Ben Worthmann

Etwas ist immer


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und bei der Arbeit?“

      Bevor ich antworten konnte, meldete sich Dressler mit seiner Bassstimme. „Dein Opa, das war ein braver Mann, hat viel schuften müssen.“

      Dressler hatte, so weit ich mich erinnern konnte, immer schon die Stimme und die Statur eines alternden Berggorillas gehabt. Er sah aus, als könne er kräftig zupacken – ein Täuschungsmanöver der Natur. Früher war er manchmal herübergekommen, wenn bei uns ein Schrank von der Wand gerückt oder der Herd verschoben werden musste. „Kein Problem, das haben wir gleich“, sagte Dressler dann, rollte die Ärmel hoch, ging in die Hocke – und richtete sich sogleich mit verzerrtem Gesicht wieder auf. „Au, verdammt, der Rücken.“ Er war ein typischer Maulheld, wie so manche der Erwachsenen, mit denen ich es in meiner Kinderzeit zu tun hatte. Mir war das damals nur nie so richtig klar gewesen. Ich hielt es für normal, dass die Großen groß mit Worten taten. Auch mein Großvater konnte mächtig vom Leder ziehen. Meistens, wenn ein paar Leute zusammensaßen und ihre Reden führten, ging meine Großmutter in den Garten. Sie konnte es einfach nicht mit anhören.

      „Trink einen Schnaps mit uns“, dröhnte Dressler und prostete mir mit seinem Glas zu. Ich wies darauf hin, dass ich noch fahren müsse. Selbst wenn ich einen Chauffeur dabei gehabt hätte oder einen Taxigutschein für zwanzigtausend Kilometer, hätte ich hier keinen Tropfen angerührt. Es ging mir einfach gegen den Strich. August Pothmeier war bereits erheblich angeschlagen und stierte mich aus schweinskleinen roten Augen an. Backmann, sein Schwiegersohn, der jetzt noch oben bei ihm unterm Dach wohnte und nur darauf wartete, das Haus zu erben, krähte etwas von Schicksal und arbeitender Bevölkerung und ungerechten Verhältnissen und schimpfte auf die Regierung. Backmann war, wie allgemein bekannt, ein überzeugter „Roter“, aber das reichte bei weitem nicht aus, ihn mir erträglich erscheinen zu lassen.

      „Pothmeiers und Backmanns sind Angeber“, pflegte mein Großvater zu sagen. Er konnte sie nicht leiden, was ich irgendwie verstehen konnte. Ich bin aber nie dahinter gekommen, ob seine Aversion, zumindest zeitweilig, auch etwas mit politischen Anschauungen zu tun hatte. Doch obschon mein Großvater die meiste Zeit seines Lebens ein „Schwarzer“ war, glaube ich es eigentlich nicht. Er behauptete zwar früher, Pothmeier sehe im Profil aus wie Nikita Chruschtschow, der damalige kommunistische Parteichef im Kreml, „genau so verschlagen“, aber das meinte er wohl weniger ideologisch als physiognomisch. Ursprünglich war mein Großvater ein Zentrumsmann, dann, nach dem Krieg, wählte er natürlich Adenauer. Doch als Brandt kam, setzte bei ihm von einem auf den anderen Tag so etwas wie ein später Prozess der politischen Bewusstseinsveränderung ein. Die Ostpolitik fand er gut, Strauß und Barzel hingegen fand er furchtbar. Auf seine alten Tage konvertierte mein Großvater auf wundersame Weise noch zu den Sozis und, praktisch ganz nebenbei, auch zu den Agnostikern, was dazu führte, dass wir uns ein bisschen näher kamen. Je älter er wurde, umso verständiger schien er zu werden, und bisweilen gelang es uns, einigermaßen vernünftig miteinander zu reden. Sogar seine sonntäglichen Kirchenbesuche wurden spärlicher, und eines Tages stellte er sie ganz ein. Vom Papst wollte er überhaupt nichts mehr wissen – anders als seine fromme Schwester Martha, die schon bei Rundfunkübertragungen vom Petersplatz auf dem abgetretenen Linoleumfußboden ihrer Wohnküche in die Knie sank. So war er, als Anna ihn kennenlernte, und wenn ich ihr mitunter erzählte, wie er in früheren Zeiten gewesen war, sah sie mich jedes Mal zweifelnd an.

      Was meinen Großvater in früheren Jahren von Leuten wie Pothmeier und Backmann unterschied, war weniger die politische Weltanschauung als der soziale Status. Die waren Arbeiter – er aber war Graveur und Goldschmied, ein veritabler Handwerksmeister also. Er war so etwas wie ein Abteilungsleiter in einem Mellinger Betrieb, der sich auf die Herstellung von Devotionalien verlegt hatte. Andere Fabriken in Mellingen mochten Kochtöpfe, Schirmständer, Auspuffrohre oder gusseiserne Füße für Nachttischlampen herstellen. Der Betrieb, in dem mein Großvater beschäftigt war, produzierte Medaillons mit Reliefs von Heiligen, Christophorus-Plaketten, die man in katholischen Gegenden wie dieser zum Schutz gegen Autounfälle am Armaturenbrett anbrachte – offensichtlich ohne flächendeckenden Erfolg, wie die Ereignisse auf der Straße vor unserem Haus bewiesen –, Rosenkränze und Muttergottesfiguren und natürlich Kruzifixe in allen möglichen Größen und Varianten, „Herrgöttkes“ genannt.

      Mein Großvater entwarf all solche Gegenstände des religiösen Alltagsbedarfs und stichelte die entsprechenden Guss- und Prägeformen zurecht. Er war ein großer, knochiger Typ, und seine sehnigen Hände kamen mir immer so vor, als seien sie genau für diese Art von Tätigkeit geschaffen.

      Ich habe mir zwar hinsichtlich der Verbreitung der Idee von der Aufklärung in Mellingen und Umgebung nie irgendwelche Illusionen gemacht, aber bisweilen fragte ich mich doch, wer die Käufer und Benutzer dieser ganz und gar unvernünftigen Konsumartikel waren. Irgendwo müssen die zigtausend Madonnen und Heiligen und Herrgöttkes schließlich abgesetzt worden sein, denn der Betrieb, in dem mein Großvater arbeitete, florierte. Wo befanden sich bloß die Verbraucher ganzer Waggonladungen von Rosenkränzen und frommen Plaketten? Wer gab für all diesen schamanischen Ramsch sein sauer verdientes Geld aus? Selbst wenn man großzügig annahm, dass jeder Mensch in Mellingen und Umgebung im Besitz je eines kompletten Satzes Devotionalien war, so blieb es mir doch ein Rätsel, wie neuer Bedarf geweckt wurde, denn das Zeug war schließlich keinem erkennbaren Verschleiß ausgesetzt und wurde in der Regel weitervererbt. Aber womöglich gab es ja Frauen, die zu ihren Männern sagten: „Du, Schatz, übrigens brauche ich mal wieder einen neuen Rosenkranz, der alte taugt nicht mehr viel.“

      Mein Großvater übte also, kritisch betrachtet, einen etwas dubiosen Beruf aus, und die Marktgesetze des katholischen Fetischismus haben sich mir nie zur Gänze erschlossen. Ich muss allerdings auch einräumen, dass sie mich in keinem Moment meines Lebens ernstlich interessiert haben. Ich fand aber, dass der Beruf eines Herrgöttkesmachers ganz gut zu meinem Großvater passte, so sittenstreng und gottesfürchtig, wie er damals, zu seinen aktiven Zeiten, war. Seine Frau, meine Großmutter, sah das ähnlich, und wenn in ihrem Urteil über den Vater ihrer Kinder so ein gewisser leiser, nicht übermäßig freundlicher Unterton mitschwang, so schloss das gleich die gesamte Sippe ihres Mannes mit ein.

      „Beten und Herrgöttkes machen, das kann er“, sagte sie. „Aber sonst? Na ja, die sind alle so, die haben sich schon immer für was Besseres gehalten.“ Allzu fromme Menschen waren ihr suspekt. Und besonders suspekt waren ihr „die“, womit sie die Familie meines Großvaters meinte, in die sie zu ihrem Unglück eingeheiratet hatte.

      Kapitel 6

      „Willst du den Opa noch mal sehen?“, fragte mich meine Mutter. „Sie kommen nämlich gleich, um ihn abzuholen.“

      Ich sagte: „Es wäre gut, wenn diese Leute hier allmählich verschwinden würden. Sie sind drauf und dran, sich ziemlich vollzuschütten.“

      „Ach, lass mal“, meinte sie.

      Die Nachbarsfrauen hatten sich inzwischen aus der Küche, wo sie mit meiner Mutter gesessen hatten, zu ihren trinkenden Männern begeben, und wir waren für einen Moment allein.

      „Wir waren gestern übrigens beim Architekten“, sagte ich.

      „Ihr wollt also wirklich? Das ist ja schön. Hoffentlich klappt alles nach Plan und ihr übernehmt euch nicht.“

      „Wegen der Finanzierung muss ich noch mal mit der Bank und mit dem Menschen von der Bausparkasse reden, aber ich denke, es wird kein großes Problem sein.“

      (Es würde noch viel weniger ein Problem sein, wenn das hier ein ordentlicher Todesfall mit einer richtigen Erbschaft wäre, dachte ich für mich. Aber so, wie die Dinge liegen, fällt da nicht ein Euro für uns ab. Das Haus bekommt meine Mutter, und wenn noch ein bisschen Geld übrig ist, teilt sie sich das mit ihren Brüdern, diesen Großmeistern der beruflichen Erfolglosigkeit.)

      Ich verscheuchte diese unangemessenen Gedanken aus der Mördergrube meines Herzens und öffnete die Tür zu dem Schlafzimmer, das früher für meine Mutter und ihre Brüder das Elternschlafzimmer gewesen war, obwohl dort die meiste Zeit nur mein Großvater geschlafen hatte. Meine Großmutter war dort schon lange ausgezogen und hatte ihre Schlafstatt ins Wohnzimmer verlegt, wo jetzt die Nachbarn tranken.