Erwin Guido Kolbenheyer

Paracelsus


Скачать книгу

sich sein Grauen immer wieder, und er fand den Mut, die geschundenen Leiber zu betrachten. Es war gleichwohl eine harte Lehre. Und als es zur Geißelung kam und das erweckte Blut über die Rücken rann, stand ihm das Weinen hoch im Halse, zumal sich ringsum ein Würgen und Schluchzen erhob. Aber des Vaters Stirn, die sonst auch in ihrem Ernste klar blieb, war hart verfinstert. Und das stärkte sein Herz.

      Es war nach einer stummen Frist, darin die Büßer ihre Sünden vor aller Welt zur Schau stellten, der Meister aufgestanden. Er schritt über den ersten Geißler, der neben ihm lag, und schlug ihn mit dem Riemen.

      „Stand uf durch der reinen Märtel Ehre Und hüt dich vor der Sünde mehre!“

      Der Getroffene stand auf und folgte dem Meister. So erhob sich einer nach dem andern, und alle schritten über den nächsten hin. Da alle aufgerufen waren, gingen sie paarweis im Ringe und geißelten sich, daß mancher sehr blutete.

      Die Kraft hatten, sangen den langen Leis von der Sünde und der Nachfolge Christi:

      „Jesus Christ, der ward gefangin,

      An ein Krüze ward er erhangin,

      Das Krüze ward vom Bluote rot.

      Wir klagend Gotts Märtel und sinen Tod.

      Durch Gott vergießen wir ünser Bluot,

      Das sije uns für die Sünde guet.

      „Sünder, womit willtu mir lohnin Dri Nagel und eine durnin Kronin,

      Des Krüzes Fron, eins Speeres Stich,

      Sünder, das leid’t ich alls durch dich,

      Was willtu leiden nu durch mich?“

      Langsam sangen sie, Jede Strophe des langen Liedes sagte dasselbe; sie waren bereit, in der Marter auszulöschen, wie ihr Heiland ausgelöscht war. Der eigentümlich juckende Schmerz, den die Hiebe erregten, und das rinnende Blut jagten sie aus der stumpfen Entkräftung ihrer Betfahrt auf. Sie fühlten, je mehr sie entbrannten, die hundert Augen voll Angst, voll Begeisterung, voll Tränen auf sich ruhen. Sie wankten durch ihr Martyrium mit lechzenden Lippen und halbgeschlossenen Augen, als verlangten sie die Sündengalle der ganzen Welt einzusaugen. Und die beißende Wollust ihrer Buße wuchs riesengroß vor ihnen. Sie fühlten sich eins mit dem sterbenden Christus.

      Ehe noch der Leis ausgesungen war, fand die lauschende Menge Sättigung ihrer äußersten, peinlichen Erwartung, die nach und nach alle Augen getrocknet und auch die Begeisterung abgestumpft hatte. Die Blicke folgten nur mehr jenen Geißlern, die ihre Marter kaum weiter zu schleppen vermochten, denen man ansah, daß sie den eigenen erschöpften Leib durch die Hiebe aufpeitschen mußten, sonst wäre er zusammengesunken.

      Und als es geschah, bemerkten es zunächst die wenigsten. Der junge Mensch, um dessentwillen Wilhelm Bombast gekommen war, hatte beide Arme gegen den Himmel geworfen, einen gurgelnden Wehlaut ausgestoßen, der aber im Gesang, im Riemenklatschen, im Kettenklirren ertrank, und war mit einigen taumelnden Schritten in den Kreis geflüchtet. Er brach nieder, und sein dunkles Blut schoß aus dem Mund. Er versuchte mehrmals sich auf die Seite zu wälzen und lag dann schlaff, ohne Leben.

      Bombast war durch den kreisenden Ring hindurch dem armen Teufel zu Hilfe geeilt. Das hatte aller Blicke gelenkt. Sie raunten, deuteten, reckten sich auf, riefen und drängten hinzu. Aber die Geißler hielten nicht ein. Sie achteten des Gefallenen nicht und schienen die Bewegung des Volkes nicht zu merken. Nur daß sie etwas lauter sangen, ihre Riemen weiter ausschwangen. Und ihre Unberührtheit hielt die Menge im Zaum, schlug die erschreckten Rufe zu Geflüster nieder, zwang die begierigen Blicke zu Scheu und Demut. Die Menge staute zurück, viele sanken wieder auf die Knie.

      Theophrast lief mit seinem Eimerchen außerhalb des kreisenden Ringes hin und wider. Er wollte zu seinem Vater und fand den Durchschlupf nicht. Die sausenden Riemen schreckten ihn nicht mehr als die beronnenen Leiber und mißtönenden Münder. Er lief auf und nieder, weinte leise und wimmerte: „Min Vater! Min Vater!“

      Keiner hörte ihn. Nie noch hatte er sich so verloren gewußt als da, umgeben von den fühllosen Großen, nur wenige Schritte von seinem Vater entfernt, aber von ihm getrennt durch die fürchterliche Erbärmlichkeit der Geißler.

      Der Gesang verstummte, das Riemenklatschen, das Rasseln. Die Büßer standen und kehrten sich gegen die Mitte des Kreises. Ein Krächzen fuhr aus der Luft durch die Stille, daß selbst die Augen der Brüder erschrocken aufblickten. Raben strichen über sie hin. Der dunkle Vogelschwarm ließ manchem das Herz stocken, mancher wurde der Grausamkeit des Schauspieles erst bewußt. Da rief die Stimme des Meisters seine Bußgesellen zurück und sie zerriß auch das zweiflerische Bangen des Volkes.

      „Jesus ward gelabet mit Gallin!“

      Und sie schrien auf:

      „Des sullen wir an ein Krüze fallin!“

      Sie sanken Hin. Etliche gruben die Finger ihrer gespreizten Arme in den Boden, als müßten sie sich fester an die Erde klammern, um nicht im Wirbel des Schmerzes und der Entkräftung fortgerissen zu werden.

      So fand Theophrast einen Weg zu seinem Vater, indem er über die blutbespritzten Arme zweier Büßer stieg.

      Wilhelm Bombast hielt den Kopf des sterbenden Mannes in seinem Arm und ließ ihm zwischen die weißen, zitternden Lippen aus dem Fläschchen hie und da einen Tropfen sickern. Dann geriet die Zunge des Geißlers in eine matte Bewegung. Seine Lider hob er nicht mehr.

      Theophrast kniete ihm zu Häupten, er sah aufmerksam nieder. Da er bei seinem Vater war, fürchtete er nichts.

      Das Fläschchen hatte einen betäubenden Inhalt, der Geißelbruder konnte ohne Wehlaut verscheiden. Er seufzte kaum auf, da er zusammensank. Herr Wilhelm legte ihn behutsam nieder.

      „Nu schlafet er wohl“, flüsterte Theophrast befriedigt, denn des Toten Gesicht lichtete ein Lächeln.

      „Ja, nun schlafet er wohl, Theophrast. All sins Herzens Qual hat ein Bschluß. Er ist tot.“

      Da neigte sich das Kind spähend über das weiße Gesicht und wollte erkennen, was der Tod sei. Aber es wurde vom Vater sanft aufgerichtet, denn die Büßer traten nahe heran. Ihr Meister fragte und erhielt Bescheid. Ein Kreuz schlug er über den Toten und winkte Herrn Wilhelm, aus dem Kreis zu treten.

      Die Geißler standen dicht um ihren Gefallenen und murmelten auf des Meisters Geheiß halblaute Gebete. Sie hatten schon hinter Kolmar erwartet, daß der Bruder sterben werde.

      Dann nahmen ihn die acht stärksten auf. Sie zogen schweigend dem Kloster zu, und viele folgten ihnen bis an die Mauern nach.

      Auf dem Heimwege fragte Theophrast den Vater:

      „Was tuend die mit ihm?“

      „Sie graben ihn ein und ziehen alsdann weiter.“

      Die Antwort befriedigte Theophrast vollkommen, denn er hatte am Tonfall der Worte erlauscht, daß sein Vater zu einem großen Mann auch nicht anders gesprochen hätte.

      Als sie im Schwarme der Leute an dem buntbemalten Wagen und dem abgeblachten Platze vorbei kamen, faßte Theophrast des Vaters Hand fester und meinte:

      „Das muoß ein Narr sin, so er dem Gugelvolk zwen guete Schafbock gibt und tuet sie nit selbsten ein!“

      Herr Wilhelm, dessen Herz andere Dinge füllten, nickte nur, und Theophrast fand sich in seiner Welterkenntnis sehr bestärkt. Er beschloß, kühngemut der kleinen Verführerin zu begegnen und sie bei gutem Winde trefflich anzufahren, darum weil sie ihm mit zwei schönen Schafböcken so schmählich entlaufen war.

      Schon bei dem Engelweihschmause am Tage des Hauptfestes kam es, da die ersten Schüsseln genossen waren und mancher Wein seinen Weg gefunden hatte, zur friedsamen Parteiung der Kleriker. Anfänglich lag freundschaftlich flüsternde Befangenheit über den geräumigen Tischen des großen Abteisaales. Doch man aß nicht schlecht und schlürfte den erfreulichsten Trunk.

      Um den Tisch des Fürstabtes und des Legaten schlich es am längsten mißtrauisch auf Zehenspitzen. Der Legat war in spanischer Edelmannstracht