Ludwig Witzani

Indische Reisen


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Inbrunst fast erschlägt. Zurückgesetzt vom Trubel des Chandni Chowk und oberhalb des Straßenniveaus befand sich in einer mit glitzernden Leuchten geschmückten und mit dicken grünen Teppichen ausgelegten Halle der große altarartige Baldachin, unter dem die Gläubigen die Gebeine des Märtyrer-Gurus verehrten, um sich gleich anschließend dem aufgeschlagenen heiligen Buch hinter Panzerglas zuzuwenden. Scheu und ehrerbietig umkreisten die Sikhs den Baldachin, während die monotone Liturgie von Raga-Gesängen die Halle erfüllte. Stundenlang saßen sie vor dem Märtyrersarg und dem heiligen Buch auf dem Teppich und blätterten meditierend über hektografierten Abzügen aus dem Gur Granth Sahib. Es war vornehmlich der hochgewachsene nordwestindische Menschenschlag, der diesen Tempel frequentierte, würdige Männer, die ihre mächtigen Bärte und Turbane trugen wie die Merkmale einer besonderen Erwählung und deren Augen voller Trauer auf den Baldachin blickten, als schmerze sie die Hinrichtung Teg Bahadurs jeden Tag aufs Neue.

      Dass der Großmogul Aurangazeb den vorletzten Guru der Sikhs wie einen Verbrecher hatte hinrichten lassen, wirkte bis heute nach. Wo immer es nach dem Abzug der Briten bei der Aufteilung des indischen Subkontinents zwischen Indien und Pakistan zu Kämpfen gekommen war, hatte man die Sikhs zuverlässig auf Seiten der Hindus gefunden. Das war allerdings auch schon eine Weile her, und zur vollständigen Wahrheit gehörte, dass sich inzwischen auch das Verhältnis der Sikhs zur hinduistischen Glaubensmehrheit erheblich verschlechtert hatte. Religiöse und politische Streitigkeiten zwischen der Zentralregierung und separatistischen Sikhs im nordindischen Punjab hatten im Jahre 1984 zur Erstürmung des Goldenen Tempels von Amritsar durch indischer Truppen geführt, ein ungeheures Sakrileg, das sich in den Augen der Sikhs als genauso ruchlos darstellte wie die Hinrichtung Teg Bahadurs durch den Großmogul Aurangazeb. Die unmittelbare Folge dieser Militäraktion war die Ermordung der indischen Ministerpräsidentin Indira Gandhi durch zwei ihrer Sikh- Leibwächter gewesen, ein Attentat, das ganz Indien erschütterte. Noch in der Nacht des Attentats hatte sich der Hindumob vor dem Sis-Ganj-Gudwara-Tempel zusammengerottet, um das Heiligtum der Sikhs niederzubrennen - gehindert allein von den Soldaten der gleichen indischen Armee, deren Aktionen in Amritsar die Krise erst zum Kochen gebracht hatten.

      Wurde man im Heiligtum der Sikhs schier erschlagen von religiöser Energie und geschichtlichen Assoziationen, herrschte im wieder nur wenige Meter entfernten hinduistischen Gauri-Shankar-Tempel eine gänzlich andere Atmosphäre. Entweder hatten die dürftigen Lebensumstände der Menschen ihr Bedürfnis nach Schönheit derart beeinträchtigt, dass sie die rostigen Gitter, die halb fertigen Mauern, den hässlichen Wassertank und die funktionslos herumstehenden Eisenträger im Tempelhof kaum noch wahrnahmen, oder ihr Glaube war tatsächlich so vergeistigt, dass sie der erhebenden Kulisse nicht bedurften. Vor dem achthundert Jahre alten steinernen Lingam, dem Phallussymbol des ekstatischen Gottes Shiva, lag ein abgemagerter Inder mit einem schrecklichen Hautkarzinom lang ausgestreckt auf dem Boden. Diese Szene erklärte mehr als alle Theorie die Überlegenheit der Religion über die Wissenschaft: der Arzt prophezeite dem Kranken den Tod und die Gnade Shiva eine bessere Wiedergeburt.

      Im bereits erwähnten Jainatempel Digambara Lal Mandir mit seinem Tierhospital endete der Rundgang über die Chandni Chowk. Verbeugten sich die Moslems in der Goldenen Moschee vor der Gebetsnische, die gen Mekka wies, beteten die Sikhs im Sis Ganj Gudwara vor dem Grab des neunten Gurus, verehrten die Hindus im Gauri-Shankar-Tempel ein achthundert Jahre altes steinernes Phallussymbol, so verneigten sich die Jainas in ihren Tempeln vor den immer gleichen Abbildungen der vierundzwanzig Tirthankaras, die als Wegbereiter der Erlösung die allindische Lehre von den Wiedergeburten, vom Leben als Tal des Leidens und der Askese predigten. Vom Hinduisten unterscheiden sich die Jainas wie die Buddhisten in der Ablehnung des Kastensystems, von allen anderen Religionen trennt die Jainas eine unerhörte Hochachtung des Lebens in jedweder Gestalt. Der fromme Jaina duldet keinerlei Leder in Haus und Tempel, entstammen diese Stoffe doch den Körpern getöteter Tiere. Er trägt einen Mundschutz, damit er nicht aus Versehen ein Tier einatmet, er versagt sich den Tee nach Einbruch der Dunkelheit, weil ein Insekt ins heiße Wasser fallen könnte, und er isst nur Gemüse, das über der Erde wächst, weil das Herausreißen von Gemüsegewächsen samt Wurzeln möglicherweise Würmer und Mikroben in Gefahr bringen könnte.

      Jeder Vegetarier mochte das super finden, aber nach meiner Reise durch die indische Religionsgeschichte verlangte mein Magen nach Herzhaftem, und so marschierte ich zum Roten Fort, vor dessen Eingang es das beste Chicken Curry von Delhi geben sollte. Niemand wusste natürlich, wie viele der Hühner, die dem Massaker im Chitli Basar entkommen und von den Jainas wieder hochgepäppelt worden waren, anschließend wieder eingefangen und dann doch noch zu rot geröstetem Chicken Curry verarbeitet wurden, aber das wollte ich an diesem Nachmittag auch nicht mehr wissen. Überall wurde geschmatzt und gelacht, Familien waren unterwegs, und hoch über dem verkehrsfreien Platz vor dem Lahore Gate wehte die indische Staatsflagge, seit sie zum ersten Mal am 15. August 1947 anstelle des Union Jack aufgezogen worden war.

      Über zwei Kilometern Länge und in einer Höhe zwischen 18 und 34 Metern erstreckten sich die titanischen Wälle des Roten Forts am Rande Alt-Delhis. Heute ein alter geschändeter Riese aus Stein, hätte es das Rote Fort in seiner Glanzzeit mit den schönsten europäischen Barockschlössern aufnehmen können - in seinen gepflegten Gartenanlagen, den aufwendigen königlichen Bädern, in der großen Audienzhalle mit dem Thron des Herrschers, mit dem Diwan-i-Khas, seinen silbernen Decken und dem sagenhaften Pfauenthron erreichte die Kunst der Mogulzeit ihren letzten Zenit.

      Nach Aurangazebs Tod im Jahre 1707 aber war es mit dieser Pracht vorbei. 1739 eroberte Nadir Shah von Persien Shahjahanabad, plünderte die Kostbarkeiten des Forts, ließ die Edelsteine des Diwan-i-Khas aus den Wandfassungen reißen und den sagenumwobenen Pfauenthron entführen. 1760 montierten die Marathen die Silberdecken ab und hinterließen die berühmte Audienzhalle in ihrem beklagenswerten heutigen Zustand. 1858/9, nach dem misslungenen Sepoy-Aufstand gegen die britische Herrschaft, wurden auf Anweisung der Engländer in einem Akt bemerkenswerter kolonialgeschichtlicher Barbarei die prächtigen Haremspaläste in der Mitte des Forts abgerissen, um Platz für hässliche Militärkasernen zu schaffen.

      Solchermaßen von der Geschichte gebeutelt, machte das Rote Fort auf den heutigen Besucher nur noch wenig Eindruck. Die Gebäude und Gärten waren ungepflegt, es wurde gegen die Palastwände gepinkelt, und die indischen Familien verteilen die Überreste ihrer Picknicks flächendeckend über die karge Wiese neben der Perlmoschee des Aurangazeb. Der Pfauenthron war weg, die Teiche waren leer, und auch die Gewässer der Yamuna, die noch zu Shahjahans Zeiten an die östlichen Mauern des Forts reichten, hatten ihren Lauf verändert. Von den Zinnen des Forts blickte der Besucher nun auf die staubige Landfläche, die im Lauf der Jahrhunderte zwischen die Mauern des Forts und dem Fluss angeschwemmt worden war. Hier trockneten die Dhobbiwallahs ihre Wäsche, dort grasten die Kühe und an einer anderen Stelle reparierte ein Rikschawallah sein Gefährt. Ein kleiner Wald versperrte den Blick auf das Gandhi Memorial im Südosten, jenem Ort, an dem nach der Ermordung Gandhis im Jahre 1948 eine Million Menschen der Einäscherung des Mahatmas beigewohnt hatten. Nur die Ring Road, die stark frequentierte große nördliche Ausfallstraße Delhis, konnte man von den Zinnen des Roten Forts aus beobachten: Kühe, Kamele, Fußgänger, Fahrräder, Busse und Lastwagen bewegten sich wie eine Karawane langsam über den Horizont.

       VIII Krishna wird die Yamuna retten

      

       Mathura und Vrindaban

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      Sie kamen aus Etawah und Agra, von Tudna und Shikodabad, manche waren einige Tage, andere schon einige Wochen auf der Straße. Die meisten waren zu Fuß unterwegs, ihren Henkelmann in der Linken und in der Rechten einen Wanderstock, eine Fahne oder ein Plakat mit einem Götterbild. Schon lange bevor Mathura erreicht war, hatten sie den Verkehr behindert, Bahnübergänge blockiert und bereits die ersten Auseinandersetzungen mit der Polizei durchgestanden. „Bull Power“ stand auf einem großen Transparent über einem von zwei Rindern gezogenen Karren, und an beiden Seiten des Gefährts waren Bilder eines dunkelhäutigen Gottes befestigt. Es ging um Krishna,