Markus Sturm

Jakob der Träumer


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mal hier, mal da, mal dort, und habe keine Ahnung, wieso, warum, weshalb. Ich komme nicht zu allen. Doch zu wem komme ich? Ich weiß von diesen würfelnden Göttern, weiß, wie es war, wie es gewesen ist und wie es sein wird. Weiß vieles, nahezu alles. Weiß vom Gestern, vom Morgen, vom Heute, weiß vom Menschen. Vom Tun, vom Kommen, vom Leben, vom Gehen, vom Sterben, weiß von allem. Aber ich weiß nicht, weshalb alles so ist.“

      „Weshalb Sie auf mich warten, und weshalb nicht auf einen anderen?“, fragte Frank.

      „Weshalb Sie, und weshalb nicht ein anderer.“

      „Diese Frage hat für mich eigentlich keine Bedeutung. Ich weiß, weshalb. In dem Augenblick, als ich es getan habe, war klar, wie es enden würde. Und ich habe es dennoch getan. Ich konnte nicht anders. Ich musste es tun.“

      „Und tragen die Konsequenz. Nun sind Sie hier. Aber warum waren Sie dort? Gerade Sie und nicht ein anderer? Wie viele Millionen und Abermillionen Menschen gibt es? Und warum waren Sie es gerade? Und warum also bin ich hier? Wo ist der Plan?“

      „Es war mein Risiko. Es war meine Entscheidung.“

      „Ihre Entscheidung. Sind Sie sicher?“

      „Sie meinen, Er hätte es gesteuert? Oder es gäbe einen guten Grund, dass ich es gewesen bin? Und Sie bei mir sind? Gerade ich?“

      „Genau das weiß ich nicht.“

      „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Er mich gesteuert hat. Ich kann nicht einmal sagen, dass ich es bereue. Trotz der Folgen. Ich stehe noch immer zu dem, was ich getan habe. Und daher denke ich, dass es meine Entscheidung war.“

      „Meinen Sie wirklich? Ich habe einmal jemanden gekannt, vor langer Zeit, der auch zu seiner Entscheidung gestanden ist. Trotz der Folgen. Aber ob es tatsächlich nur seine Entscheidung war?“ Der Tod blickte nachdenklich, ein wenig gedankenverloren. Sein inneres Auge war starr in die Vergangenheit gerichtet. Er dachte zurück, an eine Geschichte längst vergangener Tage. Eine Geschichte, die er nicht erzählen hatte wollen. Aber Geschichten wollen erzählt werden. Vor allem nachts, unter Männern. Eine Bar. Zwei Stühle. Zwei Gläser. Zwei Männer. Schneeball und Lawine. Geschichten.

      Leben

      Es war einmal ein Apfel. Der hing in der Gegend herum, auf seinem Baum, schaute sich um, sah sich von vielen anderen Äpfeln umgeben, und wie er da so von seinem hohen Ast aus alles betrachtete, merkte er, dass er anders sein wollte. Er beobachtete bereits seit geraumer Zeit seine Mitäpfel, ihre roten Bäckchen, ihre freudig erregten Wangen. Wie sie da so hingen in der Sonne, nett, lieblich anzuschauen, zum Anbeißen. Sie wuchsen und gediehen, genossen ihr Dasein, genossen diese Idylle, in der sie ihre Stunden verbringen durften. Sie reiften, entwickelten sich, und wenn es genügte, fielen sie zu Boden, schlugen auf mit sattem Geräusch. Doch niemand nahm von ihnen Notiz, und es schien, als würde das so bleiben, denn keiner der Äpfel machte Anstalten, Großes zu wollen, oder gar Großes zu tun. Sie beschäftigten sich mit dem ausschließlichen Sein, das heißt, sie waren, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, warum sie waren. Sie dachten nicht über Tiefsinniges nach – woher komme ich, wohin gehe ich, wer bin ich, was mache ich hier -, sondern aßen und tranken das Licht der Sonne, ohne zu hinterfragen, was denn unten sei, unten, am Fuße des Baumes in der Mitte, und warum es sei. Natürlich besuchte die Äpfel das eine oder andere Mal ein Vogel, oder in noch schlechteren Momenten ein Wurm, die von ihnen fraßen, oder sie aushöhlten, aber ansonsten ließen sie sich nicht von der Unbill des Lebens erschüttern. So waren sie´s zufrieden. Das Leben zog an ihnen vorbei, sie kümmerten sich um nichts, außer um sich selbst, und ließen es gut sein. Sie standen sich selbst am nächsten, ein wenig eigensinnig, ein wenig stur, ein wenig charmant. Sie neigten dazu, sobald irgendeiner aus ihrer Runde seine Bäckchen ein wenig weiter nach vorne streckte, sich ein ganz kleines bisschen hervortun mochte, sich aus der Menge abheben wollte - mehr, als es die anderen taten - ihn mit einem leichten, freundlichen, fast unbemerkbaren Wanken der Äste abzuschütteln, ihn hinab zu befördern. Sie wiegten sich hin, wiegten sich her, wiegten ihn ein, den einen anderen, sich aus der Menge hervorhebenden Apfel, und ehe sich dieser versah, der träumte, anders zu sein: ein Fall. Auf den Boden. Dorthin, wo allerlei Getier wartete. Krabbelte, wandelte, schlängelte. Und fraß. Alle Äpfel bildeten das perfekte Mittelmaß. Und sahen es gar nicht gerne, wenn etwas oder jemand dieses Mittelmaß störte, es aus dem Gleichgewicht brachte. Sie liebten das Mittelmaß und lehnten das Besondere ab, das Fremde, Andere, Unbekannte. Sie hielten sich in der Mitte, vermieden es, Position zu beziehen, Meinung zu vertreten, außer beim Schimpfen. Das liebten sie auch. Wenn sie einfach losschimpfen konnten, ohne etwas begründen, ohne etwas wissen zu müssen - ja, sie glaubten sogar das Wissen hindere sie am Schimpfen -, dann zeigten sie ihre Meinung. Aber nur dann. Ansonsten blieben sie vage, trachteten danach, niemanden zu verletzen, fürchteten, zu nahe zu treten, wenn sie über ihre Gedanken sprächen, ihre Ideen. Behielten diese für sich. Wussten, kannten und konnten auch nichts. Sprachen im Allgemeinen nicht. Außer sie schimpften. Am liebsten schimpften sie über das Fremde, das Unbekannte, das Besondere, von dem sie, da sie sich nur um sich selbst kümmerten, nichts wussten, nichts wissen wollten. Sie interessierte nur das Mittelmaß.

      Dennoch war unter ihnen einer. Und diesem einen Apfel, der sich unter seinesgleichen nicht recht wohl fühlte, der meinte, anders zu sein, oder der zumindest anderes vom Dasein erwartete, als Licht, Sonne, Wachstum, dem fehlte etwas. Allerdings konnte er nicht genau sagen, was es war. Er begutachtete die Landschaft, betrachtete das, was ihn umgab, schließlich bot ihm sein erhöhter Platz auf dem Baum eine vernünftige Übersicht. Er betrachtete die ersten gelungenen Experimente Irgendwers, betrachtete Bäume, Blätter, Vögel, Fliegen, Seetiere, Kriechwesen. Im Übrigen philosophierte er, wie es denn sei, da draußen, in dieser paradiesischen Welt, überlegte, ob er sich auf jemanden, der vorbeikam, werfen, sich fallen lassen sollte, nur um von diesem Ast fortzukommen, hinfort getragen zu werden, aus diesem Mittelmaß herauszutreten. Doch viel geschah noch nicht in diesen frühen Tagen. Niemand näherte sich dem Baum der Mitte. Niemand beachtete ihn. Der Apfel wartete weiter, die Stunden waren zäh, ebenso zäh, wie sich später die weniger gelungenen Experimente Irgendwers erweisen mochten, die einfach nicht wieder zum Loswerden waren, die auf ihren beiden Beinen herumstolzierten und dabei gedankenlos alles zertraten, was kleiner und langsamer war als sie. Und irgendwo, am Rande, an einem Weiler, unter einem Baum, nicht ganz beteiligt, nicht ganz unbeteiligt, saß der Tod.

      Die Sonne strahlte über allem in diesen ersten Tagen, auch über ihm, dem dunklen Engel, nackt, bloß, eine Idee. Der Tod war noch nicht konkret geworden. Natürlich existierte er, musste existieren, schließlich existierte auch das Leben. Doch das wurde einfach so hingenommen, würde nie eigene Gestalt in dem Sinne, in der Intensität erhalten, wie es dem Tod zuteil wurde. Der Tod faulenzte nicht unter dem Baum. Er wartete, denn dort, in jenen gedankenverlorenen Stunden, war er einfach, obschon seiner Dienste in jenem Augenblick niemand und auch nichts bedurfte. Er war, auch, wenn er untätig war. So konnte er tatsächlich unter einem Baum an einem Weiler ein wenig Schatten suchen. Der Tod hatte die Augen geschlossen, nackt und bloß saß er da, entspannt, wissend, was geschehen würde.

      Zu seinen Füßen lag sein bester Freund, die Beine weit von sich gestreckt, in der prallen Sonne auf einem kleinen Felsen, dösend, das Leben genießend: Herbie, die Schlange, war tatsächlich schlauer als die anderen Tiere des Feldes, genauso, wie dieses bestimmte Buch es später besagen würde. Der Tod mochte sie gerade deswegen so gerne, denn die Schlange, schlau wie es geschrieben steht in jenem Buch, akzeptierte ihn so, wie er war. Damals noch als etwas dunklerer Engel, nackt, bloß, eine Idee, auch dann noch ihm vertrauend und zu ihm stehend, als er sich verwandelt hatte. Der Tod war eben das Ende, wessen auch immer, sie stieß sich nicht daran, fürchtete nichts, und meinte, wenn es einen Anfang gäbe, eine Geschichte begänne, dann müsse sie auch enden, müsse es ein Ende geben. Irgendwann wahrscheinlich auch das Ende der Schlange, wobei diese das relativ sah, denn sie hatte ja schon ein Ende, wenn sie dann noch eines bekäme, und das sogar von einem Freund, na, dann noch besser. So lagen und dösten, saßen und plauderten sie den lieben langen Tag – Herbie konnte damals noch sitzen - im Garten und philosophierten. Über Irgendwer und seine Ideen, seine Experimente und das Eine, Neue, Eigenartige da, von dem Irgendwer immer wieder einmal im Vorbeigehen erzählte, vor sich hinmurmelnd,