Mario Leimbacher

IKONIK


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      Ein auffallendes Beispiel einer fehlerhaften Mengen- oder Kategorienbildung besteht darin, dass es an allen Orten von Bildern nur so wimmelt, aber an keinem anderen Ort weitere Frischprodukte oder einheimische Früchte zu finden sind. In der Elektronikabteilung stehen mehrere Reihen Fernsehgeräte übereinander, auf denen für kurze Momente dasselbe Bild erscheint. Eine ganze Wand des Raumes ist bedeckt mit Bildschirmen, auf denen in kurzen Rhythmen erschreckende Szenen aus den Abendnachrichten erscheinen. Menschen werden in einem Gefängnis gefoltert. Eine lebendige Tapete von Folterszenen erscheint als leuchtendes Muster des Einkaufszentrums.

      Von jedem Handy oder Computerbildschirm aus leuchten mich Bilder an. Beim Preis dieser Geräte ist nicht klar, ob das Gerät oder die Bilder gemeint sind. Von der Decke hängen Tafeln mit Bildern. Auf den meisten Produkten in den Regalen wie den Konservendosen, den Müslischachteln und Fruchtsaftpackungen gibt es Bilder. Wenn ich also einen Orangensaft kaufe, erhalte ich gratis dazu das Bild mit einigen Orangen, aber nirgends erhalte ich zu einem Bild gratis Äpfel. Wäre es seltsam, als Geburtstagsgratulationskarte das Orangenbild des Orangensaftes zu verschicken? Die Orangen auf der Fruchtsaftpackung sind mindestens so schön und real wie auf der Gratulationskarte. Auf der Müslipackung strahlt mich eine überaus schlanke Frau an. Frauen kann ich aber in diesem Geschäft keine kaufen. Dass es Bilder gibt, die etwas kosten, und andere, die gratis und erst noch zum Wegwerfen gedacht sind, muss bedeuten, dass sie unterschiedliche Werte besitzen. Wie kommt es, dass das eine Bild einen höheren Wert hat als das andere?

      Der Soziologe Alfred Schütz hat in seinem Werk "Die Strukturen der Lebenswelt" unser Leben in das fraglos Gegebene eingeteilt: das wären die eindeutig angeschriebenen Lebensmittel und die Welt des Apfelstrudels, und in das Problematische, das wären die Bilder, vielleicht auch die Worte, die sich in ihrer Verwendung als problematisch erweisen. (Schütz 1979)

      Die Verwendung des Bildbegriffes in der Welt des Einkaufzentrums und des Lebensnotwendigen geschieht zwar noch selbstverständlich und fraglos, er bezeichnet eine Kategorie handwerklich-technisch produzierter und handelbarer Gegenstände. Vielleicht könnte man die Welt der Bilder als Übergangsorte bezeichnen, die zum Problematischen verleiten. Wir sind von ihnen in fast allen Situationen umgeben, ob wir dies wollen oder nicht. Wir informieren und unterhalten uns mit ihnen, ohne Fragen nach ihrem Wert oder ihrer Bedeutung zu stellen, diese scheinen sich aus der Verwendung und ihrem Kontext zu ergeben. Wir denken dabei einerseits an Dinge, die im Wesentlichen visuell, aber auch immer haptisch erfahrbar sind, die man selber produzieren, erwerben, verkaufen, einrahmen, ausschneiden, aufbewahren, zerstören oder wegwerfen, projizieren oder an eine Wand hängen kann. Auch die schnelllebigen und flüchtigen Bilder der elektronischen Medien zählen dazu, die im Verborgenen als digitale Daten vorhanden sind, die aber erst als Bilder in Erscheinung treten, wenn man sie dazu auffordert.

      Bei der alltäglichen Verwendung von konkreten Bildern besteht eine Übereinkunft darin, dass es sich einerseits um einen materiell fassbaren Gegenstand handelt, gleich ob es ein Papier, ein Handybildschirm oder eine Projektion ist, und andererseits, dass dieser auf eine bestimmte Art behandelt werden soll, aber auch dass er von allen in dieser Weise behandelt werden muss. Erfüllt er dieses Kriterium nicht, kann man nicht über ihn sprechen. Diese Konvention meint die Art des Platzierens und Ansehens; das Ding muss auf eine ganz bestimmte Art und Weise angesehen werden können. Der Begriff spricht damit einerseits Materialität und anderseits ein bestimmtes Verhalten an. Wenn ich die Müslipackungen betrachte, haben alle eine richtige Lage im Gestell. Es gibt ein Oben und ein Unten. Die auf der Müslipackung stehende Frau hat den Kopf oben und die Füsse unten, wie die Menschen, die neben mir ihre Einkäufe machen. Ist nun die Darstellung der Frau auf der Müslipackung eine Konvention, eine von der Gesellschaft bestimmte Norm, wie das von Sprachwissenschaftlern behauptet wird? Dann müsste es auch eine gesellschaftliche Norm sein, dass wir die Füsse unten haben und den Kopf oben.

      Bei den Messern oder Äpfeln scheint ihre Lage im Gestell oder Korb keine so grosse Rolle zu spielen. Vermutlich liegen die Messer aus dem praktischen Grund in einer bestimmten Richtung im Gestell, damit wir uns nicht schneiden, wenn wir sie anfassen. Ist der Grund, warum die Frau auf der Müslipackung die Füsse nicht oben hat, auch ein praktischer?

      Sobald sich der Fokus auf die Bilder in der Mehrzahl richtet, lösen sich die Verknüpfungen zwischen Gegenstand und Verhalten, da Bilder in und auf allen möglichen Materialien erscheinen können. Wenn ich die aufgeschichteten Zeitschriften im Kiosk anschaue, erkenne ich sofort, welche Flecken in den visuellen Mustern Bilder und welche Wortansammlungen sind. Die Materialisierung wird austauschbar, die spontane Funktion des Gegenstandes und seine Verwendung treten in den Vordergrund. Man assoziiert dann möglicherweise die von den Medien verbreiteten, schnelllebigen Bilder, die verschwindenden Bilder, die Bildbotschaften der Zeitungen, Illustrierten, bis hin zu denen der elektronischen Medien, die sich nicht mehr so einfach anfassen und einrahmen lassen. Der Begriff "Bild" bezeichnet dann weniger ein Ding als ein flüchtiges, kommunikatives Element, und damit eher ein sprachliches Zeichen wie das Wort, der Satz, der Text, die zwar in ihrer konkreten Erscheinung auch gemeinsam beschrieben werden können, aber den Fokus auf einen vermittelten Sinn lenken. Man könnte, wenn man von den Bildern in der Mehrzahl spricht, diese als Löcher in der Umgebung betrachten, bei denen die Lage und damit das Richtig oder Falsch nicht mehr so wichtig sind. Es gibt gemeinsame Merkmale, die für alle von uns sofort deutlich machen, dass es sich um Bilder handelt.

      Alle diese als reale Gegenstände oder als Erscheinungen gemeinsamer Anschauung beschreibbaren Möglichkeiten des Bildbegriffes sind begleitet von Tätigkeiten, die nicht wegdenkbar sind, die in der Verwendung mitgedacht werden. Das Bild ist begleitet von rezeptiven, kommunikativen vermittelnden, zeigenden, produktiven, urteilenden und handelnden Tätigkeiten. Erst durch die mit dem Gegenstand verbundene Tätigkeit wird dieser zu dem, was man in der Umgangssprache mit Bild benennt.

      Diese Offenheit und Mehrdeutigkeit scheint auf den ersten Blick kein Problem zu sein, denn damit steht der Bildbegriff in unserem Sprachgebrauch nicht alleine da. Viele Begriffe provozieren ähnliche Schwierigkeiten, sobald man zu fragen beginnt. Ein vergleichbares Problem wird bei den Worten sichtbar, denn diese kann ich in grosser Menge in Büchern versammelt kaufen, andere werden mir in grosser Menge gratis angeboten.

      Beim Versuch einer Befragung des Bildbegriffs stelle ich fest, dass sich die Schwierigkeiten multiplizieren. Einerseits bezeichnet der Begriff einen einfach definierbaren, materiellen Gegenstand, das gemeinsam beurteilbare Bildobjekt, andererseits dient dieser Gegenstand selber dazu, wieder andere Gegenstände darzustellen und damit zu bezeichnen.

      Das Bild lässt sich mit einer Schleuse vergleichen, deren Existenz Sinn erhält, wenn sie sich für den Schiffsverkehr, das heisst für die alltägliche Kommunikation schliessen und wieder öffnen lässt, und wenn es in seiner Tätigkeit nicht weiter beachtet und hinterfragt wird. Im Gang durch das Einkaufszentrum werden wir mit einer unglaublichen Menge Bilder konfrontiert, die als einzelne in der Masse der Farben und Formen untergehen und nur ab und zu und ganz kurz, aber vielleicht ganz subtil ihre Wirkung entfalten. Wird das Bild zum Beispiel als eine Kategorie innerhalb der Haushaltsgegenstände in Frage gestellt, scheint man die Kontrolle über das Öffnen und Schliessen zu verlieren.

      Das Bild und seine Orte

      Mit dem Wort Bild haben wir eine umgangssprachlich eindeutige Etikette vor uns. Sobald versucht wird, eine Definition vorzunehmen, die auch für unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen Geltung haben soll, zerfällt diese oberflächliche Eindeutigkeit.

      Für die Wissenschaften existieren weder allgemeingültige Definitionen des Bildbegriffes noch Kategorien von Bildaspekten.

      Betrachten wir den Bildbegriff in seiner nackten Form, also das Wort Bild als akustische Form und Lautfolge, oder das geschriebene Wort als typografische Form, das beim Lesen die Lautfolge provoziert, so ist das vorerst ein sichtbarer oder hörbarer Sinneseindruck. Dieser akustische Sinneseindruck, den die Semiotik als arbiträres (willkürliches) Zeichen betrachtet, hat sich für uns bis zu einem gewissen Grad ohne unsere bewusste Initiative zu einem Gefäss entwickelt, das gefüllt ist mit Erlebnissen und Erfahrungen, auf die wir zurückgreifen können. Auch wenn wir nicht vor einem realen Bild stehen, können wir den Begriff verwenden, und damit entweder ein einzelnes