Ludwig Witzani

Indische Reisen


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Ich habe in den Bergen bei Yamunotri begonnen, ich habe die nördliche Ebene durchwandert und möchte bis zur Sanga von Allahabad pilgern, wo sich die Yamuna mit der Mutter Ganga vereinigt.

      Und warum wanderst du ausgerechnet die Yamuna entlang?

      Chaitanya Mahaprabu, der wiedergeborene Krishna, hat die Yamuna geliebt, sagte Matic.

      Er hat den Fluss gepriesen als Quelle für Vergebung und Zuversicht. Jeder, der die Tugend sucht, ist an ihren Ufern willkommen. Matic hatte den Namen Chaitanyas Mahaprabus mit höchster Ehrfurcht ausgesprochen und den Kopf gesenkt.

      Aber es geht dem Fluss nicht gut, wandte ich ein. Er soll schrecklich verunreinigt sein.

      Das stimmt, antwortete Matic nach einer kurzen Pause. Kaliyuga befleckt alles. Alles wird in Mitleidenschaft gezogen, alles wird vergiftet. Selbst die Yamuna leidet.

      Ich schwieg. Die Sonne war noch tiefer gesunken, und das Wasser erstrahlte in einem trügerischen Glanz.

      Ich habe in Harikundh gesehen, wie das frische Wasser der Yamuna nach Westen umgeleitet wurde, fuhr Matic fort. Ich habe das fast leere Flussbett gesehen, aus dem die Raffgierigen nicht davor zurückschreckten, dem Fluss selbst noch seinen sandigen Untergrund zu rauben. Und ich habe die Zuflüsse gesehen, die Abwässer und den Müll, die in Delhi in das Flussbett gelangten. Ich habe vor Freude geweint, als der Monsun hereinbrach und den Fluss wieder mit frischem Wasser füllte. Ich habe vor Zorn geweint, als ich an den Kläranlagen vorbeikam und sah, dass sie nicht in Betrieb waren. Nun bin ich in Vrindaban, um Krishna zu bitten, die Yamnua zu retten.

      Wie soll das geschehen?

      Krishna hat dereinst die Schlange Kalyia getötet, er hat die Welt von ihrem Gift gereinigt, und er wird auch die Yamuna von den Giften, die sie verpesten, erlösen.

      Ohne Kläranlagen?

      Matic drehte den Kopf und blickte mich an. Natürlich benötigt man dazu auch Kläranlagen, natürlich darf auch im Norden nicht mehr so viel Wasser umgeleitet werden. Aber Chaitanyia Mahaprabu, der wiedergeborene Krishna, sagt: Das gemeinsame Chanten des heiligen Namens Sri Krishnas reinigt unser Herz, es heilt die Geschwüre der Welt. Und darum frage ich: Warum sollte das Chanten des heiligen Krishna-Namens nicht auch in der Lage sein, die Yamuna zu retten?

       IX Irgendwann kommt jeder einmal nach Agra

      

       Geschichte und Gegenwart einer indischen Kaiserstadt

      

Bild

      Rajiv war zweiundzwanzig Jahre alt und ein Bild von einem Mann. Stattlich und schlank, groß gewachsen und sportlich war er, was die Hautfarbe betraf, genauso dunkel, wie man es im Westen mochte, aber noch hellhäutig genug, um in Indien als Angehöriger der oberen Kasten durchzugehen. Andererseits hatte Rajiv mit Kasten überhaupt nichts am Hut. Dass seine Eltern Schuhmacher waren, interessiert ihn nicht, und er hatte sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Seitdem er die Schule geschmissen hatte, lebte und arbeitete er im Touristenviertel Taj Ganj in unmittelbarer Nachbarschaft des Taj Mahal. Seit einem halben Jahr war er die rechte Hand vom „Boss“, dem Eigentümer des Kara Guesthouses, in dem sich die Individualtouristen das ganze Jahr über die Klinke in die Hand gaben. Hier war Rajiv goldrichtig, denn wo sich viele Touristen aufhielten, fiel außer der Reihe immer etwas ab - eine Provision hier, eine Dienstleistung dort, wahrscheinlich auch der eine oder andere kleinere Drogendeal, wer wollte das so genau wissen?

      Ich saß auf der Dachterrasse des Kara Guesthouses und frühstückte. Toast mit Marmelade, dazu zwei Spiegeleier und Kaffee. Was hatte dieses Essen mit Indien zu tun? Nichts, aber Taj Ganj war auch nur in einem sehr eingeschränkten Sinne Indien – es war vielmehr eine der zahlreichen Filialen des internationalen Backpackertourismus, in denen der Umgangston, die Musik, das Essen und der Dresscode um einen diffus definierten Mittelwert pendelten, der sich am besten mit zwei Worten beschreiben ließ: easy and cheap. In diesem Umfeld hatte sich Rajiv nicht nur von seiner Herkunft sondern auch von der indischen Küche emanzipiert. Wie die Gäste aß er alles und glaubt an nichts. Vishnu und Shiva hielt Rajiv für Hokuspokus, aber auch mit Jesus, Buddha und Allah konnte er nichts anfangen. Er verehrte stattdessen seine Vespa, die er auf eine nicht ganz saubere Weise finanziert hatte. Denn der schöne Rajiv war der Liebling der allein reisenden jungen Frauen, die das Kara Guesthouse ansteuerten wie die Tauben auf Wanderschaft, und eine unsterblich in ihn verliebte Kanadierin hatte ihm das Geld für ein Flugticket nach Toronto geschickt. Mit diesen kanadischen Dollars war die Finanzierung einer gebrauchten Vespa kein Problem mehr gewesen. Der Flug nach Kanada musste halt warten.

      Ich bestellte noch einen Kaffee und blickte über die Häuserdächer von Taj Ganj. Nur der Himmel wusste, wie es möglich gewesen war, dass in der besten Lage der weltberühmten Stadt Agra dieses Billighotelviertel hatte entstehen können. Die Straßen von Taj Ganj waren staubig und eng, die Märkte ärmlich, die Rikschastände überfüllt, aber das Taj Mahal lag buchstäblich vor der Haustüre. Allein das zählte. Beim Morgenkaffee auf der Terrasse einen Blick auf die Umrisse dieses Weltwunders werfen zu können, war für den normalen Individualtouristen einfach ein unschlagbarer Kracher. Ganz konnte man das Gebäude zwar nicht sehen, dafür war das Eingangsportal zu hoch, doch ein Teil der Kuppel und ein Minarett waren gut zu erkennen.

      Alle Tische auf der Terrasse waren besetzt. Meistens saßen Paare zusammen, aber auch allein reisende Frau waren anwesend - zwei Australierinnen, eine Dänin und eine hübsche Schweizerin, die sich eine Zigarette nach der nächsten ansteckte. Doch ganz gleich wie sie aussahen oder was sie machten – alle wurden vom schönen Rajiv mit Charme und Aufmerksamkeit bedient. Die Damen dankten es ihm mit reichlich Trinkgeld, denn so blendend weiße Zähne, wie sie Rajiv bei seinem Lächeln zeigte, hatten sie lange nicht mehr gesehen. Inzwischen reichte Rajivs Englisch sogar für den einfachen Basisflirt, den Rest erledigte sein gutes Aussehen. Der Boss hatte nichts dagegen, solange es dem Geschäft nicht schadete.

      Und Guesthäuser in Taj Ganj waren tatsächlich ein gutes Geschäft. Die Kundschaft erschien zuverlässig über das ganze Jahr hinweg, war bedürfnislos und dankbar, wenn die Dusche lief und das Bett nicht zusammenbrach. Es war ein juveniler Querschnitt aus den westlichen Ländern, der allmorgendlich auf den Dachterrassen von Taj Ganj Müsli, Pancake oder Sunny Side Eggs bestellte - angereichert neuerdings mit immer mehr Ostasiaten, die auf der Grundlage ihrer steigenden Kaufkraft nun auch Südasien erkundeten. Mr. „Not for me“, den ich zum ersten Mal in Delhi getroffen hatte, war ebenso da wie Pierre, der nun schon seit Jahren kreuz und quer durch Indien reiste und sich in jeder neuen Stadt erst einmal einen Joint gönnte, um sich zu akklimatisieren. Irgendwann einmal kommt jeder nach Agra, sagen die Wirte von Taj Ganj, denn die Stadt bietet dem Indienreisenden gleich zweierlei: das geballte Erlebnis von seinesgleichen, nach dem auch der härteste Traveller in der Fremde mehr lechzt als er zugeben möchte, und einen der kulturell attraktivsten Orte ganz Indiens.

      Tatsächlich gehört Agra von außen betrachtet zu den berühmtesten Städten Asiens. Im Rahmen einer im Jahre 2007 weltweit durchgeführten Befragung über die „Neuen Weltwunder“ belegte die Kaiserstadt der Mogulherrscher neben der Chinesischen Mauer und dem peruanischen Machu Pichu den ersten Platz. Indienintern liegt Agra ohnehin ganz weit vorne – kein Indiennovize, der nicht zuerst und vor allem nach Agra und dort schnurstracks zum schönsten Gebäude der Welt fahren würde: zum Taj Mahal. Längst hatte die jährliche Gesamtzahl der Besucher, die als Backpacker, als Gruppenreisende aus Übersee oder als Inlandstouristen die Stadt besuchten, die Millionengrenze überschritten, und wie viele es aktuell waren, wusste niemand. Das war eigentlich die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht war, dass mit dem hemmungslosen Anwachsen des Massentourismus die traditionelle indische Gastfreundschaft in Agra zum Teufel gegangen war. Nicht, dass die Bewohner von Agra schlechter oder besser gewesen wären als die Einwohner von Madras oder Madurai - doch die Begleiterscheinungen des Massentourismus hatten ganz einfach die Sitten verdorben. Wo der normale Inder in seiner freundlichen Bereitwilligkeit einen nach dem Weg fragenden Touristen oft höchstpersönlich zu dem erfragten Ort geleitete,