Ben Worthmann

Etwas ist immer


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aber mehr auch nicht. Anna, meine Frau, billigt allerdings selbst diese dezent entwickelte Neigung nur in begrenztem Maß. Immer einmal wieder hält sie mir vor, ich schwebte in den Wolken und hinge zu sehr gewiss anspruchsvollen, aber letztlich doch unnützen Überlegungen nach, währenddessen sie sich mit dem gesamten verbleibenden Rest herumzuschlagen habe.

      Ich tue solche Kritik nicht leichtfertig ab, aber ich halte sie doch für nicht ganz fair. Immerhin bin ich es, der sich beispielsweise seit eh und je um die Steuererklärungen kümmert, indem er konstruktive Gespräche mit unserem Steuerberater führt und diesem die erforderlichen Unterlagen zukommen lässt. Anna hat bis heute nicht realisiert, dass wir seit langem einkommensteuerpflichtig sind und redet immer noch vom „Lohnsteuerjahresausgleich“, ein Wort, das sie vermutlich in ihrer Kindheit irgendwo aufgeschnappt hat. Ich habe seinerzeit sogar eigenhändig und nahezu ohne fremde Hilfe sämtliche Formulare für den Bauantrag ausgefüllt, obschon mir so etwas überhaupt nicht liegt. Außerdem führe ich regelmäßig den Hund aus, jedenfalls seit wir neuerdings einen besitzen und soweit ich dazu die Zeit habe, und am Wochenende decke in den Frühstückstisch.

      Als das Jahr des Löchergrabens anbrach, hatten wir das Gefühl, uns eigentlich recht erträglich im Leben eingerichtet zu haben. Die Geschichte liegt schon eine gewisse Zeit zurück. Anna war vierunddreißig, ich siebenunddreißig, und unsere Söhne Max und Paul waren zehn und sieben. Wir waren eine richtig ansehnliche kleine Sippe – ein hübsches Paar, wie die Leute zu sagen pflegten, mit zwei wohlgeratenen, aufgeweckten Kindern. Wenn man sich die Fotos von uns ansieht, die damals im Urlaub an der Ostsee und bei uns im Garten gemacht wurden, denkt man: Na, was wollen die mehr? Eine sehr attraktive, mädchenhafte blonde Frau und ein kräftiger, ziemlich maskuliner Mann, zwei schlanke, hellhaarige Engel von Söhnen – vier strahlende Gesichter und eine Aura von Sonnenschein, der aus der Seele kommt.

      Das mag jetzt ein wenig selbstgefällig klingen, aber so ist es nicht zu verstehen. Es war einfach so, dass wir einigermaßen zufrieden mit uns sein konnten und es auch waren, und das konnte man uns ansehen. Und was sonst noch ist, sieht man auf solchen Fotos ja sowieso nicht.

      Ich bezog ein ansehnliches Einkommen und wir lebten angemessen: auf etwas gehobenem Niveau, vor allem, was Bildung und Geschmack angeht. Wir legten Wert darauf, dass unsere Kinder beizeiten Klavierunterricht erhielten. Wir gingen regelmäßig ins Theater und pflegten ein alles in allem sehr erfreuliches Sexualleben. Im Grunde genommen hätten wir es gar nicht nötig gehabt, ein Haus zu bauen, so wenig, wie wir es nötig hatten, aus Statusgründen eine bestimmte Automarke zu fahren. Nach wie vor ziehe ich unseren Volvo jedem Mercedes oder BMW vor, weil er einfach perfekt die Idee des Understatement verkörpert. Unsere Mietwohnung – mit Terrasse und eigenem Garten – war wirklich groß genug für uns, und der Mehrwert an Sozialprestige, den manche Leute mit dem Besitz eines Hauses verbinden, interessierte uns ziemlich wenig. Wir hatten, um es einmal so zu sagen, in unserem Dasein andere Prioritäten gesetzt als jene, die im strikt konventionellen Sinne zu gelten pflegen, was aber auch wieder nicht heißen soll, dass wir unbürgerlich lebten. Wir lebten nur etwas ungezwungener, etwas legerer, eben wie Leute, die Ende der Sechzigerjahre erwachsen geworden sind, ohne sich deswegen schon als ausgesprochene Achtundsechziger zu betrachten. Allerdings hatte ich auch nichts dagegen, wenn mich bestimmte Leute als „alten Achtundsechziger“ apostrophierten und mich dabei anguckten, als sei es ihnen völlig unbegreiflich, dass jemand in meinem Alter immer noch nicht richtig etabliert war. Manchmal wartete ich nur auf solche Situationen, um dann mit müdem Lächeln darauf hinzuweisen, dass es ganz und gar müßig sei, mich in irgendwelche Schubkästchen einordnen zu wollen.

      Wer oder was ausgerechnet uns auf den Gedanken verfallen ließ, ein Haus zu bauen, haben wir im Nachhinein manchmal zu rekonstruieren versucht. Vielleicht war es, wenn man so will, doch ein gewisser unterschwelliger kompensatorischer Wunsch nach Konvention oder auch nur die Lust am trotzigen Kontrast zu den sonstigen, eher lässigen Inszenierungen unseres Daseins – oder womöglich auch von beidem ein bisschen. Als Hausbesitzer, dachte ich bisweilen, kannst du immerhin offen zeigen, wie wenig dir an Besitz liegt, indem du beispielsweise den Vorgarten verkommen oder den Zaun verrotten lässt, sodass die Nachbarn missbilligende Blicke herüberwerfen. Aber es war beileibe nicht so, als hätten derartige Fantasien mich nicht ruhen lassen und als hätte ich den wirklich dringenden Wunsch in mir gespürt, ein eigenes Haus zu haben. Im Grunde war es mir einfach egal, ob wir nun bauten oder nicht.

      Anna war schon deutlich stärker an der Sache interessiert. Aber letzten Endes ist es uns nie gelungen, die Frage der Anstiftung zu diesem Projekt vollständig aufzuklären. Wir stießen aber immer wieder auf Indizien, die in Richtung „die Familie“ im Allgemeinen und die Schwiegermütter im Speziellen wiesen, wie es wahrscheinlich oft so ist.

      „Wenn deine Mutter mit ihren spießigen Ansichten uns nicht dauernd in den Ohren gelegen hätte, hätten wir uns eine Menge Ärger ersparen können“, sagte ich dann und wann zu Anna und hatte damit zweifellos zumindest teilweise Recht.

      Sie erwiderte: „Wenn wird das Haus nicht gebaut hätten, hätten wir das ganze Geld für irgendwelchen Blödsinn verplempert und es wäre jetzt weg.“ Das hatte ebenfalls einiges für sich.

      Doch solche Dialoge endeten selten mit einer einvernehmlichen Schlussfolgerung. Man sollte überhaupt darauf hinarbeiten, den Konjunktiv irrealis völlig aus der menschlichen Kommunikation zu verbannen. Nichts Wesentliches bleibt ungesagt, wenn man alle Sätze mit „wenn“ und „hätte“ und „wäre“ einfach herunterschluckt. Im Sinne der Vermeidung unnötiger Streitereien wäre dies vielmehr eine vorzügliche Diät.

      Übrigens haben wir inzwischen noch einen Sohn, und auch dieser Umstand steht in einem zumindest zeitlichen Zusammenhang mit den Ereignissen des Sterbens, Erbens, Begrabens und Bauens in dem besagten Jahr.

      Einerseits angetrieben von dem Bemühen, der Wahrheit die Ehre zu geben, und andererseits darauf bedacht, nicht zu sehr ins Platt-Exemplarische abzugleiten, habe ich eine Weile gezögert, ob ich mir die Erwähnung dieser Familienvergrößerung im Zuge von Begräbnisfeiern und Richtfesten nicht lieber verkneifen sollte. Muss denn unbedingt, wo gestorben und gebaut wird, gleich auch noch neues Leben gezeugt werden? Es muss wohl. Tatsache bleibt jedenfalls, dass es so war. Ich kann es nicht ändern und will das auch gar nicht.

      Manchmal entwickelt sich eben alles etwas symbolhaltiger, als man ursprünglich beabsichtigt hatte. Aber während es sich ereignet, bemerkt man es ohnehin nicht. Erst hinterher, wenn man in vergilbten Alben blättert oder die alten Sachen durchwühlt, von denen man nie genau weiß, ob sie in die Umzugskiste gehören oder in den Müllcontainer, fällt einem auf, wie trefflich und passgenau sich doch alles zusammengefügt hat. Und dann sitzt man da zwischen all dem Zeug und hat plötzlich das Gefühl: Völlig klar, dass es so kommen musste, wie es kam, schon deswegen, weil sonst das Leben seinem Ruf nicht gerecht werden könnte, dass es die merkwürdigsten Geschichten im Zweifelsfall immer noch selbst auf Lager hat.

      Würde ich zum Beispiel sagen, dass, als unser Rohbau stand, mein Großvater, seine Schwester und sein Bruder unter der Erde lagen, so entspräche dies nicht ganz den Tatsachen. Zwar hätte es so sein sollen, denn alle drei waren schließlich tot und die in hiesigen Breiten übliche Beisetzungsmethode dürfte bekannt sein. Aber es kam etwas anders, und ohne den Geschehnissen allzu weit vorzugreifen, kann man sagen, dass die Umstände der Bestattung in einem Fall nicht von solcher Art waren, dass sich eine pauschale Feststellung wie „die drei lagen unter der Erde“ aufrechterhalten ließe.

      Kapitel 2

      Der Tag, an dem wir nach allerlei telefonischem Vorgeplänkel, den unvermeidlichen Konsultationen dieses oder jenes Experten sowie endlosen Beratungen im engsten Familienkreis – Teilnehmer: Anna und ich – zum ersten Mal beim Architekten saßen, um uns real existierende Baupläne anzusehen, war einer von diesen Tagen, an denen man schon morgens weiß, dass alles Mögliche passieren kann – man weiß nur noch nicht genau, was.

      Wir kannten Ernst Stawitzki bis dahin nur vom Telefon, und die persönliche Begegnung mit ihm bedeutete für uns einen gelinden Schock. Er war ein großer, massiger Mensch, etwa in meinem Alter. Er war nachlässig gekleidet und hatte fettiges Haar, und er drückte sich in einem etwas unbeholfenen Deutsch aus – diesem