Ludwig Witzani

Indische Reisen


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Indien ist voller Krishnas – Krishna der Hirte, der mit den Gopis scherzt, Krishna der Held, der den bösen König Kamsa tötet, Krishna der Liebhaber der wunderbaren Radha, Krishna, der Wagenlenker Arjunas und der Verkünder der Baghavad-Gita. Krishna ist allgegenwärtig - als Murti in den Tempelschreinen, als Idol auf dem Armaturenbrett unseres Busfahrers, als Götterbildchen in der Brieftasche des Teppichhändlers und als Parole aller Menschen, die sich gegen Unterdrückung wehren. Millionenfach abgebildet in allen nur denkbaren Erscheinungsformen gleichen die immer neu erzählten Krishna-Legenden kollektiven Beschwörungen einer idealen indischen Welt, in der die Wiederherstellung der Gerechtigkeit, der Gewinn der vollkommenen Liebe, aber auch die friedvolle Wiedervereinigung mit Gott endlich zur Deckung kommen.

      Die Bauern, Händler, Mönche und Tagelöhner, die über Hunderte von Kilometern durch Uttar Pradesch nach Delhi wanderten, protestierten im Namen Krishnas gegen den Tod der Yamuna. Denn die Yamuna, einer der heiligsten Ströme Indiens, die im Himalaja entspringt, Delhi und Agra durchfließt und sich im Süden bei Allahabad mit dem Ganges vereinigt, war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Seitdem der Harikundh-Staudamm nördlich von Delhi das frische Wasser der Yamuna umleitete, war der einst so prachtvolle Strom zum Rinnsal geschrumpft, aufgefüllt nur noch durch den Regen und die Abwässer der Millionen, die an den Ufern des Flusses lebten. Das Wasser der Yamuna, von dem es hieß, es würde die Sünden abwaschen und das Karma verbessern, machte nun krank: Es transportierte eine katastrophale Fracht von Kolibakterien, die keine Kläranlage mehr eliminieren konnte. Schon seit Jahren wurde alles, was mit diesem Wasser in Berührung kam oder aus ihm bestand, beeinträchtigt, verdorben, unbrauchbar – die Salate, das Obst, das Trinkwasser - und alle Versprechungen der Regierung, endlich Abhilfe zu schaffen, waren nicht eingehalten worden.

      Kurz vor Mathura brach der Verkehr unter dem Ansturm der Demonstranten endgültig zusammen. Es ging nur noch meterweise voran, der Busfahrer fluchte und hupte, ehe er resignierte, die Türen öffnete und die Fährgäste aufforderte, den Rest der Strecke bis zur Innenstadt zu Fuß zu gehen. Ich hatte nicht mehr als eine Reisetasche dabei, die ich bequem über der Schulter tragen konnte, und so machte es mir wenig aus, mich in die Menschenmenge einzureihen und ihr bis in die Innenstadt zu folgen. Links und rechts von mir gingen Jugendliche, die aussahen, als kämen sie geradewegs aus der Schule, zahlreiche Frauen waren unterwegs, grazil und entschlossen marschierten sie neben ihren Männern, kräftigen Kerlen mit Lederhaut und groben Knochen, die mit ihren unempfindlichen Sohlen über alle Unebenheiten der Straße hinwegschritten. Über der Menge, die sich wie eine zähflüssige Schlange aus Menschenleibern in die Innenstadt drängte, wehten die gelben Fahnen Krishnas, hin und wieder erklangen Gesänge, dann wurden Parolen rhythmisch skandiert, Trommel waren zu hören, Fäuste wurden geschwungen. Befand ich mich nun in einer Demonstration oder einer Prozession - oder ist das in Indien womöglich das Gleiche?

      Anstatt die Umgehungsstraße zu benutzen, hatte der Großteil der Demonstranten den Weg mitten in die Altstadt von Mathura eingeschlagen, um vor dem Sri-Krishna-Janmaboouni-Tempel zu demonstrieren. Hatte nicht auch Lord Krishna in den altvorderen Zeiten die tyrannische Obrigkeit in Gestalt König Kamsas besiegt und die Stadt Mathura befreit? Vorher war er nach dem Glauben seiner Anhänger jedoch in einer Kerkerzelle geboren worden – jener Kerkerzelle, die als Sanktuarium heute das Herz des Sri-Krishna-Janamboouni-Tempel bildete. Deswegen wollte auch ich diesen Tempel besuchen, doch als ich die Massen erblickten, die sich in hoffnungsloser Verkeilung vor Treppe und Tempeleingang pulkten, drehte ich in eine der zahlreichen Seitengassen ab. Für den Tempel war später noch Zeit, nun stand mir erst einmal der Sinn nach einer vernünftigen Unterkunft.

      Doch Mathura war kein typisches Travellerziel, und die Guesthäuser, von denen es in Agra und Delhi so reichlich gab, suchte man hier vergebens. Aber auch die normalen Hotels waren ausgebucht bis auf das letzte Bett, was mich nicht überraschte, als ich auf den Kalender blickte. Der indische Monat Phalguna war angebrochen, und übermorgen würde das gesamtindische Holifest beginnen, während dessen das ganze Land in eine temporäre Heiterkeitsraserei verfallen würde. Alle Familien, die es sich leisten konnten, begaben sich an diesen Tagen an einen prominenten Ort, um das Fest stilvoll zu begehen.

      Beim Holifest handelt es um eines der zahlreichen Frühlingsfeste, die alljährlich in den unterschiedlichsten Formen in Indien begangen werden. Wo sich in Thailand die Menschen zum Frühjahresanfang gegenseitig mit Wasser begießen, wo in Rumänien die Jungen zur Osterzeit die Mädchen mit Parfüm einstäuben, bekleckern sich die Inder in den Tagen unmittelbar nach dem Vollmond des Monats Phalguna einige Tage lang mit möglichst knalligen Farben. Früher handelte es sich dabei um Pflanzenextrakte, heute wird vorwiegend synthetisch hergestelltes Farbpulver verwendet. Kennzeichnend für das indische Holifest ist der strikt kastenübergreifende und sogar religionsübergreifende Charakter des öffentlichen Treibens, das man sich als einen gesamtindischen Schabernack vorstellen muss, der vollkommen Fremde, aber auch Freunde und Bekannte mit einbezieht. Obwohl die oft überfallartigen Akte des Einfärbens etwas durchaus Offensives besitzen, läuft das Holifest meist friedlich ab – Touristen werden fast immer in Ruhe gelassen, und wenn sie partout darauf bestehen, an den heiteren Ausschreitungen teilzunehmen, nur sehr zurückhaltend eingepudert. Die religiöse Anbindung des Holifestes ist in den verschiedenen Teilen Indiens uneinheitlich - allgemein anerkannt allerdings ist eine Verbindung des Holifestes zu den Legenden über den jungen Krishna, der als einer der ersten auf den Wiesen des Braja Mandal im Umkreis von Mathura und Vrindaban seine Gefährten mit dergleichen Neckerei unterhalten haben soll. Deswegen waren die Unterkünfte in Mathura für dieses Wochenende schon seit langem ausgebucht.

       In dieser Situation blieb nur noch ein letzter Ausweg, den man unter normalen Umständen tunlichst vermeiden sollte. Ich ging zu einem pfiffig dreinblickenden Rikschafahrer und fragte ihn: „Do you know a hotel?”, inständig hoffend, dass er neben der Intelligenz, die ihm aus den Augen blickte, auch ein Minimum an Mitgefühl für einen einsamen Reisenden würde aufbringen können und sein Angebot nicht gar so schrecklich wäre.

      „Sure“, antwortete er in gebrochenem Englisch mit einem tückischen Blitzen in den Augen, das mir nicht entging. „Hotels in Mathura full, but I have a chance for you.”

      Erwartungsgemäß führte die Rikschafahrt aus dem Zentrum Mathuras wieder heraus, weit weg von der Yamuna, deren Ghats ich doch eigentlich hatte besuchen wollen, in eine dicht bebaute Vorstadtgegend, in der sich die Häuser, die ich sah, in zwei Kategorien einteilen ließen – in die Häuser, welche noch nicht fertig waren und die, welche bereits dabei waren, zu verfallen. Vor einem Gebäude der zweiten Kategorie, einem großen Haus mit Hof, stoppte mein Guide, klopfte an einer massiven Holztüre und erklärte sein Anliegen einem Mann in mittleren Jahren, der mit einem langen weißen Gewand im Türrahmen erschienen war. Ich saß derweil in der Rikscha und musste mit ansehen, dass auf mich wie auf eine Jagdtrophäe immer aufs Neue gezeigt wurde. Offenbar verhandelten der Rikschafahrer und der Hausbesitzer über die Provision, und mutmaßten, wie viel man von mir würde abzapfen können. Als sie einig geworden waren, winkte mich der Hauseigentümer mürrisch herbei und öffnete ein Eisengatter zu einem Hof, in dem sich vier Räume befanden, die je ein Fenster zum Hof und ein Bett aufwiesen und von denen mir eines als Unterkunft angedient wurde. Das Bett bestand nichts weiter als aus einem Rost und einer dünnen Matratze neben der ein Bettlaken lag, das nur im Buchungsfall zum Einsatz kommen würde. Kissen, Handtücher oder Toilettenpapier waren natürlich nicht vorhanden. Der Boden war dreckig, die Wände bekritzelt, es befand sich noch nicht einmal ein Stuhl im Raum, von einem Tisch ganz zu schweigen. Eine einsame Birne hing an einem kümmerlichen Draht von der Decke, das Bad besaß keine Türe und bestand nur aus einem Loch im Boden und einem Loch in der Wand, aus dem bei Bedarf ein mickriges Wasserrinnsal träufelte. Immerhin besaß der Raum eine massive Holztüre mit einem gewaltigen Schloss - kräftig genug, all jene Schätze zu hüten, die in diesem Zimmer wohl niemals gelagert werden würden.

      Auf der nach unten offenen Skala meiner katastrophalsten Unterkünfte besaß dieses Angebot sogar innerhalb eines asienweiten Rankings Seltenheitswert - aber das Zimmer schien ruhig zu sein, und am nächsten Morgen würde ich ohnehin so früh wie möglich verschwinden. Der Preis, der mir genannt wurde, war unverschämt, wurde aber, als ich mich zum Gehen wandte, halbiert. Nach der Entrichtung der Vorkasse erhielt ich den Schlüssel zu dem besagten monumentalen Schloss,