Erwin Guido Kolbenheyer

Paracelsus


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bestehe, sondern auch einen freundlicheren Inhalt haben mochte. Er sog sich an dem Lappen fest, und brachte seiner Wehemutter ein erstes Lachen wieder.

      Der kleine Bombast konnte diesen ersten Lappen nicht behaupten, allein er blieb im Vertrauen auf die neue Welt unbeirrt, es geriet ihm der Daumen seiner Rechten in den Mund, und er saugte so kräftig, daß es auch Vater, Mutter und Großvater hörten und alle einsahen, er werde sich jeweils zu helfen wissen. Mit gleicher Entschlossenheit entdeckte und gebrauchte er sein kurzes, schnüffelndes Rüsselchen, als man ihn warmgewickelt der Mutterbrust nahebrachte. Er umwitterte eifriger bewegt, als es der hilfsbereiten Hand der Mutter schicklich fiel, die treue Quelle seines Lebens und fand eigenmächtig, was er suchte und woran er zunächst festhalten wollte.

      So gab er schon in seinen ersten Stunden durch ein beherztes Wesen den wenigen, die auf ihn sahen, Linderung ihrer heimlichen Schmerzen und ein Aufatmen.

      Noch war die Mitternacht nicht über den Etzel gestiegen, da ruhte das Ochsnerhaus an der Teufelsbruck von den inneren Stürmen aus. Es lag in wacher Ruhe, die nach den Stürmen kommt und Leiber bindet, Herzen aber lauschend hält.

      Das Ochsnerhaus kauerte treu geduckt am Rande der Sihlschlucht, wie ein Vogel in der Nacht über seinen Jungen kauert und Federn und Flügel sträubt. Es zitterte nur leise und knarrte in den Fugen, während das Unwetter von allen Seiten ansprang. Und das Dach spannte mit verhaltenem Krachen seine Streben der Schneelast entgegen.

      Im Oberstocke bei dem Kinde und seinen Eltern, im Gadem zur ebenen Erde, wo das erstarrte Herz unter dem Schweizerschwert lag, spann je ein Läppchen seine Strahlen durch die Nacht und schaukelte leicht die leuchtende Zunge in der Zugluft.

      Der alte Ochsner saß auf und hielt Totenwacht.

      Er hatte sein Weib, das vor Müdigkeit des Leibes und der Seele wankte, über die Stiege herab mehr tragen als führen müssen. Vor Jungrudi war ihr Herz noch einmal aufgebrochen, der Mann hat sie gehalten und verhindert, daß sie sich über den Toten warf.

      „Schenk ihm Fried.“

      „Ruodi … hast din Frieden gsuocht, do du bist auß in den Schnee.“

      „Alls ist still, Muotter. Kumm, du sollt dich legen. Ich will siner Ruoh hüeten.“

      Er leitete sie in die Kammer, die neben dem Gadem lag, und saß dann stillbewegt von dem Gefühle, alle die Seinen bei sich zu haben und für sie zu sein. Es raunten in seiner Brust die sonderbaren Stimmen nach, die ihn auf den Bußweg über die Klause begleitet hatten, die ihn dann überschrien und fortgerissen hatten, als er mit dem Toten allein war. Er wußte, daß ihm hinfort die Träumer und ihre Reden, die hie und da aus dem Strome der Pilger aufklangen wie ein fremdes Geläute, nicht mehr des Spottes schuldig scheinen würden.

      Schlafet alle. Der neue Tag wird den Zauber sprengen. Was tot ist, wird verwehen. Was lebt, wird vergessen und der nächsten Not dienen. Von der Hand zum Mund, das ist der Weg des Tages. Was jenseits der Zähne liegt, das will der Tag nicht sehen.

      Schlafet alle. Es lebt ein Leben, das neben dem Weg des Tages einhergeht, neben mir und dir und jedem. Durch die Nacht schleicht es mit leisen Sohlen und überwacht den Tag.

      Schlafet alle und gebt Raum den Tiefen der Nacht, die in uns ruht.

      Erste Schritte

      Die Tage deckten ihre weiße und blaue Glocke über das Menschenreich, die Unendlichkeit der Nächte lüftete den wehenden Schleier oder verbarg ihr wunderliches Gesicht dahinter. Und die Leute redeten von den fünf Pflugarbeiten, jedesmal wenn die Zeit kam. Im Frühjahr vom Saatpflügen auf dem Haferfeld, im Mai vom Brachen, im Juli vom Rühren, im Herbstmond vom Werfen der Stoppeln und im Weinmond vom Felgen des Korngrundes. Das waren Leute von den freundlichen Seeufern, denen die Sihl nachstrebt, ohne sie jemals zu erreichen, denn sie vermengt sich mit der brausenden Limat im Rücken von Zürich. Die Seeleute wußten noch andere Jahreszeiten und brauchten nicht gerade nach dem Pflügen zu zählen. Sie redeten vom Schneiden, Sticken, von Gärten, vom Hacken, Heften, Rauchfelgen, Zwicken und Lesen. Dann meinten sie den Wein, dessen säuerliche Glut sie aus grüngelben Beeren herbsteten. Aber auch über Aalrute, Äsche, Barbe, Barsch, Schlei und Gründling, über Reusen, Angeln, Stecheisen ging die Unterhaltung in den Wirts- und Wohnstuben. Das Vieh kam nur nebenher zur Sprache. Weit öfter das Fährwesen, und damit lenkten die Worte ab gegen Richterswil und bergan der lieben Fraue von Einsiedeln zu.

      Dort, im Hochtal der Sihl, wechselten wohl auch Hafer, Brache und Roggen auf dem lockeren Rottland an den Bergsäumen, aber die breite Talsohle füllte ein moorsatter Grund, und der brachte hartes, saures Futter. Nur auf den Hängen der Sihl und den kurzen Bodenwellen, die aus dem Hochmoor tauchten, wuchs fettere Weide, die auch Heu genug für den Winter gab, obwohl sie einschürig blieb. Über die Wiesenhänge schritt das Jahr in drei Gezeiten: bis Walpurgis im Mai währte der Weidetrieb, dann wuchsen Gräser und Kräuter der Sichel entgegen, und Sankt Bartholomäustag brachte wieder Rinder und Schafe auf das kurze Grün. Demgemäß sprachen die Leute des Hochtals vom Gras, Rind und Schaf. Vom Walde aber redeten sie schon, wenn die Sonne kaum den letzten Schnee weggeschmolzen hatte. Sie dachten zu dieser Zeit nur an den Wald am Fuße der Höhen, wo Buchen wuchsen, während die Kämme vom dunklen, unfruchtbaren Nadelholz bestanden waren. Dorthin, in den Ecker am Fuße der Höhen, trieben sie die zarten Märzschweine zur Aufzucht, doch mußte ein neuer Eintrieb am Sankt Johannistag beschlossen sein. Gegen den Herbst zu, wenn die Buchen ihre zottigen Fruchtbecher öffneten und den Ecker streuten, kamen die alten Schweine zur Mast, nach Sankt Michael jedoch nur mehr die Sauen. Ehe der Schnee fiel, das geschah meist vor Sankt Elisabeth, ritt ein Klosterschöff die Runde, und man erwartete ihn. Er raffte einen Fäustling Walderde auf, dort wo das Schwein nicht zu oft und nicht zu selten gewühlt hatte, und schätzte den Ecker. Danach fiel dann der Einlaßzins auf den Kopf des Schweins.

      Über diesen kleinen Tierkreis, der das Firmament der Gottshausleute umschloß, schwang eine bedeutsamere Zeitenfolge, die nach dem Haushalte der Gottesmutter zu Einsiedeln geregelt wurde. Alle sieben Jahre gipfelte der Gnaden Stern des großen Engelweihfestes und schüttete seine Ablaßgarben über die Pilger nieder, deren viel hundert die Gnadenkapelle umschwärmten. Aber auch in den sechs andern Jahren lief die Mühle nicht leer. Wenn nun ein Anwesen, wie das der Ochsner, an einem ihrer Hauptgänge lag und die Freiheit besaß, zu Zeiten der Pilgerflut das Rädlein auszustecken, um den Schmachtenden ein freundliches Ziel für ihres Leibes Durst und Hunger zu weisen, dann gab es dort noch andere Zeiten und Sorgen als die der sechs Kühe, der vierzehn Schafe und zweiundzwanzig Schweine.

      Während das Ochsnerhaus unter dem Zeichen des Rädleins stand, war Wilhelm von Hohenheim zum erstenmal eingekehrt und hatte den günstigen Stern wahrgenommen; und während das Ochsnerhaus das Rädlein noch trug, sollte der jüngste Bombast entwöhnt werden, nachdem er sein menschliches Antlitz aus einem Zustand entwickelt hatte, der eher dem Hutzelobst der Großmutter glich als dem Ebenbild Gottes. Doch die Mutter wußte für sich und den Kleinen noch etliche Wochen der zärtlichen Hingabe abzuschmeicheln, obwohl ihre Kräfte dem Liebesopfer kaum gewachsen waren.

      Er trug einen Namen, über den alle Ochsner, Weßner und Schärer nicht wenig erstaunten, als sie ihn zum ersten Male hörten.

      Am schnellsten fanden sich noch die Eis und der Rudi Ochsner drein. Die Eis, weil sie dem Manne vertraute, und der Alte, weil er seit jener Nacht manchem mißtraute, worüber die andern behäbig wurden. Die Großmutter blieb besorgt. Sie fühlte, daß der sonderbare Name den adeligen Stamm des Kindes betone. Er klang wie eine Minderung des mütterlichen Blutes. Sie fürchtete für den jüngsten Bombast, weil ein guter Eidgenoß allem feindselig begegnet, was nach Ritterharnisch klirrt. Also auch Hans Ochsner, der auf das zarte Knäblein wies und meinte:

      „Sehet zuo, es möcht ihn sunst einer us den Windlen blasen, so er ihn bi dem Namen ruoft.“

      Darauf sagte der Vater:

      „Es wird nit eins jeden Manns Gewicht uf der Metzig gewogen.“

      Und der Hans:

      „Sollichs ist zur Stund ein Glück vor den Metzger.“

      Aber der Hans redete rauher als er tat. Er stand zuweilen an dem Körblein und