage


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nichtigeren Gründen zuschlug, hatte Robert noch nie Angst vor ihm gehabt, sie waren schließlich von klein auf beste Freunde. Sie trafen sich fast jeden Tag und machten so gut wie alles zusammen, auch wenn Petrow derjenige war, der den Ton angab. Aber in letzter Zeit war sein Kumpel verschlossen und reagierte sehr überempfindlich, mehr als gewöhnlich. Robert hätte gern gewusst, was ihn so beschäftigte, aber in diesem Moment schien es ihm klüger zu sein, vorsichtig den Rückzug anzutreten und ihn lieber nicht weiter durch seine bloße Anwesenheit zu provozieren.

      „Ich geh dann mal“, verabschiedete er sich brüsk und eilte die kleine Straße hinauf, an der ein paar hundert Meter weiter sein Elternhaus stand.

      „Und reg dich ein bisschen ab, Alter!“, rief er aus sicherer Entfernung zurück.

      Schlecht gelaunt und ohne eine Antwort ging Petrow weiter die Hauptstraße hinauf. Sein Kumpel Robert war ja schon immer sehr redselig gewesen, aber heute reizte ihn sein Geschwätz besonders. Unbewusst hatte er bei Petrow einen empfindlichen Nerv getroffen. Ja, Sascha freute sich darauf, endlich die Schule hinter sich zu lassen. Keine Lehrer mehr, die ihn ständig triezten, keine nervigen Eltern. Keiner, der ihm mehr Vorschriften machte. Endlich frei!

      Bald würde er in Pinneberg seine Ausbildung als Automechatroniker beginnen. Sein Schwager hatte ihm die Stelle verschafft, obwohl Petrow nur mit dem Abschluss der neunten Klasse abging. Wen interessierte das schon? Denn von Autos, davon verstand er was. Es war sein absoluter Traumjob! Er sollte überglücklich und zufrieden sein! Und trotzdem, mit jedem Tag, der ihn näher an sein Ziel brachte, sank auch seine Stimmung. Hier war ihm alles vertraut, und alles hatte seinen geregelten Ablauf, jede Straße und jede Abkürzung durch die Gärten fand er im Schlaf, und fast jeder hier kannte ihn! Bei den anderen Jungs hatte er sich im Laufe der Jahre Respekt verschafft, manche von denen fürchteten ihn sogar. Das gefiel ihm, hier war er wer!

      Aber in Pinneberg? Was würde ihn dort erwarten?

      Er würde von vorn anfangen und sich vor den anderen erst mal beweisen müssen. Da war er auf sich allein gestellt.

      Kröger hatte ja recht, sie hatten sich geschworen, zusammen aus diesem Kaff zu verschwinden. Aber Petrow glaubte nicht, noch ein Jahr an dieser Schule auszuhalten. Acht Stunden, tagein tagaus, immer das gleiche Gelaber, das er weder verstand noch ihn irgendwie interessierte. Alles, was er wollte, war, an Autos zu schrauben, und dazu brauchte er keine Rechtschreibung und kein Erdkunde oder den ganzen anderen nutzlosen Kram! Da kam ihm das Angebot seines Schwagers gerade recht, im September mit der Ausbildung zu beginnen. Am Ende ist sich doch jeder selbst der nächste!

      Außerdem wollte doch Kröger unbedingt Koch werden. Koch!

      Schon wieder so‘n Weiberkram, er meint, da stehen die Frauen jetzt drauf. So ein Quatsch, die stehen auf Autos, weiß doch jeder! Und wenn er erst mal seinen getunten Schlitten hatte, dann kämen die Weiber ganz von allein. Sobald er genug Kohle verdient hätte, würde er sich einen schwarzen VW-Golf besorgen und die Karre so richtig aufmotzen, mit Breitreifen und Alufelgen, in denen die roten Bremsbacken leuchteten, und natürlich tiefer gelegt. Ein protziger Heckspoiler würde dem Wagen den letzten Schliff geben, und er könnte im Kofferraum die große Boxenanlage für den richtigen Sound einbauen, damit jeder auf der Straße die Bässe schon von weitem hören konnte. Auf so einen geilen Wagen, da fahren die Frauen drauf ab. Das würde Kröger schon noch einsehen.

      Kröger! So lange er denken konnte, hatten sie beide alles gemeinsam gemacht. Er hatte mehr Zeit mit Robert verbracht als mit seiner eigenen Familie. Mann, Robert war sein bester Freund, sein einziger, und er hatte keine Ahnung, wie oft sie sich nach Beginn seiner Lehre treffen könnten.

      Jedes Wochenende, einmal im Monat? Wie lange würden sie dann noch Freunde bleiben? Am Ende fand Robert doch noch seine Braut und würde seinen alten Kumpel einfach abservieren.

      Dies war ihr letzter gemeinsamer Sommer!

      Mensch, jetzt wurde er schon wieder sentimental!

      Er sollte sich lieber zusammenreißen und das in den Griff kriegen, solche Gefühlsduselei war nur was für Mädchen oder Weicheier. Ein Mann muss eben tun, was ein Mann tun muss!

      Sein Vater sagte ihm das auch immer, und vielleicht hatte er damit ausnahmsweise einmal recht!

      ***

      Lauernd stand Nik in der Seitengasse, einen Fuß auf die Pedale seines Fahrrades gestellt, und wartete ungeduldig.

      Nach dem Unterrichtsschluss hatte er sich furchtbar beeilt, um seine Vorbereitungen zu treffen und noch rechtzeitig vor dem Mädchen hier an der Kreuzung einzutreffen.

      Sie kam doch immer hier entlang. Hatte er sie etwa verpasst?

      Hätte sie nicht schon längst in Sichtweite sein müssen?

      Er hatte seinen Platz mit Bedacht gewählt, eine Bushaltestelle verdeckte an dieser Stelle die Sicht auf die Nebenstraße, in der er stand. Hoffentlich fiel trotzdem keinem auf, dass er hier schon die ganze Zeit herumlungerte. Vorsichtig lugte er über die Schulter.

      Wenn er es jetzt noch einmal durchging, befand er, dass es ein absolut bescheuerter Plan war. Einfach alles konnte schief gehen! Was hatte er sich nur dabei gedacht?

      Ja, gestern schien sein Vorhaben noch total simpel, und er war geradezu überwältigt von seinem ach so geistreichen Einfall. Was für eine vollkommene Schnapsidee!

      Der präparierte Beutel mit den Lebensmitteln wurde ihm mit jeder Minute des Wartens schwerer. Die Henkel der großen Plastiktüte waren um den Lenker geschwungen und das untere Ende mit dem eingerissenen Loch umklammerte er fest mit seiner rechten Hand. Er war bereit!

      Andererseits wurden die Zweifel mit jeder verstrichenen Minute größer, er schalt sich einen alten verblödeten Esel und beschloss, nach Hause zu fahren und die ganze Sache zu vergessen, bevor ihn noch einer bei diesem idiotischen Vorhaben erwischte, als er unversehens eine Bewegung durch die spärlichen Sträucher an der Hauptstraße bemerkte.

      Nik duckte sich und sah angestrengt durch die Äste hindurch. Ein Mädchen mit einer blauen Bluse und wehenden blonden Haaren radelte die Straße hinauf. Endlich! Sie kam.

      Es war so weit! Er könnte sich jetzt einfach ganz still verhalten und ruhig abwarten, bis sie die Seitenstraße passiert hatte, bestimmt würde sie ihn nicht mal bemerken.

      Oder er könnte den Plan jetzt durchziehen!

      Der blaue Farbklecks wurde zunehmend größer, er musste sich entscheiden. Schnell trat er die Pedale durch und nahm mit ein paar kräftigen Tritten Geschwindigkeit auf. Das richtige Timing war ausschlaggebend.

      Anne erreichte gerade die Bushaltestelle, und zufrieden

      bemerkte er gerade noch, dass sie Kopfhörer trug und recht abwesend wirkte, bevor sie aus seinem Blickfeld verschwand. Mit ein wenig Glück konnte sie ihn nicht mehr rechtzeitig wahrnehmen, aber sicher fuhr sie gleich langsamer, um die Straße zu überqueren, also ließ er sich von seinem Fahrrad riskant um die Kurve tragen und heftete seinen Blick so weit nach unten, dass er mehr ahnte, als dass er sah, wo genau das Mädchen sich befand. Dann ging alles sehr schnell.

      Wie durch Nebelschwaden hörte er ihren entsetzten Aufschrei, bevor die Räder krachend gegeneinander stießen. Als sich der Lenker schmerzhaft in seinen Bauch grub, ließ er die Tüte los und versuchte seinen Sturz etwas abzufangen, dabei verfehlte er nur knapp das Busschild und landete ungelenk auf dem Rasenstreifen. Nik brauchte einen Moment, um sich wieder aufzurappeln und nach dem Mädchen zu sehen.

      Der Zusammenstoß war viel heftiger gewesen, als er es vorgesehen hatte. Eigentlich wollte er sie nur ein wenig streifen und nicht gleich umbringen. Erschrocken stellte er fest, dass sie vor Schmerzen jammerte und halb über ihrem Fahrrad lag. Das hatte er so nicht gewollt!

      Es war allein seine Schuld, wenn sie sich dabei verletzt hatte. Eilig half Nik dem Mädchen aufzustehen.

      „Bist du in Ordnung?“, fragte er ängstlich.

      Sofort stellte diese das Stöhnen ein und starrte ihn finster an. Für drei Sekunden herrschte absolute Stille, bevor ihre Stimme lautstark und wütend aus ihr herausbrach.