Ben Worthmann

Etwas ist immer


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sein jüngster Sohn, war ein sehr spät gezeugter Nachkömmling und nur wenige Jahre älter als ich. Er trug zu Hause einen solchen Schaden davon, dass er sich veranlasst sah, Psychiater zu werden. Ich sah ihn zum ersten Mal auf der Beerdigung meines Großvaters. Da steckte er gerade in seiner analytischen Phase und war damit beschäftigt, den etliche Jahre zurückliegenden Tod seines verhassten Vaters aufzuarbeiten. Als ich kürzlich wieder von ihm hörte, hieß es, diese Phase sei zwar immer noch nicht abgeschlossen, doch sei ihr Ende mittlerweile in greifbare Nähe gerückt.

      Onkel Willi wohnte in einem Nachbarort von Mellingen und verdiente sein Geld als Vertreter im Stahlhandel. Auch er redete wie ein Kaplan, glich das aber teilweise dadurch aus, dass er filterlose Zigaretten rauchte, Whiskey trank, offene Autos fuhr und sich für damalige Verhältnisse ziemlich modebewusst kleidete, beispielsweise, indem er karierte Jacketts trug. Er hatte zwei Töchter, Lilly und Ellen, die vor allem dadurch auffielen, dass sie ein sehr umtriebiges Beziehungsleben führten, nicht nur für kleinstädtische Verhältnisse. Sie betrogen ihre Männer, ließen sich scheiden, heirateten wieder, lebten in diversen außerehelichen Liaisons und ließen Abtreibungen vornehmen. Onkel Willi ging angesichts solcher Sittenlosigkeit bei seinem eigenen Fleisch und Blut mit zunehmendem Alter dazu über, sich mit Alkohol zu betäuben. Schließlich liefen auch noch seine Geschäfte schlecht, seine Frau starb an Krebs und er wurde immer schwermütiger.

      Lilly, die ältere Tochter, tauchte damals gelegentlich bei uns auf, um meiner Mutter ihr verludertes Herz auszuschütten. Sie hatte zu jener Zeit ihre zweite Ehe hinter sich und war zeitweilig nach Hause zurückgekehrt. Es sei einfach nicht auszuhalten bei ihrem Vater, klagte sie. Der Kummer und der Suff taten das Ihre, um Willi mit Ende sechzig ins Grab zu bringen.

      Onkel Bernhard wurde auch nicht wesentlich älter, aber er überlebte alle anderen, da er mit weitem Abstand der Jüngste war. Von moralischen und finanziellen Sorgen blieb er weitgehend verschont, unter anderem deswegen, weil er es vorzog, keine Kinder zu zeugen, oder womöglich auch, weil er nicht fähig war, welche zu zeugen. Er baute sich ein Haus im Dorf, nur einen Steinwurf vom Haus der Eltern und Ziegen entfernt, und verdiente seinen Lebensunterhalt als gewerkschaftlich organisierter Elektriker in einer Fabrik in Mellingen. Sein hauptsächliches Interesse – und auch das seiner Frau – galt der Nahrungsaufnahme. Sie investierten sämtliche Einkünfte, einschließlich einer stattlichen Erbschaft, die ihr mütterlicherseits zufiel, in Lebensmittel. Jedes halbe Jahr schafften sie sich eine neue Tiefkühltruhe an, um Schweinehälften und Rinderkeulen einzufrieren. Und eines Tages bauten sie sich auch noch ein richtiges Blockhaus hinten in ihrem Garten, groß genug, um darin zu wohnen, aber sie bauten es einig zu dem Zweck, es ebenfalls mit Vorratsschränken und Kühltruhen auszustatten.

      Böse Zungen im Dorf behaupteten, Bernhard und seine Frau würden sich eines Tages „zu Tode fressen“. Und genau so kam es auch am Ende, wobei das Ende bemerkenswert lange auf sich warten ließ. Für eindeutige medizinische Diagnosen, die auf eine benennbare Krankheit als Todesursache hätten schließen lassen, reichte es in beiden Fällen nicht. Bernhard und seine Frau starben sozusagen mit vollem Mund, oder, anders gesagt, sie gaben den Löffel ab, während sie gerade mit Messer und Gabel hantierten, um ihren notorischen Futtertrieb zu befriedigen. Sie fielen gewissermaßen an der Fressfront und starben den Tod, den sie sich verdient hatten.

      Mein Großvater war das zweite von zehn Kindern eines Schmieds und der Tochter eines Bauern. Seine älteste Schwester sowie sein zweitjüngster Bruder starben im Säuglingsalter. Zwei von Zehn galt als ziemlich günstige Aufzuchtsquote, wenn man die Ausmaße der seinerzeitigen Säuglingssterblichkeit vor Augen hat. Ein Bruder fiel dann noch im Ersten Weltkrieg, ein weiterer stürzte als Monteur von einem Baugerüst und brach sich das Genick. Immerhin sechs Kinder des Schmieds und seiner Frau – mein Großvater, Herbert, Willi, Martha, Johann und Bernhard – erreichten somit ein mehr oder minder respektables Alter, das höchste mein Großvater, der als Viertletzter starb.

      „Er starb in Frieden nach einem erfüllten Leben“, lautete die Formulierung in der Todesanzeige, die wir im Mellinger Lokalblättchen aufgaben. Zu den Unterzeichnern gehörten Bernhard, der Fresser, sowie die fromme Tante Martha. Im Prinzip hätte auch Onkel Johann dazugehören müssen, doch der war gerade unabkömmlich – wie eigentlich immer, wenn es um Familienangelegenheiten ging.

      Kapitel 5

      „Anna ist nicht mitgekommen?“

      „Ach, weißt du, sie fühlte sich nicht so besonders, außerdem die Kinder...“ (Eine glatte Lüge. Sie fühlte sich, abgesehen von jener leichten situationsbedingten Traurigkeit, hervorragend nach unserer vorigen Nacht. Aber sie wollte einfach nicht mit, wie sie gleich angekündigt hatte, und ich verstand das nur zu gut. Und ich, ich wollte das alles nur so schnell wie möglich hinter mich bringen.)

      „Aber zur Beerdigung kommt ihr doch hoffentlich alle?“

      „Natürlich, klar. Wann ist denn die überhaupt?“

      (Als hätte ich nicht gewusst, dass man die Leichen traditionell drei volle Tage im Sarg stehen ließ, bevor man sie einscharrte, die Beerdigung also wohl am kommenden Mittwoch sein würde, wie ich mir ausrechnen konnte.)

      „Nächsten Mittwoch.“

      „Was meinst du, kann ich den Wagen so stehen lassen?“

      (Warum musste ich diese Frage ausgerechnet meiner Mutter stellen, die noch nie in ihrem Leben hinter einem Lenkrad gesessen hatte? Ich ging mir selbst auf die Nerven.)

      „Stell ihn doch lieber in die Einfahrt“, sagte meine Mutter. „Ich gehe schon mal wieder rein, die Nachbarn sind da. Ich habe übrigens, glaube ich, nicht genug im Haus. Könntest du schnell noch ein bisschen Bier besorgen?“

      Sie wirkte nicht übermäßig bedrückt – was mich kaum erstaunte –, aber was mich doch wunderte, war, dass sie nicht einmal mein neues Auto wahrgenommen hatte. Das heißt, eigentlich wunderte ich mich gar nicht. So war sie eben – eine eigentümliche Mischung aus Lethargie, Weltfremdheit und Ignoranz, was die meisten Dinge des täglichen Lebens anbetraf. Nun hatte sie, nachdem sie mit dreißig Jahren Witwe geworden war, ihren alten Vater

      „totgepflegt“, wie es hier auf dem Lande so schön hieß, ohne dass sich jemand etwas Hintersinniges dabei dachte, obschon es in dem einen oder anderen Fall von „totpflegen“ aus kriminalistischer Sicht sicherlich lohnend gewesen wäre, ein paar Nachforschungen anzustellen.

      Indem sie im Haus ihres Vaters die Zeit damit zubrachte, auf dessen Tod zu warten und ihm bis dahin das Essen zu kochen und seine Wäsche zu machen, hatte sich meine Mutter zweifellos eine Handvoll moralischer Meriten erworben, und dass sie dadurch außerdem in den Besitz des Hauses gelangte, empfand zumindest sie selbst als angemessene Belohnung.

      Unter anderen Bedingungen hätte ich jetzt wegen ihrer kognitiven Dissonanz bezüglich meines neuen Wagens wohl gern eine spitze Bemerkung gemacht. Aber so, nachdem Gevatter Tod eben erst zu Gast gewesen war und so etwas wie eine allgemeine Friedenspflicht das Gebot der Stunde war, verspürte ich keinen großen Drang, mit irgendjemandem herumzuzanken. Die ganze Situation war mir ohnehin höchst unangenehm. Ich will nicht gerade behaupten, dass ich bestürzt war angesichts des Ablebens jenes Mannes, in dessen Haus und unter dessen Obhut ich aufgewachsen war. Aber ein wenig ging mir das alles schon an die Nieren. Und ganz besonders erschreckte mich die Aussicht, in der kommenden Woche anlässlich der Beerdigung der versammelten Verwandtschaft begegnen zu müssen. Ich schätze Familienzusammenkünfte noch weniger als Beerdigungen, und wenn beides zusammenkommt, wie es bekanntlich meistens der Fall ist, sofern es sich bei dem Verstorbenen nicht um einen hoffnungslosen Außenseiter handelt, möchte ich am liebsten sofort das Weite suchen. Ich merkte deutlich, wie meine Stimmung immer schlechter wurde.

      Ich wendete und fuhr in Richtung Dorf. Der Gedanke, in die Stadt zu fahren, war mir ein Gräuel, obwohl das Bier dort im Supermarkt gewiss billiger war. Aber in der Stadt würden mir womöglich alte Bekannte aus meinen Jugendtagen über den Weg laufen, und das hätte mir jetzt gerade noch gefehlt. Die Gastwirtschaft am Dorfrand – sie verdiente diese leicht anachronistische Bezeichnung tatsächlich noch, denn sie hatte sich gegen alle Einflüsse des gastronomischen Zeitgeistes erfolgreich