Ben Worthmann

Etwas ist immer


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gestanden, der die elementarsten Grundregeln der Hygiene konsequent missachtete, mit schmutzigen Fingern in die vollen Gläser langte, mittels seiner Hustenanfälle die Schaumkronen in Schneegestöber verwandelte – und dabei als der beste Pilszapfer weit und breit galt. Ich hatte es aber selbst in meinen wildesten Pennälerzeiten, als es meine Altersgenossen und ich zuweilen in besonders abseitige Lokalitäten zog, niemals über mich gebracht, die Probe aufs Exempel zu machen. Es gab in Mellingen und Umgebung gewiss nicht viele Kneipen, in denen ich noch nie ein Bier getrunken hatte. Doch diese war eine davon. Womöglich wäre ich an diesem Tag sogar in der passenden Laune gewesen, das fragwürdige Abenteuer nach vielen Jahren doch noch nachzuholen. Der Genuss eines schmackhaften, wenn auch unter bedenklichen Umständen servierten Glases Pils musste mir allerdings versagt bleiben, und zwar aus zwingenden Gründen. Der Wirt war nämlich, wie ich wusste, unlängst seiner Leberzirrhose erlegen, gegen deren Wüten er sich fast unmenschlich lange mit aller verbliebenen Kraft seines aufgedunsenen Körpers gestemmt hatte. Wahrscheinlich hatte ihn der Alkohol über die natürliche Frist seines Daseins hinaus so weit konserviert, dass er noch Jahre seinen Dienst am Zapfhahn versehen konnte, obwohl er „im Prinzip“, wie unser Architekt Stawitzki gesagt hätte, längst unter den Toten weilte.

      Wie auch immer, der Nachfolger – offenbar sein Sohn – verkaufte mir wortlos einen Kasten Bier und eine Flasche Doppelkorn. Der junge Mann war, nach seinem Äußeren zu urteilen, auf dem besten Wege, ein kongenialer Verfechter jener Ideale zu werden, für die sein Vater sein Leben hingegeben hatte. Er schien mir ganz in jene Gefilde der alkoholbedingten Unerschütterlichkeit entrückt zu sein, in denen sich nur die wahrhaften Überzeugungstrinker aufhalten, die nicht nach der Uhr schauen, bevor sie das erste Glas des Tages leeren. Seine Handbewegungen hatten etwas Mechanisches, und seine Getränkepreise waren, wie ich befürchtet hatte, die reine Unverschämtheit. Ich versagte es mir dennoch, diesen Sachverhalt kritisch zu kommentieren, obwohl mir das nicht leichtfiel. Das heißt, eigentlich fiel es mir doch leicht, denn es drängte sich mir der Eindruck auf, dass der Spross des genialen Zapfers seine Stärken nicht auf dem Gebiet der Rezeption und Artikulation des gesprochenen Wortes hatte. Ich hätte, wenn ich etwas gesagt hätte, gegen eine Wand geredet. Also bezahlte ich schweigend.

      Bevor ich zurückfuhr, blieb ich eine Weile im Auto sitzen und legte eine alte Kassette von den Hollies ein, die immer mitfuhr, egal, welches Auto es gerade war. Ich war noch nie ein Hollies-Fan gewesen, sondern stand seit jeher auf Rolling Stones, Dvorak, Beethoven, Pink Floyd und, na ja, Beatles – aber nur die sehr frühen und die ganz späten Stücke. Als ich das erste Mal „Love me do“ hörte, ging ich förmlich in die Knie. Und das Weiße Album hütete ich wie einen Schatz. Aber richtig ins Schwingen und Schweben kam meine Seele eigentlich erst bei den Neunten von Beethoven und Dvorak. Und über den Stones kam für mich nur noch der Himmel. Ich fragte mich manchmal, wie die Menschen es ausgehalten hatten, bevor es solche Musik gab. Die Hollies hatten, streng genommen, nichts als schieren Schlagerkitsch gespielt, aber es waren zwei, drei Songs darunter, die derart unschuldsvoll-reine Schnulzen waren, dass man vergehen konnte. Ich habe nun mal eine sentimentale Ader. Oder, wie mein Chefredakteur einmal sagte: „Man muss gelegentlich auch den Mut zum Kitsch haben.“ Also hörte ich mir die Hollies an.

      Ich blickte die Straße hinunter, die in der Ferne eine scharfe Rechtskurve machte und direkt an unserem Haus vorbeiführte, an jenem Haus, das mein Großvater gebaut hatte, als er selbst Familienvater wurde. Hier hatte ich nach dem Tod meines Vaters – er starb, als ich sechs war – gelebt, bis ich keine Lust mehr hatte, ein hauptberuflicher Sohn und Enkel zu sein, sondern weg wollte, und das möglichst schnell.

      Es war ein kleines, anderthalbstöckiges Haus, das deutlich, in nahezu überheblicher Manier, von den beiden Häusern rechts und links überragt wurde und kaum zu sehen war zwischen den vielen Obstbäumen rings umher. Es bot einen beschaulichen Anblick. Wenn man Häuser aus einem gewissen Abstand betrachtet, mag man kaum glauben, was in ihrem Innern alles vor sich geht. Da wird gestritten und geschlafen, gevögelt und gestorben und gesoffen und geredet und gelacht und geheult und neu tapeziert, und hin und wieder schmeißt jemand einen Gegenstand durch ein geschlossenes Fenster. So geschehen bei Veigels, unseren Nachbarn, bei denen am Heiligabend einmal eine brennende Spielzeugdampfmaschine aus dem Fenster geflogen kam. Untermalt wurde diese kometenhafte, um nicht zu sagen bethlehemeske Szene – leuchtender Himmelskörper, schlichtes Wohngebäude – vom Gebrüll des Vaters, nachdem kurz zuvor noch alle zusammen „Stille Nacht“ geblökt hatten.

      Doch das meiste von dem, was innerhalb eines Hauses stattfindet, bleibt sein Geheimnis. Und das ist auch ganz in Ordnung so. Ich stellte mir nun vor, wie die Bewohner der beiden Nachbarhäuser, Pothmüllers und Dresslers, Backmanns und Veigels, dort unten in dem kleinen Haus bei meiner Mutter im Wohnzimmer hockten und die Gläser auf meinen Großvater hoben, der nebenan im Schlafzimmer seinen ewigen Schlaf hielt, bevor ihn die Leute vom Bestattungsunternehmen bald abholen würden. Bestimmt warteten sie schon auf Nachschub. „He's my brother“, behaupteten die Hollies, und ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn die Räder meines Autos plötzlich Wurzeln geschlagen hätten. Ich überlegte ernsthaft, ob ich einen Schluck von dem Doppelkorn nehmen sollte, ließ es dann aber bleiben. Schließlich musste ich noch fahren. Es hatte Zeiten gegeben, da ich grundsätzlich zu jedem Unsinn aufgelegt war und mir manchmal schon morgens Cognac hinter die Binde gekippt hatte. Aber das war lange, bevor ich Anna kennenlernte und vernünftig wurde.

      Ich steckte mir lieber eine Camel an und bildete mir ein, dass das Auto schon nicht mehr ganz so fabrikfrisch roch. Mein Blick glitt die Straße hinunter, mit der sich spektakuläre Erinnerungen verbanden – größtenteils in Form mündlicher Überlieferung an meine Generation, teils aber auch noch als Reminiszenzen an Erlebnisse aus sehr frühen Kindertagen. Jahrelang war die Straße durchschnittlich einmal pro Woche Schauplatz eines mehr oder minder schweren Verkehrsunfalls gewesen. Autos flogen aus der Kurve und landeten im Graben oder krachten gegen Bäume. Insassen wurden herausgeschleudert und verfingen sich blutend in Weidezäunen, Wagen überschlugen sich und rutschten scheppernd auf dem Dach vorüber. Es gab Zusammenstöße, nach denen die Feuerwehr eingeklemmte Menschen aus den Wracks befreien musste, und oft genug glich die Straße einem regelrechten Schlachtfeld.

      Der Anblick von Blutlachen, gespickt mit Glassplittern und garniert mit zerbeulten Autoteilen, wurde für die Anwohner zu einem vertrauten Bild. Sieht man einmal von den ausgewiesenen Kriegsgebieten dieser Erde ab, so weiß ich nicht, ob es noch sehr viele andere Orte gibt, an denen Heranwachsende derart massiert mit Verletzung, Zerstörung und Tod konfrontiert wurden, wie das bei mir und unseren Nachbarskindern der Fall war.

      Ob die unschuldigen Seelen daran Schaden genommen haben, entzieht sich meiner Kenntnis. Auf jeden Fall konnten wir Kinder dem Ganzen auch unterhaltsame Seiten abgewinnen. Einmal verunglückte ein Lieferwagen mit einer Ladung Süßigkeiten, und wir zogen wie die Plünderer mit Eimern und Taschen los, um die verlorene Fracht einzusammeln. Veigels Kinder, die trotz – oder vielleicht auch wegen – der besonders kirchenstrengen Erziehungsmethoden ihrer Eltern mitunter eine mir durchaus sympathische Vorliebe für frivole Extravaganzen an den Tag legten, etwa, indem sie lebende Regenwürmer verzehrten oder die Katze der Nachbarn quälten, postierten sich an bestimmten Wochentagen zu bestimmten Uhrzeiten, wenn die Unfallwahrscheinlichkeit nach unseren Erfahrungswerten besonders hoch war, in der Kurve – natürlich in sicherem Abstand – und warteten darauf, dass ein Autofahrer vom rechten Wege abkommen möge, um einen Unfall sozusagen live beobachten zu können. Als ihr Vater das herauskriegte, tobte er vor Zorn und sperrte seine Brut für einen halben Tag in den Keller.

      Ich starrte in Gedanken versunken weiter auf die Straße und wartete darauf, dass mein Auto festwachsen würde. Aber den Gefallen tat es mir leider nicht. Die Hollies waren längst verstummt und ich überlegte, ob ich noch Dvorak nachschieben sollte. Aber es half ja alles nichts. Ich musste da wohl durch.

      Ich drückte die Zigarette aus und fuhr los. In der Kurve trat ich intuitiv auf die Bremse, obschon dieser Risikoabschnitt längst durch Straßenbaumaßnahmen entschärft worden und die Unfallhäufigkeit rapide zurückgegangen war.

      Ich parkte den Wagen in der Hofeinfahrt, schleppte die Getränke ins Haus und bahnte mir im Wohnzimmer einen Weg durch all den Qualm von Zigarren und Zigaretten. Ich habe nichts gegen Tabaksqualm, aber nur solange es sich um meinen eigenen handelt. Die alten Knaben hier schienen schon ziemlich